Die Moral von Lebenserhalt, Genuss und Kontrolle
Von Dieter Schwab (Nürnberg)
Auf der Suche, das Profane der Ernährung hinter uns zu lassen, geraten wie in gefährliche Gewässer. Die Untiefen lauern zum einen darin, (1) in die Falle der Selbstoptimierung zu geraten und der sequentiellen Machtaufgabe über alle Teilbereiche unseres Lebens anheim zu fallen; (2) in eine normativen Prüderie zu verfallen, in der Sinnlichkeit negativ etikettiert wird; (3) über die existentielle Bedeutung der Ernährung den Schleier des wohlhabenden Nichtwissens zu legen; und schließlich (4) die eigenständige Bedeutung des Magen-Darm-Trakts für unser Selbst-Sein zu unterschätzen. Aber nun der Reihe nach.
Ernährung und Wahrheit
Längst übernehmen Großkonzerne die Kontrolle über die menschlichen Organfunktionen: selbstoptimierende Uhren schreiben vor, heute noch 2400 Schritte mehr zu gehen; teilen uns mit, dass wir letzte Nacht schlecht geschlafen haben; und warnen uns vor Montagen, an denen wir offensichtlich fauler sind als an anderen Tagen. Gleichzeitig wird unser Konsumverhalten im Supermarkt akribisch dokumentiert und mittels Algorithmen prognostiziert, was wir morgen oder nächste Woche benötigen. Man fragt sich, wie die Menschheit auch nur ein Jahr ohne Ernährungsplan und super food überleben konnte, geschweige denn zehntausende von Jahren.
Das Eindringen in die Privatheit umfasst nun auch den Körperorganismus über die normative Ziel-Bilder unseres Aussehens und nun auch durch normative Ernährungsdeterminierung. Die Metaebene des öffentlichen Diskurses als subtiles Instrument der Steuerung wird gar nicht mehr benötigt, dreist wird die unmittelbare Ebene des Daseins betreten und schleichend übernommen. Und damit schließt sich ein Kreis von der geistigen Ent-Privatisierung über die Steuerung der Körperfunktion zur Ganzheitlichkeit der Manipulation.
Kein Wunder, dass sich daraus die Sehnsucht zum Unmittelbaren, zum einfachen Natur(er)leben erwächst. Wie schon bei Rousseau erscheint diese Sehnsucht als impulsiver Gegenentwurf zur Realität,. wir spüren – glücklicherweise – Widerstände gegen das Eindringen in unsere Privatheit.
Von der Lustfeindlichkeit zur Lustlosigkeit
Unser Körperbild wird stark geprägt von einer medialen Welt, die uns normative Blaupausen eines Körperbildes präsentiert, welches – von Film bis Mode – die äußerliche Erscheinung der Anorexia nervosa kultiviert.
Diese wiederum ist nicht nur organmedizinisch u.a. gekennzeichnet durch einen – sekundären – Verlust von Sexualfunktionen wie Eisprung, Periodenblutung oder Libido. Die Psychosomatik vermutet außerdem, dass gerade das Bestreben nach Negation der sexuellen Funktionen der Auslöser dieser Erkrankung sein könnte.
Als ob das Anorexie-Bild allein nicht reichen würde, die Entsexualisierung und Lustlosigkeit zum Ideal zu konstruieren, sehen wir auf Modeanzeigen diese ausgestellten Körper obendrein in zu klein geratenen Kleidern, oder aber in zu großem Oversize. Als wären die, welche darin stecken, wie ein Grundschulkind viel zu schnell aus diesen herausgewachsen, bzw. noch nicht hineingewachsen, sozusagen noch auf der Warteliste der Pubertät. Es drängt sich der Eindruck auf, jeder Hinweis auf sexuelle Identität wird durch Vordatierung vermieden. Zurück zur Vor-Sexualität, so scheint das Motto zu lauten.
Auf dem Weg zur Lustlosigkeit benötigt es aber mehr als nur Bilder. Auch hier wird der Weg über das Unmittelbare unausweichlich. Wir beginnen eine Unterwerfung unter diätetische Vorschriften. Und weil dort das Köperbild als Motivation nicht ausreichte, werden weitere – nun normative – Kategorien instrumentalisiert, die Herrschaft zwar schleichend, aber dafür immer vollständiger zu übernehmen. Die natürlichen Antriebe, die unser Überleben Jahrtausende gesichert haben, werden diskreditiert. Mit welchem Ziel? Sollen wir wirklich über die Lustfeindlichkeit zur Lustlosigkeit und damit zur Impulslosigkeit geführt werden? Ist es Zufall, dass die Prüderie des Essens normativ daherkommt?
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral
Ethische Aspekte der Ernährung zielen u.a. ab auf Ressourcenschonung, Nachhaltigkeit und Klimaschutz. So wird zurecht darauf hingewiesen, dass zur Produktion tierischer Kalorien eine Vielzahl von pflanzlichen Nährstoffen benötigt. Im Umkehrschluss wird nun argumentiert, mit einer Umstellung der Ernährung auf pflanzliche Quellen wäre das Problem des Welthungers gelöst. Ein starkes Argument. Ist dies aber überhaupt richtig?
Völlig losgelöst davon, ob eine derartige Umstellung der Nahrungsmittelproduktion geo-klimatisch überhaupt möglich wäre, zeichnen die sozio-ökonomischen Ernährungs-Cluster ein anderes Bild, bei dem sozio-ökonomische Bedingungen und Ernährungsverhalten eng miteinander korrelieren:
- Armut und Hunger führen zu Unterernährung – der Zusammenhang ist selbsterklärend;
- Überschreitung der Armutsschwelle korreliert mit Konsum von zucker- und fettreichen Nahrungsmitteln und korreliert mit Übergewicht – ein Phänomen, welches in Schwellenländern ausgeprägt vorhanden ist, aber auch in entwickelten Ländern im unteren sozio-ökonomischen Schichten typisch ist. Diese Gruppe ist global betrachtet die quantitativ größte;
- differenzierte, gesunde, ausgewogene Ernährung ist typisch für die wohlhabende upper-class.
Wollte man also auf dem Boden dieser Sachlage dem Problem des Welthungers über einen Wandel des Ernährungsverhaltens begegnen, wäre die adäquate Zielgruppe nicht in erster Linie diejenige, die sich unteren sozio-ökonomischen Schichten bewegen? Verstärkt nicht der Export von Avocado bis Chia aus dem globalen Süden die dortige Ernährungsproblematik? Negiert – die Ethik der Ernährung letztlich doch die faktischen Probleme der Welt?
Zumindest setzt sie sich, aus wohlhabenden Industrienationen kommend, dem Verdacht aus, aus einer Ich-Perspektive nicht heraus zu kommen. Benötigen wir für die Ernährungsprobleme dieser Welt nicht in erster Linie andere, ökonomische Handlungen? Besteht nicht die Gefahr, mittels einer Diskussion über Ethik von den – für uns vielleicht viel schmerzhafteren – Neuausrichtungen hin zu fairen Wirtschaftsbeziehungen abzulenken?
Das Bauchgefühl
Nach dem Gehirn befinden sich die meisten Nervenzellen des Menschen im Magen-Darm-Trakt. Komplexe, bis heute kaum verstandene, neuronale Netzwerke verschalten Informationen vor Ort mit denen des zentralen Nervensystems und umgekehrt, die sog. brain-gut-axis.
- Einerseits treibt uns unser selfish brain mittels Inkretinen und neuronalen Netzwerken dazu an, immer ausreichend Nahrung zur Verfügung zu stellen.
- Anderseits kommuniziert unser Mikrobiom, also die Summe aller Mikroorganismen im Darm – zahlenmäßig den menschlichen Zellen um das zehnfache überlegen – mit dem Wirt (also uns) und beeinflusst, ob wir dick oder dünn sind, autistisch oder kommunikativ.
- Frühkindliche Traumatisierung sind empirisch assoziiert mit Alkoholismus, hohem Blutdruck, Diabetes und Übergewicht. Großflächige Studien belegen, dass frühkindliche Traumatisierung, wie sie durch Drogen- bzw. Alkoholkonsum der Eltern, Gewalt bzw. Missbrauch u.ä. realisiert werden, zu reduzierten gehirnorganischen Kapazitäten in den Regionen des Corpus amygdaloideum und darüber dem venteromedialen präfrontalen Cortex führen. Letztere verortet Resilienz, womit eine schlüssige Kausalkette zur Erklärung der empirischen Beobachtungen entsteht.
Die oben genannten Erkenntnisse der Pathophysiologie lassen erahnen, warum die Diätetik in der Medizin oft nur wenig erfolgreich ist und deshalb weitgehend verlassen werden musste.
Wie ist unter diesem Aspekt eine freie (z.B. normativ geprägte) Wahl der Ernährung zu deuten? Als Sisyphos-Aufgabe oder als Versuch des freien Willens dem Determinismus der Mikroben und des eigenen selbstsüchtigen Gehirns zu entkommen?
Das intuitive Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln, wer kennt es nicht? Wie dieses Verlangen aber zu Stande kommt, ist kaum verstanden. Der Regulation des Flüssigkeitshaushaltes beispielsweise wird realisiert über Hormone, die Nieren, im Gehirn durch Barorezptoren und Osmorezeptoren, und auch im Herz. Ein hochkomplexes Netzwerk für ein eigentlich recht simples Steuerungsproblem: wer zu wenig Flüssigkeit aufnimmt, muss mehr trinken und hat deshalb Durst.
Verglichen damit grenzt die gelingende Nahrungssubstratversorgung mit allen Mikro- und Makronährstoffen fast schon ein Wunder. Ist eine Ethik der Ernährung, die extern in bewussten Willensakten steuert, mit einem Ersatz dieses Wunder der physiologischen Regulation nicht überfordert?
Mit den oben genannten Punkten will ich einen zu den Voraussetzungen des Ernährungs-Handelns und den Folgen einer normativen Bewertung des damit verbunden Konsumverhaltens beitragen. Jenseits dieser Spekulation bekommen soul food oder „Lieblingsessen“ über das oben genannte eine naturwissenschaftliche Basis für intuitives Essen und die Synergie von Körper und Geist, und damit vielleicht einen neuen – bestenfalls positiven – Impuls für den Diskurs.
Prof Dr. med. Dieter Schwab, Chefarzt Med. Klinik 2, Krankenhaus Martha-Maria Nürnberg, Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie, Diabetologie und Palliativmedizin, dieter.schwa@martha-maria.de