Rassismus bei Kant – Philosophie als „System der Selbstprüfung“
von Peggy H. Breitenstein, Danilo Gajić, Daniel Kersting, Yann Schosser
Rassistische Äußerungen in Kants Schriften stellen die heutige akademische Philosophie vor Herausforderungen: Wie kann ein angemessener Umgang mit ihnen in Forschung und Lehre, Schule und Hochschule aussehen? Welches Licht werfen diese Passagen auf den Universalismus und Humanismus der Philosophie Kants, die besonders in rechtsphilosophischen oder ethischen Debatten eine so große Rolle spielen? Überzeugt das Argument, Kant sei in einigen seiner Überzeugungen eben auch „im Zeitgeist“ gefangen gewesen? All diese Fragen rufen die Philosophie zur Selbstprüfung auf, zu der die kürzlich abgeschlossene Veranstaltungsreihe „Kant – Ein Rassist?“ ein wichtiger Beitrag war. Mit ihr reagiert die deutsche Kantforschung auf kritische Impulse aus der Zivilgesellschaft und lässt sich auf die bisher von ihr wenig beachtete Auseinandersetzung mit dem Rassismus in Kants Schriften ein. Der vorliegende Beitrag versucht sich an einem knappen Resümee der Reihe, will aber zugleich auf die Grenzen der aktuellen wie auch auf Aufgaben künftiger philosophischer Debatten über die Frage nach dem Umgang mit Rassismus – aber auch mit Sexismus und Antisemitismus – in Werken der Philosophie hinweisen.
Immanuel Kant bezeichnete seine Gegenwart bekanntlich emphatisch als „Zeitalter der Kritik“ und verpflichtete die Philosophie darauf, Selbstkritik zu üben: Philosophieren ist Prüfung des vernünftigen Denkens durch sich selbst. Die Vernunft sollte dabei allerdings vor allem die Grenzen ihrer eigenen Ansprüche erkennen. Als ein „System der Selbstprüfung“ [1] zu wirken – so erklärte Kant – sei der eigentliche Zweck seiner kritischen Philosophie. Mit dem Verweis auf genau diese Pointe schloss am 19.02.2021 auch die sechsteilige Veranstaltungsreihe „Kant – ein Rassist?“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [2]. In deren letzter Sitzung, die der Frage gewidmet war „Wie umgehen mit Kants Schriften in Forschung und Lehre?“ waren sich nämlich alle Beteiligten einig: Der Umgang mit den Schriften Kants, gerade auch mit den rassistischen Passagen in ihnen [3], wird philosophisch erst relevant, wenn er eine Selbstreflexion seitens der Mitdenkenden einschließt [4].
Seit November 2020 hatten ausgewiesene Kant-Forscher*innen mit Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Fächern – z.B. der Geschichts-, Kultur-, Rechts- und Bildungswissenschaften – über die Geschichte der Begriffe ‚Rasse‘ und ‚Rassismus‘, über ihre Erscheinungsweisen, über Theorien der Menschenrassen im 18. Jahrhundert und eben auch über den Rassismus in Kants Schriften diskutiert und damit unvermeidlicher Weise auch über den Zusammenhang von Philosophie, Kolonialismus und Sklaverei sowie über die Dialektik der Aufklärung und das damit verbundene schwierige Erbe [5]. Hoch aktuelle Fragen also, die freilich vor allem durch äußere Ereignisse bzw. Bewegungen wie Black Lives Matter auf die Tagesordnung der deutschsprachigen Philosophie gesetzt wurden – endlich, darf man sagen. Denn während in den USA und anderen Ländern die akademische Philosophie schon seit Jahrzehnten rassistische Phänomene innerhalb von Philosophie und Wissenschaft problematisiert, scheint diese Auseinandersetzung in Deutschland jetzt erst zu beginnen [6]. Umso wichtiger ist es, die hier angestoßene Diskussion nun fortzusetzen und den kritischen Umgang mit Rassismus auch in der Philosophie auf Dauer zu stellen. An und von der Veranstaltungsreihe lässt sich lernen, was dazu nötig ist, und vor allem, welche Herausforderungen solche Diskussionen mit sich bringen – und dies nicht nur für die akademische Öffentlichkeit.
Das kritische Potenzial der Pluralität
Ganz offensichtlich war es den Veranstalter*innen der Reihe ein Anliegen, aus dem vertrauten Kreis der Kantforschung herauszutreten und den Diskurs sowohl disziplinär als auch methodisch zu öffnen. Diese Öffnung ist schon deshalb wichtig, weil viele als „klassisch“ geltende Texte der deutschsprachigen Philosophie seit der Aufklärung Rassismen beinhalten, die von der akademischen Philosophie bisher nicht erkannt, ignoriert oder allenfalls am Rande behandelt wurden. Oft lässt erst ein Blick von außen solche Leerstellen erkennen. Darauf hat auch Kant selbst verwiesen, indem er die Berücksichtigung der Perspektive möglichst vieler Anderer zur Bedingung einer „erweiterten Denkungsart“ [7] erklärte.
Allerdings zeigt die Veranstaltungsreihe auch, wie schwierig es ist, eine erweiterte Denkungsart tatsächlich zu realisieren: Trotz wichtiger Impulse etwa aus der Geschichtswissenschaft, aus der Wissenschaftsgeschichte, aus dem Bereich kritischer und postkolonialer Theorie wurden deren Perspektiven größtenteils nicht in den Diskurs der Kantforscher*innen aufgenommen [8]. Häufig „verdampfte“ das entwickelte Reflexionspotential nach den Impulsreferaten schnell wieder: Die Diskussionen verliefen danach doch wieder in den gut etablierten Bahnen philosophisch-akademischer Denkgewohnheiten. Dass hier eine Chance zu Lernen ungenutzt blieb, zeigt sich schon deutlich an der Auseinandersetzung mit der Frage nach einer angemessenen Definition des Rassismusbegriffs. Die Philosophie hat (zumindest im deutschsprachigen Raum) in Bezug auf die Bestimmung dieses für die Tagung zentralen Begriffes bisher wenig Expertise. Sie ist auf die Forschung anderer Wissenschaften angewiesen, wie das auch die Auftaktveranstaltung nahelegte, die mit einem Referat zur Geschichte des Rassismus und seines Begriffs begann. Doch auf die dort geleistete, historisch fundierte Begriffsarbeit und die Skepsis gegenüber starren Definitionen wurde in den Anschlussdiskussionen kaum zurückgegriffen; stattdessen wurden immer wieder ad hoc Differenzierungen vorgenommen, die das kritische Bewusstsein der gegenwärtigen Rassismusforschung ignorierten oder kaum mit ihr zur Deckung zu bringen sein dürften.
Die Selbstreflexion erweitern
Obschon viele der gewohnten Argumentationsmuster immer wieder explizit problematisiert wurden, schien es doch so, als ginge es vielen der Beteiligten lediglich darum, den „Klassiker Kant“ zu retten, anstatt etwas über die Sache selbst zu lernen und die Diskussion zum Anlass einer Selbstreflexion zu nehmen.
Diese Tendenz war sicherlich auch schon durch die Titelfrage der Veranstaltung vorgezeichnet („Kant – ein Rassist?“): Indem sie von vornherein Kant als Person ins Zentrum stellte, verengte sie das Problem des Rassismus auf ein moralisches und vor allem individuelles Problem und lenkte damit von seiner gesellschaftlichen und politischen Dimension ab. Die Zuhörenden zwang diese Frage gewissermaßen in die Position des Richters, der über die historische Person Kant zu urteilen habe. Doch ein solches Urteil – ob als „Schuld-“ oder als „Freispruch“ – reduziert die Komplexität des Problems auf unzulässige Weise, wenn es den Rassismus in Kants Schriften einfach dem empirischen Teil seiner Theorie zurechnet, und daran festhält, dass Kants universalistische Moraltheorie nicht weiter kritisch geprüft werden müsse. Diese Trennung suggeriert, wir könnten – nachdem wir den empirischen Kant als Rassisten entlarvt und uns von ihm moralisch distanziert haben – so weitermachen wie bisher. Gerade dies würde das selbstreflexive Unternehmen aber abbrechen, anstatt es fortzusetzen. Darüber hinaus erweckt die Forderung einer „moralischen Distanzierung“ leicht den Eindruck, wir und unsere Gesellschaft heute seien frei von Rassismus. Doch wir wissen, dass dem nicht so ist, dass es vielmehr vielfältige Kontinuitäten zwischen dem Aufkommen des modernen Rassismus im 18. Jahrhundert und unserer gesellschaftlichen Praxis hier und heute gibt. Den Organisator*innen der Veranstaltung, die die Titelfrage selbst mehrfach kritisch kommentierten, war dies wohl bewusst – und auch einige Referate machten auf diese Kontinuitäten, auf den überpersonalen sowie politischen Charakter des Problems aufmerksam. Leider verhallten diese Interventionen aber in den oft mehr als zweistündigen Diskussionen oder wurden mit dem traditionellen Bild von Kant als individueller Geistesgröße nicht recht vermittelt.
Warum ist es so schwer, dieses Bild von Kant loszulassen – selbst im Rahmen einer Veranstaltungsreihe, die sich explizit darum bemüht? Das mag unter anderem daran liegen, dass die Weise, in der wir Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte schreiben und rezipieren, immer noch durch und durch personenzentriert ist. Obwohl es im philosophischen Fachdiskurs selbst Alternativen zu diesem Blick auf die Philosophiegeschichte gibt (z.B. diskurs- oder machtanalytische Ansätze), scheint er in uns selbst tief verankert und wird bereits im Schulunterricht und seiner Orientierung an „Ahnengalerien der Klassiker“ eingeübt. Moralisch gesättigte Kritik an den liebgewonnenen großen Philosophen tut nicht nur psychologisch weh, sondern stellt uns auch vor das wissenschaftspolitische Problem, dass unser Forschungsgegenstand und unsere Arbeit selbst in Misskredit geraten könnten. Eine Abkehr von der Orientierung an einzelnen Persönlichkeiten scheint jedoch in verschiedener Hinsicht möglich und sinnvoll: Der Blick auf die Texte und Kontexte, in denen die Gedanken entstanden sind, zeigt auch in Hinsicht auf Kant, dass die von ihm ganz unkritisch geäußerten bzw. reproduzierten rassistischen Überzeugungen kein individuelles, sondern – wie auch in der heutigen Zeit noch immer – ein strukturelles Phänomen sind [9].
Der Anschluss an die gesellschaftliche Realität
Die Reflexion auf den Rassismus bei Kant stellt aus dieser Perspektive gerade nicht die Kantforschung insgesamt infrage, sondern fügt ihr eine weitere (selbst-) kritische Ebene hinzu. Und sie zeigt, dass wir unsere eigenen Praktiken nicht weniger als das Kantische Werk daraufhin befragen müssen, welche Denkblockaden und Vorurteile, welche Institutionen und Gemeinplätze den Vollzug der erweiterten Denkungsart und das Potenzial des kritischen Denkens beschränken. In ihrem Lichte könnten wir beispielsweise erkennen, dass sich auch in der heutigen akademischen Philosophie gesellschaftliche Verhältnisse und Vorurteile niederschlagen, ohne dass dies erkannt, reflektiert, geschweige denn problematisiert wird. Ein Beispiel zeigte sich in der Reihe selbst: Als etwa die Auffassung vertreten wurde, dass in der Philosophiegeschichte selbstverständlich die besten Ideen auch die siegreichen seien, also die, die sich letztlich durchsetzen. Wenn man bedenkt, dass ein Großteil derer, die einen substanziellen Beitrag zur Philosophie leisten können, bisher aus der akademischen Philosophie ausgeschlossen wurde, muss dies als aberwitziger Gedanke erscheinen. Wie in der letzten Sitzung festgestellt wurde: So kosmopolitisch, wie sie sein müsste und gerne wäre, ist die akademische Philosophie noch lange nicht. Diese selbstkritische Diagnose gilt aber auch für die ganze Reihe: Wenngleich die Veranstalter*innen um eine diverse Besetzung der Podien und Diskussionsrunden bemüht waren und etwa die Hälfte der Beiträge von Frauen* formuliert wurde, kamen doch gerade von Rassismus betroffene Menschen selten zu Wort, wurden kaum zitiert oder anders hörbar gemacht. Das ist irritierend, wenn man bedenkt, dass es die Veranstaltungsreihe selbst ohne die gesellschaftliche Intervention dieser Gruppen wohl nicht gegeben hätte.
Für eine Fortführung der (Selbst-) Kritik
Die Reihe „Kant – ein Rassist?“ zeigt, dass die Kantforschung über den eigenen Tellerrand hinausblickt und gesellschaftliche Impulse aufnimmt. Sie hält wichtige Überlegungen zu einer differenzierten und (selbst-) kritischen Auseinandersetzung mit problematischen Aspekten der klassischen deutschen Philosophie bereit. Das digitale Veranstaltungsformat stellt dabei nicht nur einen Ersatz für gewohnte Fachtagungen dar. Vielmehr hat es das Potenzial, die Beschäftigung mit der Thematik auf Dauer zu stellen, einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und unter Einbezug interdisziplinärer und aktivistischer Perspektiven interaktiver und inklusiver zu gestalten, kurzum: die von Kant eingeforderte „erweiterte Denkungsart“ zu befördern. An der Veranstaltungsreihe zeigt sich jedoch auch, wie die etablierten institutionellen Strukturen und liebgewordenen Gewohnheiten den aktuellen philosophischen Diskurs hemmen, die Offenheit anderen Disziplinen und zivilgesellschaftlichen Perspektiven gegenüber erschweren, und auch das Ausschöpfen der Potenziale neuer digitaler Formate begrenzen. Gerade die Einsicht in diese Schwierigkeiten mag uns motivieren, das kritische und selbstkritische Denken fortzuführen. Hierfür haben Kant – wenngleich man ihn deshalb nicht zum Vater der Emanzipation stilisieren sollte – und der philosophische Diskurs der Aufklärung wesentliche Impulse gegeben. Diese gilt es im Lichte unserer gegenwärtigen Verhältnisse auszuwerten, immer wieder neu zu befragen und kreativ unter Einbezug einer Pluralität von Perspektiven weiterzuentwickeln, gerade dort, wo wir ihrer Grenzen gewahr werden.
Peggy H. Breitenstein, Danilo Gajić, Daniel Kersting und Yann Schosser lehren und forschen am Arbeitsbereich Praktische Philosophie am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Nachweise und Anmerkungen
[1] KrV A 711/ B 739
[2] Die Veranstaltungsaufzeichnungen sind hier – auf der Seite der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften – einsehbar.
[3] Wir möchten die rassistischen Äußerungen Kants an dieser Stelle nicht noch einmal zitieren, nicht nur, weil dies ist sowohl während der Veranstaltungsreihe selbst als auch im öffentlich-medialen Diskurs des letzten Jahres ausführlich geschehen ist, sondern weil auch Zitate, selbst wenn sie in distanzierender und kritischer Absicht gezeigt werden, rassistische Stereotypien reproduzieren und verletzende Wirkungen entfalten können. Einschlägige Stellen im Werk Kants finden sich an zahlreichen Schriften, etwa in den aus der „vorkritischen“ Periode stammenden „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (AA 2: 243; 253ff.), in den Vorlesungen über Anthropologie und den Vorlesungsnachschriften „Physische Geographie“ der 1780er Jahre (vgl. z.B. AA 26.1, 296), im Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ (AA 8: 175f.) und selbst in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (vgl. AA 4, 423).
[4] Überlegungen und Vorschläge zu der Frage „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in klassischen Werken der Philosophie?“ werden – am Beispiel der Passagen bei Kant – auch hier präsentiert.
[5] Im Deutschlandfunk und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wurde über die Reihe berichtet. Vgl. die Beiträge von Andreas Beckmann (im Deutschlandfunk am 17.12.2020, sowie am 25.02.2021 [Audio]), sowie die Beiträge von Daniel-Pascal Zorn (in der FAZ vom 20.01.2021 und vom 26.01.2021)
[6] Im Feuilleton der deutschsprachigen Presse kam es im Sommer 2020 zu einer Debatte über das Problem des Rassismus bei Kant – die freilich überwiegend um die Beantwortung der Frage gravitierte, ob Kant ein Rassist gewesen sei, oder nicht, und wenn ja, was daraus folge. Vgl. z.B. die Beiträge von Floris Biskamp (im Tagesspiegel vom 21.06.2020), Micha Brumlik (in der taz vom 26.06.2020), Otfried Höffe (in der Neue Zürcher Zeitung vom 15.07. 2020), Markus Willaschek (in der FAZ vom 23.06.2020 und vom 15.07.2020), Michael Wolff (in der FAZ vom 09.07.2020 und vom 30.07.2020), sowie das Interview von René Aguigah mit Pauline Kleingeld und Anke Graneß (im Deutschlandfunk Kultur am 13.09.2020).
[7] KdU B 159 / AA 295
[8] Michael Geier begrüßt in seinem auf die Reihe Bezug nehmenden Beitrag (Süddeutsche Zeitung vom 22.02.2021) das dort vertretene „breite[ ] Spektrum der Überzeugungen und Überlegungen“. Doch einmal abgesehen davon, dass das vertretende Spektrum so breit bzw. heterogen nicht war, lautet die relevante Frage nicht nur, ob und welche Positionen repräsentiert werden, sondern auch, ob die repräsentierten Positionen Gehör finden und ernstgenommen werden – und von wem sie das werden.
[9] Das heißt auch, dass es für eine Ausweitung der Beschäftigung mit Rassismus in der Philosophie nicht genügt, die „Klassiker“ einen nach dem anderen auf den dort geäußerten, reproduzierten oder kolportierten Rassismus hin zu überprüfen, wenngleich das auch wichtig ist. Es gilt darüber hinaus, gesellschaftliche, institutionelle und diskursive Konstellationen in den Blick zu nehmen, die nicht abgeschlossen noch historisch sind, und deren Teil wir selbst sind.