Dienstpflicht von unten

von Philipp Stehr (Utrecht)


Frank-Walter Steinmeier wird nicht müde für einen sozialen Pflichtdienst zu werben. Ihm scheint es dabei vor allem um sozialen Zusammenhalt zu gehen und eventuell im Hintergrund auch um die Stärkung der um Nachwuchs ringenden Bundeswehr und des chronisch überlasteten Pflegesektors. Schon vor einiger Zeit hat Dietrich Schotte diese Argumente in einem Beitrag auf diesem Blog näher beleuchtet und dargelegt, warum eine Dienstpflicht, so gedacht, auf wackligen Füßen steht. Ich glaube jedoch, dass damit das letzte Wort in dieser Debatte noch nicht gesprochen ist. Es gibt noch ein weiteres, besseres Argument für eine Dienstpflicht, das so in der Debatte noch nicht zu hören war, nämlich dass wir eine Dienstpflicht denen schulden, die jetzt schon unsere harte und schmutzige Arbeit machen.

Die deutsche Gesellschaft, wie viele andere, wird durch eine Unterschicht aufrechterhalten, die ihre schmutzige und harte notwendige Arbeit verrichtet. Durch diejenigen, die Kranke, Kinder und Alte pflegen aber auch diejenigen die die Büros putzen, den Müll aufsammeln und diejenigen, die Schweine zerteilen oder Gemüse ernten. Diese Arbeiten sind nicht nur körperlich und psychisch belastend, sie sind in unserer Gesellschaft auch meist schlecht bezahlt und schlecht angesehen. Michael Walzer zeigt in seinem 1992 auf Deutsch erschienenem Buch Sphären der Gerechtigkeit auf, inwiefern diese Tatsache extrem ungerecht ist. Ihm zufolge gibt es eine Kategorie notwendiger Arbeit, die aber mit negativen Folgen für die Arbeitenden einhergeht. Solche Aktivitäten sind entweder physisch oder psychisch stark belastend oder sie haben irgendwie mit Schmutz und Abfall zu tun und sind daher in fast allen bekannten Gesellschaften mit Ekel und Abneigung verbunden.

Das zentrale Problem hier ist, dass Menschen in solchen Berufen gleich in mehreren gesellschaftlichen Sphären benachteiligt sind. Sie leiden nicht nur unter der Belastung, die per se mit dieser Art von Arbeit verknüpft ist, sondern ihnen fehlt es zusätzlich noch an materiellem Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung. Während es laut Walzer verfehlt wäre, zu verlangen, dass alle Menschen in allen Sphären exakt gleich ausgestattet sind, ist es nur gerecht zu fordern, dass Vor- oder Nachteile in einer Sphäre nicht zu Vor- oder Nachteilen in einer anderen Sphäre führen dürfen. Mit Reichtum darf nicht auch noch politischer Einfluss einhergehen, Armut darf nicht zu Exklusion führen.

Momentan passiert jedoch in vielen Gesellschaften genau das Gegenteil. Wer harte und schmutzige Arbeit verrichtet, wird meist schlecht bezahlt und ist auch noch gesellschaftlich schlecht angesehen. Viele schauen auf die herab, die ihre Büros und Toiletten putzen, wer in der Pflege oder als Erntehelfer arbeitet wird meist schlecht bezahlt. Diese Konstellation ist allerdings keineswegs in der Natur der Sache angelegt. Walzer zeigt vielmehr, dass diese Verschränkung lediglich soziale Konvention ist. Er zieht hierfür das Beispiel der Kibbuzbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heran. In den Kibbuzim war es vor allem körperlich anstrengende Arbeit, die mit besonderer Anerkennung einherging. Wer solche Arbeit verrichtete, hatte zwar immer noch die Bürde der physischen Belastung zu tragen, war aber immerhin nicht zusätzlich noch gesellschaftlich geächtet. Ein anderes Beispiel, das Walzer heranzieht, ist die Abfallkooperative der San Francisco Scavengers. Hier gehört das für die Müllabfuhr zuständige Unternehmen denen, die dort arbeiten und wird gemeinsam und demokratisch geleitet. So bildete sich eine Kultur der Kooperation auf Augenhöhe und der Gemeinschaft zwischen den Beschäftigten. Zwar bleibt die Arbeit mit Schmutz und Abfall unangenehm, doch die enge Verbundenheit zwischen den Arbeitenden schafft einen Gemeinsinn, der der gesellschaftlichen Abwertung entgegenwirkt. Diese Beispiele zeigen also, dass die Verschränkung von harter und schmutziger Arbeit und anderen negativen Gütern nicht in der Sache angelegt ist. Wie aber kann es heute gelingen, unsere sozialen Konventionen so zu ändern, dass nicht diejenigen, die schon in einer Dimension das Nachsehen haben, auch noch gesellschaftlich geächtet werden?

Mit Walzer glaube ich, dass hier eine Dienstpflicht einen echten Beitrag leisten kann. Um dieser Art von mehrdimensionaler Ungerechtigkeit entgegenzuwirken, könnte der Staat Menschen ab und zu dazu zwingen, für eine Weile harte und schmutzige Arbeit in Ernte, Pflege, Müllabfuhr, Gebäudereinigung oder dergleichen Bereiche zu erledigen. Wenn alle ab und an solche Jobs erledigen müssen, dann wird es schwieriger auf die herabzuschauen, die diese Arbeit erledigen, denn das sind irgendwann wir alle. Wenn jede und jeder mal die Straße reinigt, Alte und Kranke pflegt, oder in der Hitze Gemüse erntet, dann wird es schwieriger, beim nächsten Mal auf die Person herabzuschauen, die diese Dinge tut. Wie im Kibbuz bleibt immer noch die Last der physischen oder psychischen Anstrengung und Arbeit mit Abfall und Schmutz wird wohl nie beliebt oder begehrt sein. Aber diese der Tätigkeiten inhärenten Probleme gehen dann nicht zusätzlich noch mit gesellschaftlicher Ächtung einher. Außerdem könnte diese Art der gemeinsamen Verpflichtung eine Kultur der Solidarität schaffen. Der Pflichtdienst würde aufzeigen, dass hier notwendige Arbeit für alle geleistet wird, die Respekt und Unterstützung verdient hat.

Hier liegt also ein genuin progressives Argument für einen Pflichtdienst, nicht nur für Sorge- und Pflegearbeit oder im Militär, sondern für alle möglichen harten und unattraktiven Arbeiten. Solch ein Pflichtdienst trägt dazu bei, diejenigen aufzuwerten, die wir in einem Zirkel aus Abwertung und Ausgrenzung auf die untersten Stufen der Gesellschaft gestellt haben. Dies wäre jedoch ein Pflichtdienst, der anders funktionieren müsste als Steinmeiers Idee des einmaligen Pflichtjahres für junge Menschen. Mein Vorschlag wäre vielmehr eine wiederkehrende Dienstpflicht für alle. Gesundheitliche Eignung vorausgesetzt müssten alle Bürgerinnen und Bürger in regelmäßigen Abständen für einige Wochen für einen solchen Dienst herangezogen werden. Nur so ist sichergestellt, dass der normalisierende und regulierende Effekt tatsächlich erhalten bleibt. Essenziell ist hier auch, dass niemand sich mit Gütern aus anderen Sphären aus dieser Verpflichtung frei kaufen könnte. Geld oder politischer Einfluss dürfen keine Mittel sein um dem Pflichtdienst zu entgehen.

Viele praktische Fragen bleiben an dieser Stelle natürlich offen. Wie kann sichergestellt werden, dass die Verpflichteten auch die entsprechenden Fachkenntnisse für ihren Dienst haben? Wie sollten sie entlohnt werden? Wie wäre solch eine Dienstpflicht rechtlich realisierbar? Diese und viele andere Fragen kann ich in diesem Beitrag nicht beantworten. Mir geht es vielmehr darum, zu zeigen, dass eine Dienstpflicht auch schlüssig begründet werden kann, nämlich wenn man ihn nicht auf vage Konzepte wie sozialen Zusammenhalt ausrichtet, sondern nutzt, um drängende Probleme sozialer Gerechtigkeit anzugehen.

Abschließend möchte ich noch kurz erwähnen, dass hier eine generelle Frage im Hintergrund steht, die philosophisch noch nicht viel Beachtung gefunden hat. Darf der Staat seine Bürgerinnen zur Sicherstellung sozialer Gerechtigkeit zur Arbeit zwingen? Neben Michael Walzer finden sich zur Beantwortung dieser Frage nur sehr wenige Arbeiten, die dieser Frage nachgehen. Lucas Stanczyk argumentiert 2012 in Philosophy & Public Affairs beispielsweise gegen die wahrscheinlich weit verbreitete liberale Intuition, dass die Berufsfreiheit eine unverletzliche Grundfreiheit darstellt. Ihm zufolge können Liberale nicht gleichzeitig die Bereitstellung bestimmter Güter für eine Pflicht des Staates halten und der Überzeugung sein, dass der Staat niemanden zur Arbeit zwingen darf. Denn, grob zusammengefasst, setzt Sollen immer auch Können voraus und ohne Zwangskompetenz des Staates würde seine Verpflichtung zur Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen von der Bereitwilligkeit seiner Bürgerinnen abhängen, für diese zu arbeiten. Stanczyk sieht dies als Argument für Maßnahmen wie die Verpflichtung von medizinischem Personal, nach ihrer Ausbildung eine gewisse Zeit in ihrem Heimatland zu arbeiten. Insofern die von mir vorgeschlagene Dienstpflicht zur sozialen Gerechtigkeit beiträgt, wäre Stanczyks Argument auch hier anwendbar.

In Sachen Dienstpflicht und Arbeitszwang ist also in der politischen Philosophie keineswegs alles gesagt. Während Frank-Walter Steinmeiers Argumente für und seine Vorstellung von einer Dienstpflicht für junge Menschen genauerer Prüfung nicht standhalten, heißt das nicht, dass ein Pflichtdienst nicht plausibel über andere Wege zu begründen wäre. Polemisch gesprochen muss ein Pflichtdienst keine vage an den sozialen Zusammenhalt anknüpfende Maßnahme zur Stärkung von Pflege und Bundeswehr sein. In leicht veränderter Form kann er helfen, tatsächliche und drängende Probleme sozialer Gerechtigkeit zu lösen.


Philipp Stehr promoviert am Ethik Institut der Universität Utrecht in den Niederlanden. Er arbeitet im ERC-geförderten Corporatocracy Projekt zur politischen Theorie des Unternehmens. Jüngst erschien von ihm im European Journal of Political Theory ein Aufsatz zu Enteignung als Mittel zur Reform von Unternehmen. Er ist auch auf Twitter: @StehrPhilipp