Sprachlose Opfer. Zum Zusammenhang von institutionalisierter Gewalt und epistemischem Unrecht
Von Dietrich Schotte (Regensburg)
Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der in einem Schwerpunkt zur epistemischen Ungerechtigkeit in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie (ZfPP) erschienen ist. Der Aufsatz kann auf der Website der ZfPP kostenlos heruntergeladen werden.
Dieser Blogbeitrag kann auch als Podcast gehört und heruntergeladen werden:
Nach den zahlreichen Erfahrungsberichten, Dokumentationen und juristischen Gutachten der letzten Jahre kann niemand mehr leugnen, dass über Jahrzehnte, mutmaßlich über Jahrhunderte hinweg in der katholischen Kirche in monströsem Ausmaß sexualisierte Gewalt gegen ‚Schutzbefohlene‘ ausgeübt, geduldet, bagatellisiert, erlaubt und vertuscht wurde. Besonders verstörend ist der ebenfalls nicht zu leugnende Umstand, dass die Betroffenen nicht allein nicht gehört wurden – sondern dass sie selbst oft nicht in der Lage waren, ihre Erfahrungen als das zu erkennen und zu benennen, was sie waren: sexualisierte Gewalt (und auch die irreführende, aber gebräuchliche Rede vom „sexuellen Missbrauch“ übernehmen sie nicht). Die Strukturen der katholischen Kirche machten die Opfer, so scheint es, nicht nur wehrlos, sondern auch sprachlos. Was die Frage provoziert, wie es geschehen kann, dass Menschen ihre eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen, das eigene Empfinden derart falsch einordnen?
Es gibt eine kurze Antwort auf diese Frage, die das Problem praktischerweise auch mit einem – von Miranda Fricker in ihrem 2007 erschienenen Buch Epistemic Injustice in die breitere philosophische Debatte eingeführten – philosophischen label versieht: So etwas geschieht aufgrund von „epistemischem Unrecht“.
Etwas ausführlicher formuliert: Die Betroffenen sind „sprachlos“, weil ihnen erstens nicht geglaubt wird, d.h. das, was sie sagen, wird nicht gehört, eben weil sie es sagen (während es durchaus gehört wird, wenn es von anderen gesagt wird); sie sind aber auch „sprachlos“, weil sie zweitens unter Umständen sich selbst nicht glauben, d.h. sie haben für das, was sie erfahren mussten, keine Sprache, die ihnen selbst angemessen erscheint. Im ersten Fall handelt es sich um „testimoniales“ oder „Zeugnisunrecht“, im zweiten um „hermeneutisches Unrecht.“ Und beides ist Unrecht, weil es hier keinen guten Grund dafür gibt, den Betroffenen nicht zu glauben, ihnen nicht zuzuhören. Sie werden, mit anderen Worten, ohne Rechtfertigung als unglaubwürdig hingestellt und behandelt.
Das „Zeugnisunrecht“ ist sicherlich leichter nachzuvollziehen, weil es die Betroffenen nicht entmündigt. Sie wissen, was ihnen widerfahren ist, sie wissen, was sie erfahren haben oder erleiden mussten. Und sie können es auch korrekt benennen. Sie kennen die Begriffe für diese Erfahrungen, sie können also anderen beschreiben, erklären, deutlich machen, was ihnen passiert ist. Ihr Problem ist allerdings, dass man ihnen nicht glaubt, dass diejenigen, denen sie davon erzählen, vielleicht grundsätzlich akzeptieren, dass solche Dinge passieren – aber sie glauben ihnen nicht, wenn sie erzählen, dass ihnen so etwas passiert ist oder sie so etwas beobachtet haben.
Zahlreiche Opfer katholischer Priester haben es ja erzählt – sie haben, mal deutlicher, mal weniger deutlich, gesagt, dass sie belästigt, beschämt, vergewaltigt, gedemütigt wurden. Aber ihnen wurde nicht geglaubt, ihre Zeugnisse wurden entwertet. Und dies nicht, weil sie dieser-oder-jene, Paul, Charlotte oder Kay sind. Sondern weil sie etwa Kinder waren und ‚Kinder gar nicht genau wissen, wovon sie reden‘ oder ‚Kinder oft Fantasie und Realität nicht auseinanderhalten können‘. Und weil diejenigen, denen sie davon erzählten, umgekehrt davon überzeugt waren, dass ‚ein katholischer Priester so etwas nicht macht‘.
Wenn es um die Frage geht, ob jemanden geglaubt wird, dann sind mit anderen Worten nicht die konkreten Personen, das Opfer X und der Täter Y, entscheidend. Entscheidend ist, auf welcher sozialen Position sich die Person befindet, um deren Aussage, um deren Zeugnis es geht. Darüber, ob ein Zeugnis als „glaubwürdig“ behandelt und eingestuft wird, entscheidet im schlimmsten Falle, wie die Gruppe, der die Zeugin zugerechnet wird, von denjenigen eingeschätzt wird, die über die Glaubwürdigkeit entscheiden. Und hier spielen dann nicht nur kollektive Identitäten, sondern vor allem auch Vorurteile und Ressentiments eine wichtige Rolle.
Das ist, leider, alles andere als selten der Fall. Es ist nachweisbar, dass die Erfolgsaussichten von Frauen, die eigene Erfahrungen sexualisierter Gewalt öffentlich anklagen, kaum von ihrer persönlichen, individuellen Glaubwürdigkeit abhängen – aber umso mehr von der Frage, auf welcher sozialen Position sie sich befinden und, noch wichtiger, auf welcher sozialen Position sich der Täter befindet. Grundsätzlich sind ihre Erfolgsaussichten trotz #metoo immer noch eher schlecht, denn viele von uns ‚wissen ja‘, dass ‚Frauen oft überreagieren‘ und dass sexualisierte Gewalt etwas ist, das angeblich nur von seelisch beeinträchtigten Randgruppen, nicht aber von ’normalen Menschen‘ ausgeübt wird (beides ist empirisch falsch). Ist die anklagende Frau zudem Schwarz und der Täter Weiß (und womöglich noch aus ökonomisch besser gestelltem Milieu), dann sind ihre Erfolgsaussichten noch ungleich schlechter.
In diesen Fällen wissen allerdings die Betroffenen, was sie erfahren haben. Sie sind allein insofern „sprachlos“, als das, was sie sagen, von den Angesprochenen nicht als wahr anerkannt wird. Daher hat ihre Aussage, ihr Aussprechen dieser Erfahrung denselben Effekt, als hätten sie es nicht gesagt. Aber was ist mit dem zweiten Fall epistemischen Unrechts, dem „hermeneutischen Unrecht“?
Matthias Katsch hat in Damit es aufhört (Nicolai 2020), ähnlich wie Doris Wagner (verheiratet Reisinger) in Nicht mehr ich (Droemer Knaur 2014), festgehalten, dass er das, was er erfahren hat, was von Lehrern des Berliner Canisius Kollegs mit ihm gemacht, ihm angetan wurde, erst rückblickend, nach Jahren der kritischen Auseinandersetzung als sexualisierte Gewalt erkannt hat. Und ein Aspekt ist in diesen beiden, wie in zahlreichen anderen Fällen, dass die Betroffenen sich selbst nicht vertrauen – dass sie ihre eigenen Erinnerungen in Zweifel ziehen, sich etwa selbst unterstellen, etwas ‚falsch wahrgenommen‘ oder ’sich eingebildet‘ oder ‚falsch verstanden‘ zu haben.
Eine Ursache hierfür liegt häufig darin, dass die Betroffenen die Vorurteile und Ressentiments, die allgemein akzeptierten vermeintlichen ‚Wahrheiten‘ über Mitglieder der Gruppe, der sie sich selbst zurechnen, verinnerlichen und anerkennen. Dass sie ebenso wie die Mehrheit derjenigen, mit denen sie über ihre Erfahrungen reden könnten (oder müssten), überzeugt sind, dass man solchen Menschen wie ihnen nicht glauben sollte. Weil sie ‚Frauen‘ sind, oder ‚Kinder‘. Oder dass man ihnen zwar grundsätzlich glauben darf, aber nicht, wenn es um solche Erfahrungen geht. Weil sie ‚das nicht beurteilen können‘. Wenn ich aber davon überzeugt bin, dass man den Zeugnissen von Menschen wie mir nicht vertrauen sollte – warum sollte ich mir dann vertrauen?
An dieser Stelle wird deutlich, wie eng der Zusammenhang zwischen epistemischem Unrecht und jenen sozialen Strukturen ist, die Mitglieder bestimmte sozialer Gruppen zu Opfern und Mitglieder anderer sozialer Gruppen zu Tätern von Gewalt machen. Es handelt sich ja um Strukturen, die (das wäre zumindest mein Vorschlag) es Mitgliedern der Tätergruppe nicht nur besonders leicht machen, Gewalt auszuüben, sondern die auch Anreize und Motive zur Gewaltausübung setzen. Allerdings nicht gegen beliebige Opfer, sondern gegen Mitglieder bestimmter Gruppen. Betroffen von der sexualisierten Gewalt katholischer Priester waren und sind ja nicht beliebige Menschen – sondern vor allem Ministrant:innen und Schüler:innen katholischer Schulen, Seminaristen und Nonnen.
Und neben anderen Faktoren, die etwa Maren Behrensen in ihrem*seinem Beitrag zu dem von Matthias Wirth, Isabelle Noth und Silvia Schoer herausgegebenen Band Sexualisierte Gewalt in kirchlichen Kontexten (de Gruyter 2021) herausgearbeitet hat, ist es eben die aus epistemischem Unrecht resultierende Sprachlosigkeit der Betroffenen, die die Taten der Kleriker ermöglicht. Weil den Betroffenen nicht geglaubt wurde, schließlich ‚tut ein katholischer Priester so etwas nicht‘. Und weil die Betroffenen sich selbst bisweilen nicht geglaubt haben – immerhin wurde ja auch ihnen immer wieder gesagt, nein: gepredigt, dass ‚ein katholischer Priester so etwas nicht tut‘.
Auch hier gilt: Diese institutionalisierte, d.h. durch die Strukturen der katholischen Kirche verursachte sexualisierte Gewalt ist, leider, nur ein Beispiel. Ein aktuell stärker präsentes (wenn auch nicht mehr so präsent wie vor einigen Jahren), aber eben nur eines. Polizeigewalt gegen Angehörige von Minderheiten wäre ein weiteres Beispiel, wo wir ähnliche Strukturen vorfinden.
In all diesen Fällen ist epistemisches Unrecht, in beiden Varianten, ein zentraler Faktor, der die entsprechende Gewalt ermöglicht. Dass insbesondere hermeneutisches Unrecht ihre Aufdeckung massiv erschweren kann, zeigt, wie essenziell dieser Begriff für die Analyse und Kritik solcher sozialer Strukturen ist.
Dietrich Schotte ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Philosophie der Universität Regensburg. Seine Forschungen konzentrieren sich historisch auf die Philosophie der frühen Neuzeit und Aufklärung sowie systematisch auf Fragen der praktischen, vor allem der politischen Philosophie, zuletzt auf Probleme einer Philosophie der Gewalt. Hier ein Gespräch (Podcast) mit Dietrich Schotte über sein Buch „Was ist Gewalt?“ im Thomasisus Club.