Ethische Fragen an die technische Lösung der Klimakrise [Teil II]: Was die Atombombe uns über die sittlichen Voraussetzungen der Klimakrise lehren kann
Von Hannes Wendler (Köln und Heidelberg)
Angesichts der Klimakrise erwacht ein neues sittliches Bewusstsein in der jüngeren Generation. Ethischen Selbstverständigungsangeboten wie dem Effektiven Altruismus (z.B. 80,000 hours) liegt jedoch dieselbe Mittel-Zweck Rationalität zugrunde, aus der auch die Klimakrise entsprungen ist. Die Klimakrise enthält demnach eine ethische Tiefendimension, die weder technisch noch konsequentialistisch gelöst werden kann. Um sie sichtbar zu machen, vergleiche ich die Klimakrise mit der Atombombe, da auch diese das minimalistische Mittel-Zweck Schema sprengt. Die ethische Überforderung, mit der uns Klimawandel und Atombombe konfrontieren, kann nicht auf alten Wegen umgangen werden. Die einzige Ethik, die dem homo faber der Mittel-Zweck Rationalität übrigbleibt, ist eine Ethik des Sterben-Lernens (vgl. Scranton, 2015). Hiermit stehen wir vor der ethischen Grundsatzfrage schlechthin, nämlich der Frage nach uns selbst: die Frage nach einem neuen Menschen. Es ist nur scheinbar paradox, dass die wichtigsten Vorbilder für den sittlichen Fortschritt in der Vergangenheit zu finden sind: Mit Max Scheler (1923) suche ich nach einer klimaethischen Überwindung der Mittel-Zweck Rationalität in der kosmisch-vitalen Emotionalität des hl. Franziskus von Assisi.
Die Atombombe und die Klimakatastrophe
Es ist naiv mit althergebrachten, allzu selbstverständlichen und durch ihre Klugheit trügerisch verharmlosten Denkweisen an einen noch unbekannten Gegenstand heranzutreten. Dass dies jedoch nicht nur naiv, sondern auch gefährlich sein kann, zeigt die Besinnung auf den vielleicht ähnlichsten Vergleichsfall für die Betrachtung des Klimawandels: die Atombombe. Es ist augenfällig, dass die Rede von der Ähnlichkeit dabei mit Vorsicht zu genießen ist, da offenbar zwischen der Bombe und dem Klima gravierende Unterschiede bestehen, aber auch, weil sich beide ebenso radikal von fast allen anderen Gegenständen unterscheiden.
Nun ist es eben diese Einzigartigkeit, die den beiden gemeinsam ist und vermöge derer ihr Vergleich fruchtbar wird. Klimawandel und Atombombe gefährden das menschliche Leben auf dem gesamten Planeten, ihr destruktives Potential hat globale Reichweite. Beide weisen eine pars-pro-toto Struktur auf, in der ein kleiner Anteil von Verantwortungsträgern und Verantwortungsträgerinnen potenziell über das Schicksal der gesamten Menschheit entscheiden könnte. Beide stellen uns vor Herausforderungen der internationalen und transgenerationalen Kommunikation: wie argumentiert man diplomatisch dafür, dass beispielsweise die asiatischen Wirtschaftsmächte nun, da sie mehr und mehr Wohlstand für ihre Bevölkerung sichern können, diese begrüßenswerte Entwicklung zugunsten der Einhaltung von Klimazielen neu ausrichten? Oder: wie kennzeichnet man Atommülllagerstätten so, dass auch künftige Generationen und gegebenenfalls sogar Sprecher noch unbekannter Sprachen verstehen, womit sie es zu tun haben? Schließlich implizieren beide eine Verantwortung, die sich über die eigene Nation, die eigene Kultur, aber auch die eigene Lebensspanne hinwegsetzt, beide implizieren also die Deindividuation, d.h. stellen die Plausibilität des Individuums als Mittelpunkt einer Klimaethik.
Aus diesem Grund hat der Philosoph und Technikkritiker Günther Anders, der in den 60ern Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit geschrieben hat, von „de[m] Friedensluxus eines individuellen Todes“ (2002, S. 242) gesprochen. Nach Anders Analyse transformierte die Bombe den alten Beispielsatz der Logik, dass alle Menschen sterblich sind in den, dass die Menschheit als Ganze tötbar ist. Folglich ist im Zeitalter der Atombombe das Sterben deindividuiert. Demgegenüber steht die absolute Einzigartigkeit der Bombe, die „ein ganz abnormer Gegenstand ist; nämlich ein Gegenstand sui generis, das heißt: das einzige Exemplar ihrer Gattung“ (2002, S. 248). In dieser Hinsicht gleicht die Philosophie der Atombombe der Theologie, denn auch ihr Gegenstand ist per Definition einzigartig.
Die Absonderlichkeit der Bombe erfordert indes eine besondere Achtsamkeit dafür, wie wir über sie Nachdenken können: „Daß wir die Bombe, wenn wir sie auch nur denken, in einer falschen Kategorie denken“, hält Anders fest, rührt aus dieser Absonderlichkeit. „[D]amit wir sie nicht von vornherein durch Klassifizierung falsch klassifizieren“ (2002, S. 248), schlägt er vor, zunächst darüber nachzudenken, was die Bombe nicht ist. Wie bei allen technischen Erzeugnissen liegt es nahe, die Bombe als Mittel zu bestimmen, das für gewisse Zwecke eingesetzt werden kann. Doch da liegt schon der Fehler, so Anders, „[d]enn die Bombe ist kein Mittel“ (2002, S. 248). „Warum ist die Bombe kein Mittel?“, fragt er weiter und antwortet „[w]eil sie absolut zu groß ist“ (2002, S. 249). Anders fährt fort:
„Was heißt: sie ist ‚absolut zu groß‘?
Das ihr geringster Effekt, wenn sie eingesetzt würde, größer wäre als jeder noch so große von Menschen gesetzte (politische, militärische) Zweck; daß ‚effectus transcendit finem‘; und daß ihr Effekt nicht nur größer wäre als ihr angeblicher Zweck, sondern daß er aller Voraussicht nach jede weiter Setzung von Zwecken überhaupt in Frage stellen würde; also auch jede weitere Verwendung von Mitteln; mithin das Mittel-Zweck-Prinzip als solches auslöschen würde.
Einen derartigen Gegenstand ein ‚Mittel‘ zu nennen, wäre absurd“.
(2002, 249)
Die Atombombe widersteht der Einpassung in das Mittel-Zweck-Schema, da sie ein Moment der Unendlichkeit in die Ethik einführt. Die Abwägung von Mitteln und Zwecken, gleich wie von Verlusten und Gewinnen, hat jedoch nur dann Sinn, wenn die betrachteten Größen endlich sind. Nach den Tragödien von Hiroshima und Nagasaki wissen wir, dass die Wirkung der Bomben in einem atomaren Weltkrieg die ganze Welt betreffen und in ein einziges Niemandsland verwandeln würden.
„Wesen, die man nicht klassifizieren konnte, nannte man früher ‚monströs‘; das heißt: als ‚monstra‘ hatten Wesen gegolten, die, obwohl sie kein ‚Wesen‘ hatten, doch da-waren und, der Frage, was sie seien, ins Gesicht lachend, ihr Unwesen trieben.
Ein solches Wesen ist die Bombe. Sie ist da, obwohl wesenslos. Und ihr Unwesen hält uns in Atem.“
Anders, 2002, S. 254
Auch die Klimakatastrophe ist solch ein Unwesen.
Die Analogie zwischen ihr und der Bombe führt zwar weit, doch sie hinkt an dem Punkt, da der Klimawandel nicht als Gegenstand oder Produkt im selben Sinn angesehen werden kann wie die Atombombe. Selbstverständlich hat keine Forschungsgruppe eines Tages den Klimawandel erfunden, das wäre absurd; und auch die Tony Hayward, ehemaliger CEO von British Petroleum, ist nicht gleich ein Oppenheimer des Klimawandels. Stattdessen sind es zahlreiche und nur zu einem Teil technische Produkte und Vorgänge, die den Klimawandel mitbeeinflussen. Demzufolge ist seine Gegenständlichkeit durch eine radikale Pluralität und ein Höchstmaß an Vermitteltheit zu charakterisieren.
Die daraus resultierende Verantwortungsdiffussion ähnelt wiederum derjenigen bei der Atombombe. So spricht Anders bezüglich des technischen Apparats rund um die Atombombe davon, dass „die Kompliziertheit der modernen Organisation die Durchführung erleichtern [würde]“ (2002, S. 246). Die Moralität der Handlungen wird durch die „Glätte der Funktion“ ersetzt, die wir den „elektronischen Gewissens-Automaten“, das heißt vor allen Dingen Computernüberantworten, die „schnurrend die Verantwortung übernehmen, während der Mensch danebensteht“ (2002, S. 245). Die internationalen konzertierten Anstrengungen, die alleine nötig sind, um den Verlauf des Klimawandels zu dokumentieren, dürfen als Indiz dafür dienen, dass eine ähnliche Verantwortungsproblematik durch die Kompliziertheit und Vermitteltheit der technischen Organisation rund um den Klimawandel besteht. Man könnte wohl nicht klar die Verantwortlichen benennen, sollten beispielsweise die Klimaziele für 2030 nicht erreicht werden: Schuld ist immer die Menschheit als Ganze.
Die globale Struktur, der absolute Problemdruck und die technisch erzeugte Intransparenz des Klimaproblems haben tiefschürfende Implikationen für den Begriff der Verantwortung in der Klimaethik. Damit meine ich nicht, dass es für das Individuum angesichts des Klimaproblems schwierig ist, überhaupt auszumachen, worin bedeutungsvolles und verantwortliches Tun bestehen würde. Im Gegenteil kommt es zu einer Dostojewski’schen Transformation der Verantwortungsbegriffs.
Das bedeutet, dass die Verantwortung in der Klimaethik in dem Maß steigt, in dem wir uns ihrer annehmen. Anders gesagt: diese Verantwortung lässt sich nicht wie eine Pflicht erfüllen, man kann sich ihrer nicht einfach annehmen, sondern sich nur an ihr übernehmen. Diese neue Verantwortung überantwortet sich ungefragt dem Menschen, drängt sich ihm auf, und überfordert ihn unerlässlich, da kein einzelner und vielleicht nicht einmal die Menschheit als Ganze ihr beikommen kann. Diese Transformation des Verantwortungsbegriffs in der Klimaethik begründet zugleich die irreduzibel politische Dimension des Klimaproblems, da dieses den Menschen dazu nötigt sich für das So-und-nicht-anders-Sein der Wirklichkeit zu verantworten. Um es mit Heidegger zu sagen: Angesichts dieses Realitätsprinzips wird der Mensch zum Hirten des Seins.
Kehren wir ein letztes Mal zurück zu dem Vergleich zwischen Atombombe und Klimawandel: Die Atombombe ist als Ding sui generis unvergleichlich allen anderen Dingen, wohingegen der Klimawandel als historisches Ereignis sui generis unvergleichlich mit anderen geschichtlichen Vorgängen ist. Der größte Unterschied jedoch ist existenzieller Art und besteht darin, dass der atomare Weltkrieg noch als Damoklesschwert über uns hängt, während die Klimakatastrophe bereits in vollem Gange ist. Ein weiteres Novum des Klimawandels gegenüber der Atombombe ist, dass, wo Anders für diese noch eine Apokalypseblindheit veranschlagen musste, wir heute für jenen ein ausgeprägtes Apokalypsebewusstsein feststellen dürfen: Nichts anderes bedeutet die Rede von dem neu erwachenden sittlichen Bewusstsein unserer Zeit.
Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass das promethische Gefälle dessen ungeachtet fortbesteht. „Die Tatsache der täglich wachsenden A-synchronisiertheit des Menschen mit seiner Produktwelt, die Tatsache des von Tag zu Tag breiter werdenden Abstandes, nennen wir ‚das promethische Gefälle‘“ (Anders, 2002, S. 16). Dieses Gefälle hat dabei die Struktur „des ‚Vorsprungs‘ des einen Vermögens vor dem anderen; bzw. die des ‚Nachhumpelns‘ des einen hinter dem anderen“ (Anders, 2002, S. 16). Das promethische Gefälle besteht darin, dass unsere technischen Möglichkeiten unsere sittlichen übersteigen. Im Wesentlichen ist es dies, was Anders Rede von der „Antiquiertheit des Menschen“ zugrunde liegt, d.h. der Rückständigkeit des Menschen angesichts seiner technisch geschaffenen Welt. „Machen können wir zwar die Wasserstoffbombe; uns aber die Konsequenzen des Selbstgemachten auszumalen, reichen wir nicht hin.
Und auf gleiche Weise humpelt unser Fühlen unserem Tun nach: Zerbomben können wir zwar Hunderttausende; sie aber beweinen oder bereuen nicht“ (Anders, 2002, S. 17).
Es braucht nicht viel Phantasie, um zu sehen, dass diese an Alexander und Margarete Mitscherlichs (1977) Unfähigkeit zu Trauern angelehnte Redeweise im gleichen Maß für die Klimakrise gilt; – ein Umstand der in der Literatur durch Greg Garrards (2013) unbearable lightness of green variiert wurde. Vielleicht widerstehen die Klimakrise und ihre mögliche Abwendung der menschlichen Vorstellungskraft noch vollständiger als die Bombe, bei der man zumindest das Phantasiebild eines finalen Knopfdrucks vor Augen hat. Wie sollte ein vergleichbares Bild für das Überschreiten des point of no return aussehen (siehe Aengenheyster et al., 2018)? Das neu erwachte Sterblichkeitsbewusstsein wird durch diese unhintergehbare Unanschaulichkeit der Klimakrise übertrumpft. Schlussendlich stehen wir nicht in der Senke eines promethischen Gefälles, sondern auf der sinkenden Seite einer promethischen Schlucht.
Odysseus gescheiterte List
Die Sprache, in der die Klimakrise aufgearbeitet wird, tendiert zum Mythologischen und Theologischen. Die Rede von der promethischen Schlucht fügt sich in eine Reihe, in der unter anderem auch Joel Wainwrights und Geoff Manns (2018) Climate Leviathan oder Mike Davis (2010) Bild von Noahs Arche stehen. Natürlich hat das seine Berechtigung, denn oftmals sind hyperbolische Formulierungen vonnöten, um ansonsten bagatellisierte Gegenstände greifbar zu machen, wenn es gestattet ist einmal mehr Anders zu paraphrasieren. Trotzdem ist es wichtig, sich nicht in der hyperbolischen, mythologisierenden Redeweise zu genügen.
Aus diesem Grund sympathisiere ich damit, wenn Roy Scrantons sich in die Tradition des Sokrates stellt, indem er ein ernüchterndes Pladoyer dafür entfaltet, dass die Hauptaufgabe der Ethik in den Zeiten des Klimawandels darin besteht, zu lernen wie man stirbt. In seinem gleichnamigen Buch, Learning to Die in the Anthropocene, schreibt Scranton “Learning to die as an individual means letting go of our predispositions and fear. Learning to die as a civilization means letting go of this particular way of life and its ideas of identity, freedom, success, and progress” (2015, 68).
Hier drängt sich die Frage auf: Wer ist es, der lernen muss zu sterben?
Diese Frage hat weitreichende Implikationen für das Menschenbild einer Klimaethik. Hinsichtlich der Atombombe plädierte Anders noch dafür, dass der Mensch seinen faustischen Charakter, der stehts nach unerreichbaren Unendlichkeiten strebt, hinter sich gelassen hat und dass diese Art zu fühlen für die Generationen, die im Zeichen der Bombe geboren wurden, allmählich verblasse. In diesem Zeichen sei der Mensch kein Faust mehr, sondern werde vielmehr zum Titanen, da er durch die technische Herstellung der Bombe das Unendliche bereits zu beherrschen gelernt hat. Die Variation auf die Klimakrise lässt diesen Gedanken zweifelhaft werden, denn unsere Titanenmacht reicht offenbar nicht bis zu dem Punkt, da die Krise abgewendet werden könnte.
Fragen wir also noch einmal: Wer muss in der Klimakrise zu sterben lernen? Dann muss die Antwort lauten, dass es der homo faber ist, der technische, listenreiche Mensch. Für ihn gilt Scrantons sokratisches Diktum vom guten Tod, denn der homo faber darf ohne Reue gehen, da er sich am Gipfel seiner Macht selbst vom Antlitz dieser Erde tilgte. Das dialektische Spiegelbild des starken homo faber als Odysseus, der den chtonischen Gewalten durch je die nächste List zuvorkommt, sind schwache Figuren des homo faber wie Max und Moritz, deren Streiche auch einmal nach hinten losgehen.
Plädoyer für eine maximalistische Ethik
Am Ende der ethischen Betrachtung der technischen Lösbarkeit der Klimakrise steht die Frage nach dem neuen Menschen, die Frage nach einer Menschheitstherapie.
Wie müsste der Mensch sich – und nicht nur seine Umwelt – ändern, um die anstehende Bedrohung abzuwenden, und zwar auf eine Weise, sodass sie nicht wie eine Hydra in abgewandelter und womöglich noch gefährlicherer Gestalt wiederkehrt. Es ist klar, dass der konzeptuelle Minimalismus unserer zeitgenössischen Selbstverständigungsversuche nicht das nötige Rüstzeug bietet, um sich dieser Aufgabe zu stellen. Anstelle dieses Minimalismus müssen wir in unserer Selbstverständigung maximalistisch werden.
Hier einen Diskurs zu etablieren, der nicht auf das Niveau post-humanistischer, einmal mehr technomorpher Spekulationen regrediert, muss als zentrales Desiderat der Klimaethik gelten. An die Seite der Versuche die schwarzen Schafe von der Realität der Krise zu überzeugen, sollte ein mindestens gleich elaborierter Austausch treten, in dem unsere sittliche Entwicklung vorangetrieben wird. Es ist, wie der französische Philosoph Michel Foucault gezeigt hat, so, dass die Abwesenheit des Diskurses in derartigen Fällen bedenklicher stimmen muss als seine Schieflage.
Bezeichnenderweise liegen die vielversprechendsten Anknüpfungspunkte für die Etablierung solch eines Forums für den sittlichen Fortschritt in der Vergangenheit. So ließe sich der Übelstand des Mittel-Zweck Minimalismus, gleich wie der Glaube daran, der Klimakrise durch technische Mittel und konsequentialistische Ethiken alleine Herr werden zu können, mit Max Scheler als eine einseitige Fokussierung auf das Leistungs- und Herrschaftswissen beschreiben, d.h. die niedrigsten Formen des Wissens (siehe Kutlu, 2019). Sittlicher Fortschritt in der Klimaethik bestünde folglich darin, diesen einseitigen Fokus zu überwinden und zu anspruchsvolleren, höheren Formen des Wissens vorzustoßen (bei Scheler: Bildungs- sowie Heils- und Erlösungswissen). Die Bedingungen hierfür sind jedoch erst dann erfüllt, wenn der Mensch es jenseits rationalistischer Kalküle zu einer neuen emotionalen Bejahung der Natur und des Weltganzen schafft. Erst unter der Voraussetzung, dass der Mensch sich als Teil einer Natur erkennt, die für sich der Liebe wert ist (und nicht nur, weil sie unsere Lebensgrundlage darstellt), sind die Weichen dafür gestellt, dass der Mensch auch sein Selbstverständnis grundsätzlich ändert.
Das wichtigste Vorbild hierfür sah Scheler im hl. Franziskus von Assisi. Indem dieser „größt[e] Seelen- und Geistesbildner der europäischen Menschengeschichte“ (Scheler, 1923, S. 97) nämlich Gottes- und Naturliebe zur Synthese brachte, demonstrierte Franziskus, dass die Voraussetzungen für einen neuen Begriff des Menschen im Gemüt und nicht im Verstand geschaffen werden müssen. Franziskus Lehre fußt auf einer Liebe zu Sonne und Mond, Feuer und Wasser, Tieren und Pflanzen, die ihm ganz zu Brüdern und Schwestern wurden. Wenn der Mensch lernt sich als Teil dieser lebendigen Liebesgemeinschaft zu begreifen, entlarvt er die vermeintlich alternativlose, evolutionistische Lebensauffassung als ein Kampf ums Dasein und entdeckt in ihre sittliche Oberflächlichkeit. Die Alternative lautet: Solidarität alles Lebendigen.
Das, worum die technische Lösung ergänzt werden muss, um der ganzen Klimakrise beizukommen, ist die Gemüts- und Herzensbildung.
Ich möchte nicht sagen, dass die ethische Antwort auf die Klimakrise bei Max Scheler zu finden wäre. Jedoch bietet Scheler Anregung und Inspiration. Die Aufgabe, eine wirkliche Antwort zu entwickeln, ist eine Aufgabe für die Lebenden – für uns.
Worum es mir geht, ist darauf hinzuweisen, dass sein Denken und das der Phänomenologie im Allgemeinen (vgl. Sepp, 2020) Anstöße für echte Alternativen zum ewig gleichen Zweck-Mittel Minimalismus enthalten. Nur wenn der Reichtum des ethischen Diskurses zur Kenntnis genommen werden, versetzen wir uns in die Lage die Konturen eines ethischen Maximalismus kenntlich zu machen und sittlichen Fortschritt zu ermöglichen. Bevor wir Fragen beantworten können, wie die danach, ob die Klimakrise technisch lösbar ist, ist es unabdingbar eine ethisch reflektierte, maximalistische Selbstverständigung vorzunehmen. Nur so können wir uns selbst instand versetzen, derartige moralische Alternativen angemessen zu beurteilen, anstatt lediglich von ihnen betroffen zu sein.
Danksagung: Ich bedanke mich herzlich bei Nikolas Bieleit-Medicus und Irene Trombini für ihre hellsichtigen Kommentare, die der Textqualität durchwegs zuträglich waren. Darüber hinaus bin ich praefaktisch dafür verbunden, dass meine Gedanken hier ihr Zuhause haben finden dürfen.
Hannes Wendler hat Philosophie und Psychologie in Innsbruck und Heidelberg mit einem Forschungsaufenthalt in Cambridge studiert. Gegenwärtig ist er Mercator-Fellow an der a.r.t.e.s. Graduate School of the Humanities der Universität zu Köln, wo er in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Heidelberg bei Thiemo Breyer und Thomas Fuchs promoviert wird. Sein Promotionsprojekt trägt den Titel: „Désordre du Coeur: Die theoretische Grundlegung einer axiologischen Psychopathologie und die klinische Bestimmung von Wertnehmungsstörungen“. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die phänomenologische Psychologie und Psychopathologie, die Empathie und das Mensch-Tier-Übergangsfeld. Seit 2021 ist er Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Philosophie und Psychologie. Im Rahmen seiner dortigen Tätigkeiten betreibt er zusammen mit Alexander Wendt das Podcastprojekt „Fipsi: der philosophisch-psychologische Podcast“.
Literatur
Aengenheyster, M., Feng, Q. Y., Van Der Ploeg, F., & Dijkstra, H. A. (2018). The point of no return for climate action: effects of climate uncertainty and risk tolerance. Earth System Dynamics, 9(3), 1085-1095.
Anders, G. (1956/2002). Die Antiquiertheit des Menschen. Beck: München.
Davis, M. (2010). Who will build the ark?. New Left Review, 61, 29-26.
Garrard, G. (2013). The unbearable lightness of green: air travel, climate change and literature. Green Letters, 17(2), 175-188.
Kutlu, E. (2019). Max Schelers Auffassung vom »Weltalter des Ausgleichs« als Beitrag zu einer ökologischen Ethik. Scheler und das asiatische Denken im Weltalter des Ausgleichs, 102-115.
Mitscherlich, A., & Mitscherlich, M. (1977/2015). Die Unfähigkeit zu Trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens. Piper: München/Berlin.
Scheler, M. (1923). Wesen und Formen der Sympathie. In M. Frings (Hrsg.). Gesammelte Werke 7. Friedrich Cohen: Bern & München.
Scranton, R. (2015). Learning to Die in the Anthropocene: Reflections on the End of a Civilization. Cidty Lights Publishers: San Francisco.
Sepp, H.R. (2020). Phänomenologie und Ökologie. Königshausen-Neumann: Würzburg.
Wainwright, J., & Mann, G. (2018). Climate Leviathan: A political theory of our planetary future. Verso: London, New York.