Die Krise der Rechtswissenschaften vor dem Hintergrund von COVID-19, KI und Klimawandel

Von Christoph Winter (Mexiko-Stadt / Cambridge, MA)


Armin Steinbach fragte jüngst, wo der konstruktive und lösungsorientierte Beitrag des Rechts zur Krisenbewältigung bleibe? Den Grund für das Ausbleiben dessen und den derzeitigen Fokus auf den mahnenden Zeigefinger schiebt er gleich hinterher: Demut! Der ausbleibende Beitrag ließe sich demnach auf den „bescheidenen professionalen Habitus der Juristen“ zurückführen.

Ich habe diesbezüglich meine Zweifel. Vielmehr glaube ich, dass Juristinnen, jedenfalls wenn sie sich weiterhin auf den traditionellen rechtswissenschaftlichen Methodenkompass verlassen und dabei insbesondere jede bewusste Aufrechnung unterschiedlicher Interessen unterlassen, schlichtweg wenig beizutragen haben. Dies liegt zum einen an einer in Deutschland bekanntermaßen eindimensionalen Ausbildung. Zum anderen an den mitunter wenig aussagekräftigen zentralen Verfassungsprinzipien, die in Hinblick auf die innerhalb der Debatte zentralen trade-offs nur wenig (Menschenwürde) oder (fast) gar keine (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) Orientierung geben. Näher werde ich in diesem Beitrag nur auf die verfassungstheoretische Komponente eingehen. Dabei wird deutlich, dass die Rechtswissenschaften nicht nur im Kontext der aktuellen Pandemie der Bedeutungslosigkeit entgegensteuern. Sofern sie ihre ausgeprägte Aufrechnungsaversion nicht ablegen sollten, stehen sie vor einer schweren Krise.

Plötzlich sichtbare Dilemmata

In einer Welt begrenzter Ressourcen sind Dilemmata an der Tagesordnung. Nachweis hierfür sind die vergangenen 200.000 Jahre Menschheitsgeschichte. Mit der Einführung gewisser Mindeststandards (sogenannte Menschenrechte) schien man zumindest in den „westlichen“ Ländern jene Diskussionen jedoch zu unterdrücken. Dass man mit den ca. 866 Mio. Euro für die Elbphilharmonie auch mehreren Tausend Menschen in geographisch etwas weiter entfernten Regionen das Leben hätte retten können, wird gar nicht erst als Dilemma oder möglicher trade-off diskutiert. Beispielsweise benötigen besonders effektive Organisation, wie die Against Malaria Foundation, welche durch das Verteilen von Bettnetzen Malariaerkrankungen vorbeugt, durchschnittlich nur ca. 3150 Euro, um ein Leben zu retten. Für die Elbphilharmonie wären das gut 270.000 Menschenleben. (Verzeihen Sie mir die Abrundung von 4.920,63 Leben. Sie werden in der herrschenden iudex-non-calculat-Kultur ohnehin keinen Unterschied machen.)

Doch die Pandemie ist anders. Sie führt zu Dilemmata innerhalb eines von Hunger und absoluter Armut verschonten Staates und erweckt damit auch das Interesse der deutschen Medien und Wissenschaft. Welcher Patient soll im Falle einer Überlastung des Gesundheitssystems behandelt werden? Muss die öffentliche Gesundheit vor der im internationalen Vergleich in Deutschland fast schon heiligen Privatsphäre den Kürzeren ziehen? Welche wirtschaftlichen Einbußen, die schlussendlich auch Leben kosten werden (nur sehr viel indirekter und vermutlich andere), können wir hinnehmen? Besteht zwischen Wirtschaft und Gesundheit überhaupt ein Spannungsverhältnis? Dilemmata werden wieder diskutiert. Endlich! Doch wie können die Rechtswissenschaften zu deren Lösung beitragen?

Aufrechnung von Leben und Würde

Der Verweis auf die Grund- und Menschenrechte ist hier wenig hilfreich, da sie selbst keine Handlungsanweisungen in Hinblick auf mögliche Aufrechnungen enthalten. Bekannte Ausnahme ist natürlich die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, welche nach kantianischer Prägung Aufrechnungen ablehnt. Ihr Anwendungsspielraum ist jedoch, wie von Hörnle zurecht Aufmerksam gemacht, in Bezug auf die kommenden Corona-Dilemmata resultierend aus einer limitierten Anzahl an Beatmungsgeräten begrenzt. Selbst wenn man also die berüchtigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Art. 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz verteidigen möchte (BVerfGE 115, 118), ist sie wohl auf den vorliegenden Kontext nicht übertragbar. Dies liegt schon daran, dass etwa die mögliche Bevorzugung einer jüngeren Patientin nicht dazu führt, dass der ältere Patient „objektiviert“ würde.

Eine Aufrechnung der Würde eines Menschen mit der Würde eines anderen würde aber ohnehin bereits am „Wesen der Würde“ scheitern. Kurzum: entweder man hat sie, oder man hat sie eben nicht. Es gibt nicht mehr oder weniger „Würde“. Sie kann nicht maximiert werden. In diesem Sinne entwickelt das Bundesverfassungsgericht beispielsweise mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 1 GG die Verpflichtung des Staates „ein Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht“ (BVerfGE 45, 187, 228).

Das Recht auf Leben zu maximieren, indem man die verbleibenden durchschnittlich 30 Jahre „Leben“ eines 50-Jährigen anstatt der 15 Jahre eines 65-Jährigen rettet, erscheint zumindest unter Bezugnahme auf die in der Gesundheitsökonomie verwandten Konzepte des QALY (Quality-Adjusted Life Year) oder DALY (Disability-Adjusted Life Year) möglich, stößt den meisten Juristinnen aber eher auf. Dass indes Entscheidungen getroffen und Kriterien hierfür entwickelt werden müssen unabhängig davon, ob diese selbst bei Utilitaristinnen ein gewisses Unwohlsein auslösen, ist ebenso unstreitig. Denn auch die Losfraktion muss jedenfalls die Entscheidung treffen, dass das Losverfahren selbst einer wie auch immer gearteten vernünftigen Abwägung unterschiedlicher Interessen, Präferenzen, Fähigkeiten und/oder Rechte vorzuziehen ist.

Aufrechnungen im Wege der Verhältnismäßigkeitsprüfung

Man könnte jedoch daran denken, den zurzeit als Standardverweis dienenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit heranzuziehen. Theoretisch könnte dieser in der Tat für die politischen Entscheidungsträger jene Entscheidungsstütze bereithalten, mit der sie Dauer und Reichweite der Ausnahmevorschriften täglich aufs Neue auf den Prüfstand stellen können. Praktisch aber stellt sich die Frage nach Mehrwert und Leistungsfähigkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Erstens werden die vermutlichen Debattenführer der Virologie, Medizin, Ökonomie, Politikwissenschaften und Philosophie dieser Einsicht kaum widersprechen. Wer würde schon „unverhältnismäßige Maßnahmen“ propagieren? Zweitens entpuppte sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung bisher nicht unbedingt als ein Ort großer intellektueller Leistungen, in dem zunächst die Beeinträchtigung unterschiedlicher Rechte mit modernsten empirischen und anderen Mitteln überprüft und detaillierte Verfahren entwickelt wurden, um die unterschiedlichen Rechtseingriffe sodann miteinander abzuwägen. Vielmehr findet sich in ihr, gerade innerhalb der praktischen Konkordanz, zumeist nicht mehr als die Wiederholung allgemeiner gesellschaftlicher Debatten wieder – eingekleidet in eine juristische Terminologie, um dem Fach vielleicht ein bisschen Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Tatsächlich glaubt man in den Rechtswissenschaften mit Verweis auf die gängige Praxis noch immer, dass man ohne weiteres, insbesondere ohne Bezug auf einen gemeinsamen Nenner – eine gemeinsame (ethische) Währung (Greene, 2014) – unterschiedliche Rechte miteinander abwägen kann. Die derzeit angewandte Methodik, den eigenen menschlichen Intuitionen zu folgen, mag in dem Sinne funktionieren, als dass sie Ergebnisse produziert und damit für Rechtsfrieden sorgt. Dass man diese Herangehensweise jedoch nicht unbedingt selbstbewusst in der Öffentlichkeit präsentiert, ist aber ebenso verständlich. Wenn man nun auch noch bedenkt, dass der Gesetzgeberin selbst bei eingriffsintensiven Strafgesetzen eine außerordentlich große Einschätzungsprärogative zusteht (vgl. nur BVerfGE 120, 224), so kann bezweifelt werden, dass die Rechtswissenschaften den geforderten „lösungsorientierten Beitrag“ im Wege der Verhältnismäßigkeitsprüfung leisten können.

Aufrechnungen im 21ten Jahrhundert

„Okay, halb so wild“, mögen sie sagen. „Können Juristen halt wenig zur Lösung der mit einer schlecht vorbereiteten Pandemie einhergehenden Probleme beitragen. Aber deshalb gleich von einer Krise zu sprechen, ist vermutlich ein bisschen much!“ Dieser Schluss würde in der Tat zu weit führen. Die These beruht jedoch nicht auf dem aktuellen Beispiel, sondern darauf, dass die großen globalen (aber auch nationalen) Probleme der kommende Jahrzehnte gerade jene Dilemmata ans Licht bringen, zur Lösung derer das Recht und die Rechtswissenschaft in ihren derzeitigen Ausgestaltungen nun einmal sehr wenig beitragen können. COVID-19 ist dabei nur der Anfang. Klimawandel und künstliche Intelligenz sind zwar in der „Ein-Thema-Medienlandschaft“ derzeit außen vor, versprechen jedoch ein baldiges Comeback. So werden selbst wenig transformative Technologien wie das autonome Fahren, bei welchem Dilemmata für jeden ersichtlicher zu Tage treten als in den täglichen und weitaus einflussreichen Entscheidungen des Gesundheitssektors (etwa welche Impfstoffe gefördert werden sollten), ausführlich diskutiert. Indem manche Kommentatoren darauf verweisen, dass jene Technologie ja gerade so konzipiert werden könne, dass die berüchtigten „5 gesunde, junge Menschen vs. 3 ältere Damen + 8 Hunde“-Szenarien vermieden werden, möchte man sich eines letzten Tricks bedienen, um unangenehme Entscheidungen zu umgehen. Das vermeintliche Argument ist deshalb nur ein Trick, weil autonome Fahrzeuge dauerhaft Entscheidungen fällen, welche den für die Rechtswissenschaften so lästigen trade-offs unterliegen. Soll das autonome Fahrzeug lernen, beim Überholvorgang 30cm näher am Radfahrer oder an der Gegenfahrbahn zu fahren? Stets werden (Lebens-)Risiken erhöht bzw. verringert, die es miteinander aufzurechnen gilt. Ironischerweise war es wohl der deutsche Strafrechtswissenschaftler Karl Engisch, der in einer Fußnote seiner Habilitation aus dem Jahr 1930 einen der nunmehr seit Jahrzehnten diskutierten trolley cases zuerst schilderte, sodann Hans Welzel 1950, und nicht, wie in der internationalen Diskussion angenommen wird, zunächst Philippa Foot (1967) und Judith Jarvis Thomson (1976).

Autonome Fahrzeuge werden sicherlich nicht zu den großen Problemen dieses Jahrhunderts zählen, selbst wenn man aufgrund der Aufmerksamkeit, die ihnen zukommt, darauf schließen könnte. Sie werden unabhängig ihrer endgültig zugrundeliegenden Werte ein paar Tausend Menschen jährlich allein in Deutschland das Leben retten. Dass sich die Rechtswissenschaften mit ihrer Bearbeitung dennoch schwertun, ist Ausdruck der juristischen Aufrechnungsaversion, die man sich in Anlehnung an Art. 1 Abs. 1 GG über Jahrzehnte erarbeitet hat. Es ist zu befürchten, dass sich diese auch bei den weitaus bedeutenderen Debatten um Klimawandel, transformative künstliche Intelligenz und weiteren Pandemien wiederfindet. Wie ist etwa der Schutz zukünftiger Generationen, verfassungsrechtlich mit der bisher weitgehend missachteten Norm des Art. 20a GG abgesichert, mit den Interessen der gegenwärtigen Generation aufzurechnen? Welche discount rate ist in den ökonomischen Modellen zulässig und wünschenswert? Wie sollten die möglicherweise enormen Gewinne, welche durch intelligente Systeme erzielt werden, verteilt werden (O’Keefe u.a., 2020)? In welchem Umfang sollen Haushaltsmittel für die Vorbeugung existentieller Risiken bereitgestellt werden? Um Antworten auf die Fragen eines der möglicherweise wichtigsten Abschnitte der Geschichte der Menschheit (Ord, 2020) zu finden, wird man um teilweise äußerst unangenehme Aufrechnungen nicht herumkommen. Die Rechtswissenschaften sollten sich dieser Tatsache nicht länger verwehren.

Die Befreiung der Aufrechnung

Möglicherweise ist das hier skizzierte Bild der Rechtswissenschaften etwas zu negativ. Gerade Rechtsphilosophinnen bedienen sich in jüngster Zeit nicht nur bei der Moralphilosophie, sondern auch -Psychologie – etwa um die für die Pandemie gleichermaßen relevante wie ominöse Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen beim Entfernen eines medizinischen Geräts bzw. dem Unterlassen der Weiterbehandlung zu analysieren. Beispielsweise verweist Hörnle insoweit auf den in Psychologie und Verhaltensökonomie anerkannten status quo bias.

Das Zurückgreifen auf Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften ist grundsätzlich vielversprechend. Das Bewusstsein über einen möglichen status quo bias im Konkreten kann zuletzt auch der Rechtswissenschaft im Allgemeinen und der Rechtsphilosophie im Besonderen helfen. Wenn sie nämlich realisiert, dass die Option „keine Aufrechnung“ im Ergebnis lediglich eine unbewusste Aufrechnung zugunsten der vom status quo bevorzugten Option ist, so kann es ihr dabei helfen, sich aus den kantianischen Fesseln der Aufrechnungsaversion zu befreien. Nur so wird das Fach bei den nächsten großen Debatten Beiträge leisten können, die über den mahnenden Zeigefinger zur Einhaltung gesetzlicher Grenzen hinausgehen.


Christoph Winter ist Assistant Professor für Rechtsphilosophie am Instituto Tecnológico Autónomo de México (ITAM) und Visiting Scholar an der psychologischen Fakultät der Harvard University.