Laudatio auf Rüdiger Bittner

Von Véronique Zanetti (Bielefeld)


Jeder, der Rüdiger Bittner mit seinem Helm unterm Arm und seinem Rucksack über den Schultern auf dem Gang der Abteilung sieht, wird denken, dass er bestenfalls seinen 70. Geburtstag feiert. Ich werde daher die fehlenden zehn Jahre verschweigen.

Rüdiger Bittner hat Philosophie, Germanistik und Politische Wissenschaft in Tübingen, an der FU Berlin, in Heidelberg und Harvard studiert. Als Assistent von Dieter Henrich in Heidelberg promovierte er bei ihm 1970 mit einer Arbeit zu Kants Begriff der Dialektik. Sein großes Interesse für das Theater führte ihn nach Basel, wo er zwei Jahre (1979-1981) als Dramaturg tätig war. Zusammen mit seinem Freund Hajo Kurzenberger, Professor für Theaterwissenschaft und Theaterpraxis an der Universität Hildesheim, produzierte er während dieser Zeit am Berliner Schiller-Theater Euripides‘ Phönizierinnen, für die er außerdem die Übersetzung lieferte. Nach dieser akademischen Pause habilitierte er sich 1982 an der FU Berlin mit einer Arbeit über „Moralische Forderungen und eigene Gesetze“. Das Buch erschien ein Jahr später unter dem Titel „Moralisches Gebot oder Autonomie“ bei Alber. Es folgten bis 1986 eine Stelle als Lecturer in Princeton und ein Jahr Professur in Hildesheim, die er gleich wieder verließ, um von 1989 bis 1991 eine Professur in Yale zu übernehmen. 1991 kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm die Professur für praktische Philosophie an der Universität Bielefeld.

Sowohl an seinem Stil als auch in seiner Art zu philosophieren ist Rüdiger Bittner sofort erkennbar. Ohne lange Einleitungen führt er seinen Leser und seine Leserin unmittelbar vor das Problem, mit dem er sich befasst, und begleitet sie Schritt für Schritt. Die Texte sind durchkomponiert wie Bachs Fugen. Vorschläge, Einwände, Analyse folgen einander wie eng getaktete Stimme, Gegenstimme und Entwicklung. Wenig Zitate, kaum Fußnoten, keine Anglizismen. Rüdiger Bittner scheut sich nicht, grundlegende Fragen zu stellen, die Probleme direkt an der Wurzel zu packen und dies in einer transparenten Sprache, die betont Beispiele aus dem Alltag aufgreift: Warum sollen wir moralisch sein? Was sind gute Sachen, die wir tun können? „Eine gute Sache für jemanden zu tun, ist zum Beispiel, mit der Zubereitung des Abendessens zu beginnen, da die anderen bald nach Hause kommen, und eine schlechte Sache kann sein, zu singen, während das Baby schläft“ (GTD).[1] In Bürgersein lädt uns Bittner dazu ein, „einen Begriff von politischem Dasein in diesem Land zu gewinnen, unter dem man sich, wie man geht und steht, ohne Verbiegung und Idealisierung verstehen, mit dem man in diesem Sinne leben kann.“ Philosophie für Fußgänger auf höchstem Niveau.

In seiner schönen Würdigung bei der Übergabe des Gottlob-Frege-Preises lässt Ralf Stoecker Bittner selber sprechen, der in einem kurzen Text aus dem von Stoecker und Spitzley herausgegebenen Sammelband Philosophie à la Carte seine Wünsche eines Schreibers wie folgt ausdrückt: „Was ich schreiben möchte: Dinge, die nicht nur wahr sind, sondern deren Wahrheit auch etwas ausmacht. Und wie: so, daß kein Wort zuviel und keines zuwenig ist. In der deutschen Philosophie-Tradition aufgewachsen, die zum Schwall neigt, fürchte ich eher das Wort zuviel, und habe oft Kritik dafür eingesteckt, daß es dann zu wenige waren.“

Sowohl in seiner Art zu philosophieren wie in dem, was er uns auf seinem philosophischen Weg an die Hand gibt, ist Rüdiger Bittner ein philosophischer Anarchist. Durch und durch vertraut mit der philosophischen Tradition, räumt er eifrig den Kleiderschrank der philosophischen Großbegriffe auf und wirft einen nach dem anderen heraus, weil er sie allesamt für eine nutzlose Last hält: Würde, Autonomie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, demokratische Legitimität: „so viele schöne Kleider aus vielen Zeiten“, die man nicht mehr anziehen kann (BS). Die geistesgeschichtliche und gerade die philosophische Tradition ist „ein großes Hickhack, und einen Gedanken in ihr lokalisieren heißt, ihn der Kritik aussetzen, aus der er in aller Regel nicht heil herauskommt“ (ebd.). Zu oft greife die Philosophie auf sie zurück, um ein vermeintes Alleinstellungsmerkmal des Menschen oder eines Sachverhalts zu reklamieren. Dabei könne sie nicht einmal klar machen, worin dieses genau besteht. Der Mensch hat jedoch keine besondere kognitive Fähigkeit. “Rational agents are animals sniffing their way through the world.” (GTD) Es sei besser, wir gewöhnten uns an den Gedanken, dass wir nichts haben, was auf Spuren eines Höheren in uns hinweist, nicht einmal eine Würde. Wir sollten dennoch getrost sein: Diese Einschränkung sei kein Grund zum Trauern. Es sei nichts verloren. „Denn wenn wir sagen, dass jemand gegen Folter, Diskriminierung, Ausbeutung oder Ähnliches kämpft, so fehlt uns nichts, wenn wir nicht dazu noch sagen können, er kämpfe gegen Verletzungen der Menschenwürde der Betroffenen. Es fehlt uns nichts, weder beim Was noch beim Warum“ (BS).

Menschen begegnen uns nicht als Träger von Rechten oder Ansprüchen. Wir begegnen einander als Passanten, die manchmal ein Stück des Weges gemeinsam haben. Was wir den anderen tun oder an ihnen unterlassen sollen, sei ohne ein entsprechendes Recht des anderen und ohne Rekurs auf ein spezielles Menschenrecht einsichtig. Wie wir miteinander vernünftig leben sollen, lehre uns unsere Erfahrung und das, was andere uns auf den Weg mitgeben. Gut ist ein Tun, das sich in die Reihe der Dinge einreiht, die helfen oder am wenigsten behindern. „For we are familiar with things that help and with things that hinder.“ (GTD) Wir kommen von früh an in Berührung mit dem, was uns gefällt oder schmerzt. Dass unsere Erfahrungsreservoirs sich fundamental unterscheiden, dass Schurken und alle Arten von Gaunern sich in der Welt gut zurechtfinden und erfolgreich durchs Leben wandeln können, scheint Bittner kein Grund zum Pessimismus zu sein. „Es ist erleichternd, ohne Würde sich zu bewegen, alle höhere Berufung abzutun, rückhaltlos weltlich zu sein“ (AGH).

Inhaltlich zeigt sich Bittners philosophischer Anarchismus an seiner tiefgreifenden Skepsis gegenüber fundamentalistischen Konzepten wie Nation, Wertegemeinschaft, staatliche Ordnung, politische Pflichten oder Gemeinschaftssinn, die politische und moralische Legitimation beanspruchen und dabei einen ungerechtfertigten Zwang ausüben. Gesetze müssen niemanden zwingen, etwas zu tun. Sie geben nur an, was in einem bestimmten Kontext gilt, wie „die Dinge organisiert“ sind. Genauso wenig sind die Vorschriften des Strafrechts als Befehle zu verstehen. Sie legen nur fest, wie mit Situationen einer bestimmten Art an einem bestimmten Ort umgegangen wird.

Nicht nur mahnt uns Bittner, allen unbegründeten Forderungen nach einer verbindlichen sozialen und politischen Ordnung zu misstrauen. Indem er den Kleiderschrank von überflüssigen Klamotten befreit, erinnert er daran, dass der König nackt ist wie wir alle. Es sei unangebracht, uns unserer Wertegemeinschaft oder unseres freiheitlichen Systems zu brüsten. „Freiheit gibt es überall, nur wird sie in verschiedenen Kombinationen angeboten, wie Eisbecher“ (BS). Wir mögen gute Gründe haben, die „Coupe Deutschland“ vorzuziehen, weil der deutsche Staat eine Sammlung „durchschnittlicher Freiheiten“ anbietet (ebd.). Die deutsche Republik ist durch einen politischen Pluralismus geprägt, in dem es keinen gemeinsamen Boden gibt, der ein Volk zusammenhält. Die Demokratie ist sowohl ein Symptom der Diversität der Gesellschaft als auch ein Mittel, jene aufzufangen. Sie ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine politischen Koexistenzordnung einer pluralen Gesellschaft, eine Ordnung im technischen Sinne, in der Herrschende durch Wahl und durch Mehrheitsentscheide gewählt werden. Anders als das Grundgesetz behauptet, geht die Staatsgewalt nicht vom Volk aus. Auch die Rede von einer Repräsentation des Volkes durch die politischen Repräsentanten im Bundestag ist nach Bittner überzogen, denn das Volk hat seinen Vertretern im Bundestag keine Vollmacht erteilt, sie zu vertreten. Daraus folgt, dass der Bundestag sich nicht als legitime Autorität anpreisen darf. Die Abgeordneten werden bloß gewählt, nicht ermächtigt. „Demokratien wenden nur dieses oder jenes Verfahren an, um zu bestimmen, wer Staatsgewalt ausübt. Aber was die so bestimmten Menschen dann tun, das tun sie, ohne das Recht dazu zu haben, da sie es unermächtigt tun“ (BS). Auch diesbezüglich sollen wir nicht trauern, denn am Ende zählt nur, ob die Coupe Deutschland einem schmeckt. Wie wir leben wollen, was wir bevorzugen, für uns selbst und für die Menschen um uns herum, scheint aus Bittners Sicht tatsächlich nichts anderes als eine Frage des Geschmacks zu sein. „To be sure, we will have preferences as to how our life should go and the life of those we care about, but these will be a matter of taste, shaped by where we are and by what we take them and us to need, not grounded in standards of what makes a human life good” (GTD).

Ebenso wie die politischen Forderungen oft unbegründet sind, muss laut Bittner die Rede von moralischen Forderungen in Frage gestellt werden, wenn sie sich auf Normen oder Prinzipien berufen. Moralische Forderungen gibt es bloß in einem harmlosen beschreibenden Sinn, als etwas, was es gibt. Sie begründen nicht, weshalb man sich daran halten soll. Unsere Vernunft ist im Wesentlichen die Klugheit, die Fähigkeit, herauszufinden, was in einer bestimmten Situation ratsam ist.

Gründe sind in der Welt, und sie sprechen uns an oder nicht. „[A] good soup is one whose goodness is already a reason to taste it” (GTD). Bittners Realismus ist allerdings kein Platonismus der Gründe, als würden sie uns sagen, was zu tun ist. Eine Tatsache in der Welt tut keine Katze hinter dem Hof hervorbringen, wenn sie sich nicht angesprochen fühlt. Eine Theorie der Subjektivität und des Zusammenhangs zwischen der eigenen Geschichte und den Motiven, die einen dazu bringen, dies eher als etwas anderes zu tun, sucht man in Bittners Texte vergeblich. Gründe laden zu etwas ein, wie ein Mantel dazu einlädt, ihn anzuziehen, wenn es kalt ist. Wenn einem kalt ist und man draußen sein möchte, ist es „eine gute Idee“, sich warm anzuziehen. „And just as a good sweater for you need not be good for me, so what it is good for me to do need not be good for you to do” (ebd.). Deshalb kann jemandem keinen moralischen Vorwurf gemacht werden, der nicht das tut, wofür er gute Gründe hat. Als Ratgeber können wir höchstens der Person vor Augen führen, dass ihr Vorhaben dumm oder schändlich ist. „Pace“ Kant, es ist nicht zu sehen, so Bittner, warum die Handlungsweisen, die die Vernunft als gut erkennt, geboten werden, nur weil sie von der Vernunft kommen (BS). Was wir tun sollen, gehört in die Rubrik der Klugheit. In diesem Sinn gibt es nichts, was wir tun müssen.

Von Kant, über den er promoviert hat, hat Bittner weitgehend Abschied genommen. Zwar ist die Autonomie ein hohes Gut, weil sie betont, dass wir selbst bestimmen können, was wir tun wollen, und dass wir uns dabei nicht von anderen leiten lassen wollen oder müssen. Als autonome Wesen sind wir auf uns selbst gestellt, wenn wir uns Anweisungen geben. Autonomie ist allerdings nicht als Selbstgesetzgebung im kantischen Sinn zu verstehen, also nicht als Stimme einer „allgemeinen Gesetzgebung“, die durch die Selbstgesetzgebung spricht. Es sei nicht einzusehen, weshalb der Wille eines vernünftigen Wesens sich ein Gesetz auferlegt, denn solche Gesetze a priori gibt es nicht. „Niemand hat festgelegt, dass Lügen falsch ist (…)“ (BS, 38). Sollte außerdem das selbstgegebene Gesetz zugleich eine allgemeine Gesetzgebung sein, würde die individuelle Autonomie verloren gehen, weil sie sich einem äußeren Gesetz unterwirft, das von der Gemeinschaft rationaler Wesen aufgestellt wurde. (GTD) Einen Fuß in der kantischen Philosophie behält Bittner dennoch, wenn er die Instrumentalisierung von Personen kategorisch ablehnt: Humanitäre Interventionen sind immer schlecht, denn in humanitärer Absicht Krieg führen heißt, Dritte töten, damit das Töten anderer verhindert wird. Und das wiederum bedeutet, dass Dritte als Geisel für Zwecke genommen werden, die nicht ihre sind. Dass es in Einzelfällen „eine gute Sache“ sein könnte, Menschen militärisch vor der Grausamkeit eines Völkermords zu schützen, wird durch ein Instrumentalisierungsverbot ausgeschlossen. Bittners pragmatische und im gesunden Menschenverstand verankerte philosophische Haltung begründet dieses Verbot allerdings nicht.

Rüdiger Bittners Texte sind durch und durch anregend, oft provozierend, und sie lassen nie gleichgültig. Weil er sich von der Last vorgefasster und überkommener Meinungen systematisch befreit, wirft er einen schonungslosen Blick auf die Grundfragen der Philosophie. „Gegen Abwege helfen am Ende nur gute Wege, und die zu finden ist Sache eben der politischen Auseinandersetzung“ (BS). Ohne gemeinsamen Boden unter den Füßen bleibt es uns am Ende nichts anderes, als uns miteinander streitend zu verstehen. Weil Bittners außerordentlicher Engagement in der Forschung und in der Lehre mir bis zuletzt im Wintersemester 2024 ermöglicht hat, viele gemeinsame Seminare zusammenzuhalten, weiß ich von der Freude, die Kunst des Streitens Woche für Woche zu kultivieren. Selten waren wir miteinander einig. Es hat aber so viel Spaß gemacht, uneinig auf demselben Weg zu sein!


[1] Ich zitiere Rüdiger Bittners Büchner nach folgenden Siglen:

MAG: Moralisches Gebot oder Autonomie,Freiburg/München: Karl Alber 1983

AGH: Aus Gründen Handeln, Berlin, New York: de Gruyter 2001

BS: Bürger sein. Eine Prüfung politischer Begriffe, Berlin/Boston: de Gruyter, 2017

GTD: Good Things to Do. Practical Reason without Obligation,Oxford: Oxford University Press, 2023.



Véronique Zanetti ist Professorin für Politische Philosophie an der Universität Bielefeld.


Diese Laudatio ist zuerst auf der Website der Gesellschaft für Analytische Philosophie erschienen.