Pflichtgemäß. Immanuel Kant und Brad Raffensperger

von Herbert Hrachovec (Wien)


Der Innenminister des US-amerikanischen Bundesstaates Georgia ist lebenslanger Republikaner. Er unterstützte Donald Trumps Wahlkampf finanziell und wählte ihn im November 2020. Zu diesem Zeitpunkt war er in seiner politischen Funktion auch für die korrekte Abwicklung dieser Wahl zuständig. Joe Biden gewann in Georgia mit circa 12.000 von 5 Millionen Stimmen Vorsprung. Trumps Rechtsanwälte fochten das Ergebnis sofort an; sie reklamierten umfassenden Wahlbetrug. Während der darauf folgenden Neuauszählung wurde der Minister zur Zielscheibe erregter Trump-Anhänger. Anonyme EMails warnten: „You better not botch this recount, Your life depends on it.“ Lindsey Graham, Senator für South Carolina, „erkundigte“ sich, ob man Wahlkarten nicht für ungültig erklären könnte. Die Überprüfung des vorläufigen Resultates in den einzelnen Wahlbezirken änderte nichts am Endergebnis. Laut Gesetz musste es vom Innenminister bestätigt werden.

Brad Raffenspergers Dilemma ist beispielhaft. Seine persönliche Präferenz, die Interventionen seiner politischen Verbündeten, und die erhobenen Zahlen kollidieren. Die Rolle des Gesetzeshüters und jene des Parteifunktionärs passen schlecht zusammen. Kants kategorischer Imperativ betrifft solche Situationen. Ihm zufolge soll Raffenspergers Entscheidung Maßstab für gesetzmäßiges Vorgehen sein können. Die Maxime ist eindeutig: unverfälschte Wahlergebnisse bilden die Grundlage jeder Demokratie. Ein zuständiger Innenminister kann Auszählungen nicht nach Belieben modifizieren. Klare Fronten, möchte man meinen. Doch diese Argumentation enthält eine Lücke. Das Konzept allgemeiner Gesetzgebung erlässt nämlich keine Gesetze. Sie werden einzeln, im Blick auf bestimmte Umstände, verfasst. Damit wird es komplizierter.

Was sind „unverfälschte Wahlergebnisse“? Das klären Regeln zur Verhinderung von Wahlbetrug, und dabei sind Auffassungsunterschiede unvermeidlich. Sie können z.B. die Authentifizierung von Unterschriften oder das Datum des Eintreffens einer Postsendung betreffen. In allen derartigen Fällen wäre – folgt man dem Gebot der Allgemeingültigkeit – vernünftig zu entscheiden. Verkürzt gesagt, durch Einigung auf der Grundlage von Augenschein und Argumenten. Mitunter sind „gütliche“ Einigungen möglich; oder es kommt zu offenen Konflikten. Die bloße Forderung nach Wahlintegrität hilft dabei nicht weiter, denn das Gesetzesprinzip, inklusive dem Appell an Vernunfteinsicht, wird von beiden Seiten in Anspruch genommen. Sie sprechen einander dann wechselseitig die Qualifikation ab, im Sinn des umstrittenen Gesetzes zu handeln.

Brad Raffensperger musste zwischen der Rechtsauslegung seiner Parteikollegen und dem Gewicht des Augenscheins entscheiden. Das Klischee „Pflicht gegen Neigung“ verfehlt den Kern der Sache. Ein Gesetz verpflichtet, wenn alle Zwischenstufen seiner Auslegung als vernünftig nachvollziehbar anerkannt sind – doch um diese Schlussfolgerungen geht es gerade. Maximen können ihre Anwendungsfälle nicht zwingend determinieren. Ein Teil der Bevölkerung („wir“) verlangt die Zertifizierung; nur dies sei rational vertretbar. Dagegen steht eine oppositionelle Deutung von „unverfälscht“. Der Kreis schließt sich auf beiden Seiten. Die Frage ist, ob Brad Raffenspergers Zertifikation mehr ist, als eine (mutige) Entscheidung zwischen zwei konkurrierenden Alternativen.

Was wird zu Recht „unverfälscht“ genannt? Raffensbergers Entscheidung beleuchtet einen zentralen Punkt. Er präferiert in der umstrittenen Situation zählbare Fakten. Dafür muss er nicht als „Held der Pflicht“ gefeiert werden. Ein solches Lob setzt nämlich voraus, dass er im Sinn der Bewunderer „tapfer“ den Tatsachen Rechnung trägt. Doch der relativistische Einwurf lässt sich nicht so leicht erledigen. „Wer sagt, was Fakten ‘wirklich’ sind?“ Die Zusammensetzung der Umwelt selbst ist zwischen den Konfliktparteien instabil. Lücken der Vernunft lassen sich nicht definitiv beseitigen. Ich schlage darum vor, in dieser causa nicht der Pflicht, sondern der Autonomie die Hauptrolle zuzuschreiben. Raffensperger übernimmt aus eigener Einsicht Erfahrungstatsachen als Bestätigung eines Gesetzes, das ihm widerstrebt. Seine Entscheidung für die Zertifikation hängt daran, wie 5 Millionen Mitbürgerinnen gewählt haben. Er unterstellt sich der empirischen vox populi.

Selbstgesetzgebung unterscheidet sich von Willkür dadurch, dass sie den Allgemeinheitsanspruch berücksichtigt, der im Begriff des Gesetzes liegt. Das gilt nicht nur für ethische Normvorgaben, sondern auch für die Kategorien, denen entsprechend sich jede Sprachgruppe die Welt zurechtlegt. Der Sinn von „unverfälscht“, einer Wertzuschreibung, ist in den Praktiken der Beteiligten verankert. Er ist, im vorliegenden Fall, undiskutierbar. Das demokratische Gemeinwesen würde sich andernfalls selbst aufgeben. Objektiver wird es nicht. Brad Raffensperger hat, selbst nach wiederholten Beschimpfungen durch Trump, die Meinung vertreten, der Präsident sei bloß falsch beraten. Er ist kein „fortschrittlicher“ Politiker. Umso empfehlenswerter sein Vorbild: Entscheidend ist die Fähigkeit, Privatvorstellungen gegenüber jenen Regeln zurückzunehmen, die das Bestehen eines Gemeinwesens verbürgen. Pflicht ist ein missverständlicher Name dafür.


Herbert Hrachovec war bis zu seinem Ruhestand außerordentlicher Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien.