
Lob der Entzweiung – oder: Was an gespaltenen Gesellschaften gut ist
Von Matthias Hofmann (Leipzig)
Geraden in unseren Tagen wird sie vielfach bemängelt: Die „Spaltung der Gesellschaft“. Die widerstreitenden Tendenzen werden mit Warnhinweisen versehen und manchmal sogar in dystopische Szenarien überführt, die eine Geschichte vom „Ende der Demokratie“ erzählen. Eine andere Perspektive hält die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) bereit: Er findet in der Entzweiung einer Gesellschaft ein Indiz dafür, dass das höchste politische Gut, die menschliche Freiheit, als treibende Kraft real ist.
Dieser Gedanke ist alles andere als trivial! Denn man kann zurecht einwenden, dass eine allzu starke Konfliktsituation in einer Gesellschaft nicht weit von Verwerfungen, Diskriminierungen und Gewalt entfernt ist. In solchen Situationen, in denen politische Positionen sich so verhärten, dass sie sich selbst absolut setzen und dadurch den Diskurs beenden, wird auch jede Aussicht auf einen gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig irritiert. Doch gerade das Potenzial zum Extrem bildet für Hegel einen Hinweis darauf, dass man in einer Gesellschaft damit Ernst macht, dass jedem Individuum das Recht auf eine freie Entfaltung seiner besonderen Persönlichkeit zukommt. Die Entzweiung der widerstreitenden Tendenzen bildet eine logische Konsequenz der individuellen Freiheit. Und wo Entzweiung vorkommt, ist Freiheit real.
Hegel entfaltet diesen Gedanken in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ aus dem Jahr 1821. Man hat diesem Werk oft nachgesagt, dass es ein Werk der Restauration sei, ein Buch, das dem Preußischen Staat eine philosophische Begründung liefert. In der Tat mag man heute zurecht einige Anfragen z.B. zu Hegels Ausführungen über den Monarchen stellen (vgl. §§ 275–286). Und ebenso darf man in Rechnung stellen, dass Hegels Philosophie die politischen Verhältnisse seiner Zeit verarbeitet und an diese adressiert ist, wenn er sagt: „so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ (Vorrede: XXI f.). Doch der Gedanke eines Rechts auf persönliche Entfaltung und individuelle Freiheit wird in Hegels Rechtsphilosophie derart stark gemacht, dass man es hier kaum mit einer restaurativen Denkweise zu tun bekommt. Hegel ist daher vielmehr – mit Joachim Ritter (1903–1974) gesprochen – als ein Philosoph der Revolution anzusehen.
Der Anspruch von Hegels Rechtsphilosophie besteht in nichts Geringerem als einer philosophischen Analyse aller Verhältnisse, in denen Menschen miteinander interagieren. Dazu gehören formale Vertragsverhältnisse (§§ 34–104), die Moralität des Einzelnen (§§ 105–141), die Familie (§§ 158–181), die bürgerliche Gesellschaft inklusive ihrer Verbände und Körperschaften (§§ 182–256) sowie letztlich der Staat (§§ 257–360). Dies alles fasst er unter dem Begriff des Rechts zusammen und reflektiert all das unter dem Aspekt der verwirklichten Freiheit: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frey ist, so daß die Freyheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freyheit […] ist“ (§ 4: 14). Die Pointe ist hier hervorzuheben: Freiheit ist der Angelpunkt aller zwischenmenschlichen Verhältnisse und aus philosophischer Perspektive das Maß ihrer Wirklichkeit.
Die Freiheit als Ausgangspunkt zu nehmen, ist wiederum ein Spezifikum moderner Zeiten. Hegel verleiht diesem Gesichtspunkt einen besonderen Ausdruck dadurch, dass er in der Idee des Rechts ein besonderes Recht auslotet und profiliert: Das Recht der Besonderheit. Damit ist im Prinzip ein Recht auf freie Entfaltung einer individuellen Persönlichkeit gemeint. Und dies muss es eben als ein Recht geben, das man in zwischenmenschlichen Verhältnissen behaupten kann: „Das Recht der Besonderheit des Subjects, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjectiven Freyheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Alterthums und der modernen Zeit“ (§ 124: 120). Diese Befriedigung meint hier den Menschen als ein individuelles Naturwesen mit individuellen Bedürfnissen. Mit anderen Worten kann man sagen: Hegel zielt hier auf den Menschen als Menschen, der als Mensch allen anderen Menschen gleichgestellt ist. Er ist ein „Ich als allgemeine Person“, „worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u.s.f. ist“ (§ 209: 207).
Doch als dieser Einzelne ist er stets eingebunden in ein Kollektiv gleichartiger und gleichberechtigter Menschen. Dieses Kollektiv ist zunächst die Gesellschaft. Doch was passiert in einer Gesellschaft, in der das Recht der Besonderheit wirksam ist? Sie gerät zuweilen in extreme Divergenzen, die auf einen Ausgleich und eine Vermittlung angewiesen sind. Diese Dynamik wird von Hegel mit dem Begriff der „Entzweiung“ beschrieben. Sie tritt notwendigerweise auf, wenn in einem Gemeinwesen die individuelle Freiheit gewährt und kultiviert wird. Denn was sich hier entzweit, ist nicht einfach das eine Individuum vom anderen Individuum. Die Entzweiung findet tatsächlich auf einer höheren Ebene statt, nämlich als Entzweiung des Einzelnen vom Allgemeinen.
Die bürgerliche Gesellschaft bildet in Hegels Augen ein System subjektiver Bedürfnisse (vgl. § 189: 194). In ihr hat jeder das Recht der Besonderheit, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Sinne des Allgemeinen irritiert (vgl. § 157: 164, § 181: 186). Es treten hier die eben genannten Aspekte zutage: Das Besondere konstituiert sich gegenüber dem Allgemeinen und das Allgemeinen konstituiert sich gegenüber dem Besonderen. Beide Aspekte bilden die beiden Prinzipien einer bürgerlichen Gesellschaft: „Die Idee in dieser ihrer Entzweyung ertheilt den Momenten eigenthümliches Daseyn, der Besonderheit – das Recht sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen, und der Allgemeinheit das Recht, sich als Grund und nothwendige Form der Besonderheit, so wie als Macht über sie und ihren letzten Zweck zu erweisen“ (§ 184: 188). Was Hegel im Sinne der buchstäblich grundsätzlichen Freiheit als Recht der Besonderheit einführt, konstituiert gleichsam das Allgemeine als eine besondere Macht, einem Gemeinwesen die gültige Form zu geben.
Man muss, um Hegels Gedanken hier in seiner vollen Schärfe zu erfassen, die in Kauf genommene Konsequenz mit bedenken: Im Freiheitsgedanken a lá Recht der Besonderheit liegt die Tendenz zum Extrem. Und alles, was man „Bürgerpflicht“ gegenüber dem Allgemeinen nennen könnte, muss eine Beziehung zu den jeweiligen Eigeninteressen aufweisen können. So heißt es bei Hegel: „Die concrete Betrachtung, die Idee, zeigt das Moment der Besonderheit eben so wesentlich und damit seine Befriedigung als schlechthin nothwendig; das Individuum muß in seiner Pflichterfüllung auf irgend eine Weise zugleich sein eigenes Interesse, seine Befriedigung oder Rechnung finden, und ihm aus seinem Verhältniß im Staat ein Recht erwachsen, wodurch die allgemeine Sache seine eigene besondere Sache wird“ (§ 261: 253). Eigeninteresse und Allgemeininteresse müssen vermittelt werden und dürfen nicht – wie etwa bei Kant noch – in ein absolutes Differenzverhältnis von Pflicht und Neigung auseinanderfallen.
Was nun ein Staat ist, erhält von hier aus seine konkrete Bestimmung. Er ist diejenige Instanz, die das Allgemeine repräsentiert – das Allgemeine, dass die divergenten Besonderheiten in sich vermittelt: „Der Staat ist“, wie Hegel sagt, „die Wirklichkeit der concreten Freyheit“ (§ 260: 251). Diese konkrete Freiheit besteht genau dadurch, dass „die persönliche Einzelnheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwickelung und die Anerkennung ihres Rechtes für sich […] haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen […] übergehen“ (§ 260: 251). Kurzum: Die Aufgabe des Staates besteht nach Hegel darin, allen einzelnen Akteuren der individuellen Freiheit das Allgemeine als Garant dieser Freiheit aufzuzeigen und anzubieten.
Kehren wir von hier aus wieder zurück zur Frage, was an gespaltenen Gesellschaften gut ist, so lässt sich folgender Schluss ziehen: Gespaltene Gesellschaften zeigen, dass sie offensichtlich ein Gemeinwesen darstellen, in welchem um die Realisierung konkreter Freiheiten gerungen werden kann. Das ist ebenfalls alles andere als trivial.
Doch zugleich wird der Zustand der Spaltung als ein Mangel empfunden und als ein Risiko bewertet. Gerade eine entzweite Gesellschaft benötig eine übergeordnete Struktur, die eine Integration aller Akteure vollzieht und zugleich deren besondere Freiheiten gewährleistet. Daraus entsteht nun die Frage, wie man diese übergeordnete Struktur zur Gesellschaft, also den Staat, zu verstehen hat. Und hier wäre im Anschluss an Hegel Folgendes zu sagen:
Ausgeschlossen ist es, den Staat als eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft zu verstehen. Der Staat ist kein Unternehmen, der sich allein durch seine Produktionsleistungen stärkt und erhält, wie es manche heutige „liberal-konservative“ Tendenzen nahelegen. Die Stabilität eines Staates muss jenseits zufälliger Konjunkturschwankungen gewährleistet sein. Den Staat als Wirtschaftsgemeinschaft anzusehen, würde bei Hegel bedeuten, ihn mit der bürgerlichen Gesellschaft selbst gleichzusetzen, denn es ist ihr Kennzeichen, durch arbeitsteilige Produktionsleistungen die diversen Bedürfnisbefriedigungen zu regulieren (vgl. §§ 189–208).
Ausgeschlossen ist es ebenso, den Staat als eine bloße Solidargemeinschaft zu verstehen. In einem Staat lebt man nicht, wie in einer großen Familie, in welcher man um des Zusammenhalts Willen auf uneingeschränkte Solidarität setzt. So votieren manche heutige „links-soziale“ Tendenzen. Doch selbst für den beschränkten Kreis einer Familie ist das Ideal uneingeschränkter Solidarität kaum einlösbar – wie viel mehr gilt das dann für ganze Gesellschaften. Die Stabilität eines Staates kann nicht auf den schwankenden Moralleistungen der Bürgerinnen und Bürger aufruhen. Für Hegel ist klar, dass die Familie zwar eine vollständige sittliche Form darstellt, sich dabei aber prinzipiell von dem unterscheidet, was ein Staat ist und hierfür keine Analogiefähigkeit besitzt (vgl. §§ 156 f.).
Der Staat ist weder Unternehmen noch Familie, sondern buchstäblich eine ganz eigenartige Struktur, nämlich eine Struktur der Rechtsverhältnisse! Im Idealfall verbindet er die Lebenslagen einzelner Menschen zu einem Gemeinwesen und organisiert dies so, dass alle Individuen voneinander profitieren können oder sich wechselseitig entlasten. Der Staat ist eine stabilisierende Struktur, indem dort Wohlstand gefördert und Armut verhindert wird; eine Struktur, die Sicherheit schafft und Konflikte löst; eine Struktur, die Freiheit gewährt und Unterdrückung verhindert. Und in diesem Sinne ist der Staat, wieder mit Hegel gesprochen, „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§ 257: 241) und damit zugleich „die Wirklichkeit der concreten Freiheit“ (§ 260: 251). Er ist diejenige Struktur, die eine Freiheit ermöglicht, die im Sinne des Allgemeinen zur Geltung kommen kann.
Doch Freiheit, die Entzweiung möglich macht, ist immer etwas zwiespältiges: Sie kann allein im Sinne des Eigennutzes gebraucht werden und gräbt so immer tiefere Gräben der Spaltungen. Sie kann aber auch im Sinne der Allgemeinheit genutzt werden. Aber genau das sind diejenigen Voraussetzungen, von denen der Staat lebt und die er selbst nicht schaffen kann, wenn er auf die Verwirklichung von Freiheit aus ist (sog. Böckenförde-Diktum).
Matthias Hofmann ist Postdoc und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Ethik am Institut für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.
Alle Zitate sind entnommen aus:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Gesammelte Werke 14.1, hg. von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, Hamburg 2009.