Solidarität als Laster. Zum Beispiel die Nahostdebatte

Von Tim F. Huttel (Rostock)


Wenn die Moralistin sich solidarisch zeigt, offenbart sie darin ein Laster und keine Tugend. Es steckt wenig Nobles darin, vielmehr konstruiert sie die Objekte ihrer Solidarität, weil sie ihrer bedarf. Denn in der Solidarität begibt sich die Moralistin, die selbst nicht politisch urteilen kann, in die Rolle der Helferin, in der sie auch nicht politisch urteilen muss. Eben hierin steht die Solidarität als Laster der Solidarität als Tugend, die auf unabhängigem Urteil beruht, diametral gegenüber. Den Schaden dieses Lasters trägt eine Öffentlichkeit, die um Gelegenheiten zur vernünftigen Meinungsbildung gebracht wird. Dies wird gerade im Fall der Nahostdebatte deutlich, die von Beiträgen geflutet wird, denen es allein darum geht, „sich zu positionieren“, auf der „richtigen Seite“ „Haltung zu zeigen“, während das Abwägen der Gesichtspunkte, die für die jeweiligen Position sprechen könnten, durch eben diese Bekenntnispolitik versäumt wird.

Moralismus und politische Inkompetenz

Moralismus hat im Kern mit selbstbestätigendem Denken zu tun. Die Moralistin versucht, mit den eigenen moralischen Ansichten, wo immer diese in Frage gestellt werden, Recht zu behalten.[1] Eine der größten Herausforderungen liegt für sie in der Erklärung, weshalb andere anders urteilen und handeln. Versucht man dies zu verstehen, muss man Gründe finden, die zumindest hypothetisch auch für einen selbst leitende Gründe hätten sein können. Die eigenen Ansichten wirken dann schnell kontingent und instabil. Um den destabilisierenden Effekt zu umgehen, führt die Moralistin die Abweichung schlicht auf das Defizit des Gegenübers zurück: Er irrt, er ist zu „unreflektiert“, um die moralische Wahrheit zu erkennen, nicht hinreichend „sensibilisiert“, um sie zu erspüren, oder ohne die exklusive Erfahrung, die zu echter moralischer Inspiration nötig wäre. Der andere hat in dieser Auslegung schließlich gar keine echten Gründe für seine Perspektive, das heißt keine, die auch für die Moralistin Gründe hätten sein können. So behält die Moralistin Recht, indem sie moralisierend statt verstehend erklärt. 

Im moralisierenden Erklären wird also lediglich eine Auswahl legitimer Gründe berücksichtigt. Was andere antreibt, zählt im Zweifelsfall nicht als beachtenswerter Grund. Eben hiermit geht die für den Moralismus typische politisch Inkompetenz einher. Wer das Handeln anderer nicht aus deren Perspektive heraus erklären kann, kann schlicht nicht wissen, worum es politisch geht. Denn Politik spielt sich überhaupt nur ab, weil es eine Pluralität von Parteien mit unterschiedlichen Perspektiven gibt, die um etwas streiten. Worum die Parteien streiten, sieht aber aus jeder Perspektive zumindest etwas anders aus, ist anders motiviert, anders bedingt. Es ist gleichwohl deren Interaktion, die eben keinen objektiven Sinn hat, die für den Verlauf des Geschehens entscheidend ist. Was es voranbringt, verzögert, verschiebt, kann daher niemand wissen, der nicht sagen kann „Partei X geht es um dieses, aber Partei Y geht es um jenes“, und es kann letzteres niemand adäquat erklären, der hierfür auf die moralische Diskreditierung einer der Konfliktparteien zurückgreifen muss.

Geschichtssinn durch Solidarität

Die Moralistin macht sich das politische Geschehen stattdessen begreiflich, indem sie es zu einem Streit von Gut und Böse uminterpretiert. Sie legt die Geschichte etwa nach einem Schema aus, in der eine Partei Opfer und moralisch gut, eine andere Partei Täter und moralisch böse ist, und übernimmt dann die solidarische Rolle der Helferin. Natürlich gibt es Situationen, in denen es eindeutig Opfer und Täter gibt und in eben jenen Situationen ist die Solidarität mit dem Opfer wohl immer eine Tugend. Doch in der moralistischen Solidarität, will man gar nicht genau wissen, wer nun was weshalb getan oder erlitten hat. Vielmehr wird das Geschehen und seine Beteiligten entlang moralischer Kategorien konstruiert, die eine Zuweisung von Gut und Böse, von Schuld und Unschuld garantieren, wo die Tatsachen dies gar nicht erlauben. Vor allem kontingent verlaufende Interaktionen, in denen streitende Parteien einander durch Taten Handlungsgründe zufügen und neue Handlungsbedingungen aufzwingen, weichen zugunsten moralisierender Narrative, die Schuld und Unschuld so verteilen, dass völlig klar wird, auf welcher Seite man Recht hat.

Solidarität als Laster: ein Problem der Nahostdebatte

Die aktuellen Kampfhandlungen im Gaza-Streifen sind veranlasst durch den grausamen Überfall der Hamas auf Israel und seine Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023. In ihm gab es eindeutige Täter und Opfer und Solidarität mit letzteren stellt eine Tugend dar. Denn wenn bewaffnete Kombattanten am frühen Morgen in Wohnhäuser eindringen, um darin schlafende Familien zu ermorden, gibt nichts Anlass zum Zweifel an der moralischen Verwerflichkeit dieser Tat. Bezüglich der allgemeinen moralischen Grundsätze, die die Bewertung dieser Situation anleiten, gibt es in der Nahostdebatte auch erstaunlich wenig Uneinigkeit. Zwist kommt in der Frage, wie diese Situation zu bewerten ist, erst dann auf, wenn bei der Darstellung die Nationalität der Beteiligten beachtet wird. Dann glauben viele, es käme nun auf das an, was sie den „historischen Kontext“ nennen.

Wenn es der Nahostdebatte verlässlich an Verständigung gebricht, man weder verstehen will, worum es dem anderen geht, noch, inwiefern er mit dem Gemeinten richtig liegt, hängt dies damit zusammen, dass der Umgang mit dem „historischen Kontext“ primär als Ausdruck der jeweiligen Positionierung behandelt wird, die man sich selbst als moralische Leistung, den Abweichlern als moralisches Defizit vorhalten kann, ohne dass man Tatsachen beachten müsste.

Auf der einen Seite tun sich propalästinensische Moralisten hervor, die aus der Vorgeschichte des 7. Oktober eine (partielle) Rechtfertigung für die Taten der Hamas ableiten, und auf der anderen Seite proisraelische Moralisten, die glauben, aus einer Berücksichtigung der Vorgeschichte des 7. Oktober könne gar nichts anderes als eine (partielle) Rechtfertigung eben jener Taten folgen. Beide stimmen in dem moralistischen Irrtum überein, dass sich eine klare moralische Verurteilung des Überfalls nicht aufrechterhalten ließe, wenn zugebilligt würde, dass die Hamas-Kämpfer psychologisch verständliche Gründe hatten, die sie ohne vorherige israelische Handlungen nicht gehabt hätten. Vielleicht ist nicht sofort klar, was in diesem Irrtum unterstellt wird. Man lese noch einmal die Berichte vom Überfall und führe sich vor Augen, was für Gräueltaten angeblich durch verstehendes Erklären gerechtfertigt werden können, um sich klarzumachen, wie eklatant das hier vorliegende Missverständnis ist: Man nimmt etwa an, es könne eine wahre Schilderung dieser Vorgeschichte geben, an deren Ende man sagen würde, unter diesen Umständen sei es irgendwie gerechtfertigt oder irgendwie entschuldbar, ein Kind zu erschießen.

Der moralistische Irrtum, psychologisch verstehendes Erklären rechtfertige das, was es erklärt, verpflichtet Israelsolidarische darauf, die Relevanz der Vorgeschichte überhaupt herunterzuspielen. Um die moralischen Rollen vom 7. Oktober zu erhalten, so glauben sie, muss die Vorgeschichte, in der Feinde einander Gründe zur Feindschaft gaben und sich wechselseitig Handlungsbedingungen aufzwangen, unterdrückt werden. Wollte man aber die Vorgeschichte bei der Erklärung konsequent ausblenden, liefe dies auf die absurde Auffassung hinaus, es sei dem bloßen Zufall oder reinem Antisemitismus geschuldet, dass die Hamas Israel und nicht Ägypten überfallen hat. Doch eine solche Auffassung scheint man erzwingen zu wollen, wenn jeder Hinweis auf den offensichtlichen Umstand, dass der Überfall „nicht im luftleeren Raum“ (Guterres) geschah, und jede Aufforderung, sich verstehend in die Gegenseite hineinzuversetzen (z.B. Žižek auf der Buchmesse) mit der Unterstellung von Relativismus oder Antisemitismus quittiert wird.  

Während israelsolidarische Moralisten die Bezugnahme auf die reale Vorgeschichte ächten, gehen Helfer Palästinas dazu über, durch das Abfälschen der derselben eine Rechtfertigung des Überfalls nahezulegen. So etwa im offenen Brief „Philosophy for Palestine“, der von zweihundert Philosophinnen und Philosophen unterzeichnet wurde. Die Kritik am soeben thematisierten Geschichtsumgang gibt hierin den Auftakt. Wer so tue, so die Unterzeichner, als habe die Geschichte der Gewalt mit den Angriffen der Hamas am 7. Oktober begonnen, lege eine „reckless indifference to history“ an den Tag. Der Anfang der Geschichte wird stattdessen auf die Errichtung des „ethno-supremacist state“ Israel 1948 datiert. Die Geschichte Israels wird dann in äußerster Einseitigkeit, ohne eigene Vorgeschichte, ohne arabische Aggression, überhaupt ohne äußere Bedingungen erzählt. Jede historische Interaktion, die die moralische Einteilung in „oppressor“ oder „oppressed“ in Frage stellen könnte, wird solidarisch getilgt, sodass der Konflikt wie das alleinige Machwerk Israels wirkt, das zum Bösen veranlagt erscheint. Israel allein habe die „conditions that produce violence“ geschaffen, auf die der Hamas-Überfall zurückgeht. Der Text kann keine andere Schlussfolgerung zulassen, als die, dass Israel die alleinige Verantwortung für den Überfall trägt, wenn die Unterzeichner mit den Palästinensern uneingeschränkt rechtbehalten wollen.

Der beschädigte Diskurs

Die politische Debatte über angemessenes solidarisches Handeln wird durch Solidarität als Laster torpediert. Zunächst, weil sie auch das Verhältnis zu den Mitbürgerinnen und Mitbürgern vergiftet. Hat man sich erst einmal durch gründliche Geschichtsklitterung davon überzeugt, dass die Gegenseite mit dem Teufel im Bunde steht, ergibt sich von allein, dass mit ihr nicht zimperlich verfahren werden darf. An US-Universitäten wüteten Linksidentitäre gegen Israel und alles Jüdische. In Deutschlands proisraelischer Öffentlichkeit wurde als Reaktion auf propalästinensische Parteinahmen, die man pauschal unter Antisemitismusverdacht stellte, eilig nach dem Verbot von Versammlungen, der Gesinnungsreglementierung des Kulturbetriebs sowie der Abschiebung, Ausbürgerung oder Nicht-Einbürgerung von Personen gerufen. Eine Diskussion darüber, welche Meinungsäußerungen man damit genau unterbinden wollte und inwiefern diese repressiven Mittel mit der Verfassung und ihrem Geist vereinbar seien, schien dagegen nachrangig. Offensichtlich beeinträchtigt ein solches moralistisches Diskursklima die Rationalität des politischen Diskurses massiv.

Solidarität als Laster führt auch dazu, dass die Aufgabe, wie über angemessene Solidarität zu beraten ist, missverstanden wird. Mit der Fixierung moralisch eindeutiger „Identitäten“, die vom realen Geschehen – dem Vergangenen, Gegenwärtigen wie dem Künftigen – weitgehend entkoppelt sind, kommt der Gedanke unbedingter Solidarität auf, die das eigene Urteil erübrigt. So stehen sich immer noch jene, die Israel einen Genozid vorwerfen, und jene, die in all den Toten nur Kollateralschäden sehen wollen, besonders lautstark gegenüber. Doch dies ist keine Alternative, mit der vernünftig überlegt werden kann.

Der Genozid-Vorwurf stützt sich auf die palästinasolidarische Leugnung der Verantwortung der Hamas und des Verteidigungscharakters der israelischen Offensive. Die Beschwichtigung, es handle sich um bloße Kollateralschäden, leugnet umgekehrt israelsolidarisch die Verantwortung der israelischen Regierung, die im Krieg, so berechtigt er auch sein mag, ihre Mittel im Wissen um deren mögliche Folgen wählt. Soll diese Verantwortung nicht geleugnet werden, muss eine Vertretbarkeitsschwelle angenommen werden, ab der die Inkaufnahme ziviler Opfer nicht mehr unter die Beschreibung „Kollateralschaden“ fällt. Die Frage, wann diese Schwelle überschritten wird, ist äußerst heikel. Sie zu stellen, behindert bislang der moralistische Lärm; sie nicht zu stellen, verbietet der moralische Anspruch, der mit dem Wort „Solidarität“ erhoben wird.

Wenn die Sicherheit Israels „deutsche Staatsräson“ sein soll, dann verbietet sich seine Verklärung zu einem moralisch-ideellen Gebilde umso mehr. Israel ist auch einer der gefährdetsten Staaten der Welt, der machtpolitisch handelt und aufgrund seiner Lage so handeln muss und dabei selbst neue Gefahren auf sich zieht. Nichts an diesem Handeln – wie es durch die Regierung bestimmt wird, wie es umgesetzt wird, was aus ihm folgt – kann ideale Züge tragen. Und was unter diesen nichtidealen Bedingungen als angemessene Solidarität mit Israel gelten kann, wird immer größerem Streit und größeren Rechtfertigungsansprüchen unterliegen, als mit moralisierenden Geschichtsdeutungen eingelöst werden kann. Daher kann eine Öffentlichkeit, die Solidarität als Gut betrachtet, jenen, die das Rechtbehalten durch Solidarität nötig haben, nicht beliebig viel Raum geben.  


Tim F. Huttel promoviert an der Universität Rostock zu personaler Autorität in der politischen Ethik (vgl. hier). Mit dem Thema dieses Beitrags verwandt ist sein Artikel zu Moralismus und Redefreiheit in der Zeitschrift für Praktische Philosophie.


[1] Mein Verständnis von Moralismus schließt vor allem an Max Weber und Bernard Williams an, die beide dem Rechthaben die unhintergehbare Relevanz des subjektiven Sinns gegenüberstellen, die im Moralismus geleugnet wird.