16 Jan

Ein religionspädagogischer Beutelsbacher Konsens? Der Schwerter Konsent als Ergebnis einer Fachtagung

Von Jan-Hendrik Herbst (TU Dortmund)


In unterschiedlichen Fachdidaktiken gibt es eine Auseinandersetzung um den Beutelsbacher Konsens (BK), die Neutralität von schulischer Bildung und eine „Kontroverse über Kontroversitätsgebote“. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Aktualisierungen und Modifizierungen vom BK vorgenommen, u. a. im Magdeburger Manifest (Demokratiepädagogik), in der Frankfurter Erklärung (kritische politische Bildung) und im Dresdener Konsens (Philosophiedidaktik). Für Religionspädagogik und religiöse Bildung gab es ein vergleichbares Koordinatensystem bisher nicht – auch wenn der BK religionspädagogisch durchaus rezipiert wurde. Diese Rezeption erfährt dabei Impulse durch die anderen Fachdidaktiken und sie wird durch aktuelle gesellschaftliche Debatten intensiviert (z. B. durch die kontroversen Auseinandersetzung über Migrationspolitik, Coronamaßnahmen und Waffenlieferungen – allesamt Themen, die auch im Rahmen religiöser Bildung diskutiert werden). Vor diesem Hintergrund wurde im März 2022 eine religionspädagogische Tagung organisiert, die anhand konkreter und gesellschaftlicher Themen religiöser Bildung (Ökonomie, Ökologie und Antisemitismus) die Fragen rund um Kontroversität, Positionalität und Neutralität thematisierte. Eine Perspektive der Tagung war es auch, die Möglichkeit und Notwendigkeit eines religionspädagogischen BKs und seiner Ausformulierung zu diskutieren. Als Ergebnis dieser Diskussion wurde nun, am 29. September 2022, der sog. „Schwerter Konsent“ publiziert. Bewusst wurde auf den stärkeren Begriff „Konsens“ (Einigung, der alle zustimmen) verzichtet und die schwächere Bezeichnung „Konsent“ (Einigung, die niemand ablehnt) gewählt. Diese Begrifflichkeit aus der Soziokratie zeigt an, dass keine schwerwiegenden Einwände mehr vorliegen. Damit sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ähnlichen Prinzipiensets angezeigt, die den „Schwerter Konsent“ inspiriert haben.

  • Der „Beutelsbacher Konsens“ (1976) aus der Politikdidaktik ist ebenfalls das Ergebnis einer Tagungsbeobachtung. Inhaltlich wurde vor allem das Kontroversitätsprinzip aufgegriffen.
  • Die „Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“ (2015) wurde vom „Forum kritische politische Bildung“ initiiert. Wie diese Erklärung will der „Schwerter Konsent“ ein Diskussionsimpuls sein. Inhaltlich wurde die machtkritische Perspektive aufgegriffen.
  • Der „Dresdener Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht“ (2016) formuliert Grundsätze, die der Fachverband Philosophie e.V., der Fachverband Ethik e.V. und das Forum für Didaktik der Philosophie und Ethik unterstützen. Aufgegriffen wurde der Anstoß, ein solches Prinzipienset für nichtpolitische Bildung zu formulieren.
  • In der Forschung gibt es in jüngerer Zeit den Versuch, besonders in Anlehnung an die „Frankfurter Erklärung“ spezifisch religionspädagogische Prinzipien zu formulieren (Bederna 2021; Gärtner 2020). An diese Formulierungen wird ebenso angeschlossen wie an wichtige kirchliche Texte zum Religionsunterricht, besonders den Würzburger Synodenbeschluss „Der Religionsunterricht in der Schule“.

„Konsent“ zeigt also an, dass das Verfahren, welches der Prinzipienformulierung zugrunde liegt, nicht auf einer breiten Basis fußt und damit nicht zu einer direktdemokratischen Konsensherstellung geeignet ist. Diesem Sachverhalt liegen inhaltliche Überlegungen zugrunde: Der BK und der philosophiedidaktische Dresdener Konsens haben gezeigt, dass Konsensformulierungen aufgrund ihrer normativen Kraft schnell eine fachdidaktische Hegemonie gewinnen können, was notwendige Kontroversen unterbindet (z.B. Herbst 2021, 333). Unser Ausgangspunkt ist vielmehr der Sachverhalt, dass man „[e]inen guten Kriteriensatz […] daran erkennen [kann]“, wie es der Politikdidaktiker Tilmann Grammes (2016, 156) formuliert, „dass er kontrovers bleibt“. Diese Kontroversität soll bereits im Wochenschau-Sammelband „Der Beutelsbacher Konsens in der Religionspädagogik“ hergestellt werden, in dem der „Schwerter Konsent“ aus verschiedenen Fachperspektiven (Religionspädagogik, Systematische Theologie, Politikdidaktik) beleuchtet und diskutiert wird.[1]

Zu den Inhalten vom Schwerter Konsent: Der Schwerter Konsent besteht aus sechs Grundsätzen, den „3k3p-Prinzipien christlich-religiöser Bildung in der Schule“. Dieser Untertitel, der auf die Anfangsbuchstaben der Grundsätze verweist (kontrovers, kritisch, konstruktiv, positionell, partizipatorisch und praktisch), zeigt zweierlei an: Erstens wird deutlich, dass es sich (noch) nicht um einen interreligiösen Konsent handelt. Diese Begrenzung der Perspektive und Geltungskraft resultiert daraus, dass die Beiträge und Debatten auf der Schwerter Tagung durch christliche – katholische wie evangelische – Perspektiven bestimmt waren. Zweitens findet eine Beschränkung auf schulische Bildungsprozesse und damit vor allem den (konfessionellen) Religionsunterricht statt. Ein besonderer Schwerpunkt erhält dabei – vor dem Hintergrund des Tagungsthemas und der politikdidaktischen Bezüge – die politische Dimension religiöser Bildung. Die sechs Prinzipien stehen insgesamt in einem diskursiven Kontext, der bereits durch die angeführten Prinzipiensets, die inspirierend wirkten, angedeutet wurde. Zum Teil wurde sich dabei an Formulierungen angelehnt, um den Bezug zur jeweiligen Debatte zu markieren.

  1. Beim Kontroversitätsprinzip wurden etwa Grenzen mit den Menschenrechten und wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet. In Bezug auf letztere wurde ein Ausdruck gewählt, der an Johannes Drerups Aussage von „fachspezifischen Rationalitäts- und Methodenstandards“ anschließt.
  2. Der Grundsatz ‚kritisch‘ nimmt nicht nur die machtkritische Perspektive der Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung auf, sondern markiert diesen Bezug auch durch die Übernahme eines Wortlauts: Es gehe darum, „‚Abhängigkeiten und sich überlagernde soziale Ungleichheiten‘ wahrzunehmen und ihnen entgegenwirken zu können“.
  3. Die christlich-konfessionelle Perspektive kommt besonders im dritten Prinzip ‚konstruktiv‘ zur Geltung, in dem auf „die hoffnungsvolle Perspektive der Reich-Gottes-Verkündigung“ rekurriert und damit eine spezifisch theologische Denkfigur aufgerufen wird.
  4. Ein weiteres theologisches Denkprinzip wird im vierten Grundsatz ‚positionell‘ aufgegriffen: Die biblische Botschaft kennt eine ‚Option für die Armen‘, was sogar die Kongregation für die Glaubenslehre anerkennt. Dementsprechend solle auch religiöse Bildung als „Anwältin Marginalisierter verstanden werden.“ Gerade wenn ein weites und differenziertes Verständnis von Überwältigung angelegt wird (dazu: Herbst 2022, 386–390), widerspricht dieser Positionalitäts-Ansatz auch nicht (zwingend) dem Indoktrinationsverbot des BKs.
  5. Das Prinzip „partizipatorisch“ greift den dritten Grundsatz des BKs auf und deutet diesen religiös bzw. weltanschaulich: Die Schüler*innen „sollen lernen, wie sie entsprechend ihrer eigenen religiösen bzw. weltanschaulichen Überzeugungen praktisch handeln können.“ Diese Orientierung an den Lernsubjekten und ihren Interessen wird dabei nicht subjektivistisch aufgefasst, sondern konfrontiert mit den universalen Glaubensansprüchen von „‚Friede‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Schöpfungsverantwortung‘“ – eine Formulierung die dem Konziliaren Prozess entlehnt ist. Damit wurde die politikdidaktische Kritik bedacht, dass Schüler*innen dem BK entsprechend lernen sollen, „ihre Interessen zu erkennen und zu vertreten, ohne dabei das Gemeinwohl aus dem Blick zu verlieren“ (Widmaier 2016, 102; Kursivierung d. Verf.). In diesem Sinn gibt es einen festzuhaltenden „Unterschied zwischen dem, wofür sich die Menschen interessieren, und dem, was in ihrem Interesse ist“ (Mills 2016, 286).
  6. Die Praxisorientierung religiöser Bildung schließt dabei an den Wortlaut einer katholischen Denkschrift zum Religionsunterricht an, dem „Vertrautmachen mit Formen gelebten Glaubens“ (DBK 2005, 18). Eine leichte Absetzung tritt einerseits dadurch auf, dass ‚Glauben‘ durch ‚Religion‘ und ‚Vertrautmachen‘ durch ‚Erschließen‘ ersetzt wurde. Andererseits wird unter ‚Formen gelebter Religiosität‘ nicht nur ‚spirituelle Praxis‘ verstanden; explizit wird auch von „(religiös motivierten) sozialpolitischen Aktionen“ gesprochen. Die anschließende Formulierung, die Gesellschaft „individuell und kollektiv handelnd zu verändern“ wurde erneut der Frankfurter Erklärung entlehnt.

Wie es mit dem Schwerter Konsent weitergeht, ist derzeit offen und wird von seiner inhaltlichen Überzeugungskraft abhängen. Die Möglichkeit, eine prägende Wirkung zu entfalten, kann – ähnlich wie beim BK – allein über die „konsensuelle, diskursive […] Art“ vom Schwerter Konsent gelingen. Sie hängt damit von der Rezeption und der weiteren Diskussion ab.


Dr. Jan-Hendrik Herbst, ausgebildeter Lehrer (Mathematik, kathol. Religionslehre), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund.


[1] Gärtner, Claudia/Herbst, Jan-Hendrik/Kläsener, Robert (Hg.) (2023): Der Beutelsbacher Konsens in der Religionspädagogik. Exemplarische Konkretionen und notwendige Transformationen. Frankfurt am Main: Wochenschau (i.E.).

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