»Toni möchte bitte aus dem Bällediversbad abgeholt werden« oder Impressionen aus der Geschlechtskategorie Restekiste

Von Toni Loh (Hochschule Bonn-Rhein-Sieg)


Dieser Erfahrungsbericht thematisiert und reflektiert die offizielle Anmeldung zur Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen im Rahmen des Selbstbestimmungsgesetzes, das am 1. November 2024 in Kraft tritt. Dabei werden eine Reihe philosophischer Fragen wie etwa die nach (personaler, sozialer, geschlechtlicher) Identität und (rechtlicher, sozialer, moralischer) Anerkennung gestreift. Aber im Kern geht es mir primär um die seit 2018 in Deutschland gültige Kategorie des sog. Dritten Geschlechts, die etwa in der Geburtsurkunde sowie an anderen öffentlichen und offiziellen Stellen üblicherweise mit divers angegeben wird und die feministischen und ethischen Herausforderungen, vor die wir uns damit gestellt sehen.

Im Folgenden beschreibe ich einen Termin beim Standesamt, der für mich so anstrengend verlief, wie er in seinen raum-zeitlich messbaren Kategorien und mit einer Kürze von knapp zehn Minuten amtsseitig einfach und klar angedacht war. Genauso ist dieser Text geschrieben: vermeintlich einfach und klar, aber dank seiner ganzen (ab-)satzinternen Einschübe, Überlegungen und Exkurse (vermutlich) recht anstrengend zu lesen.

Personale und soziale Identität: Zeig‘ mir Deine Dokumente und ich sag‘ Dir, dass Du bist.

Ich war heute beim Amt. Beim Standesamt in Ravensburg, um genau zu sein. Warum? Nun ja, heute ist der 1. August 2024 und damit der erstmögliche Tag, um eine Änderung des Geschlechtseintrags bzw. des Vornamens anzumelden. Denn am 1. November 2024 tritt endlich das neue Selbstbestimmungsgesetz in Kraft – juhuu! (Nein, das Folgende wird keine Reflexion über die sinnigen, weniger sinnigen und unsinnigen Details dieses Gesetzes, dazu haben Andere bereits Gutes gesagt und auch ich würde diesem Thema lieber einen eigenen Raum geben.) Um das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nehmen zu können, muss Mensch sich drei Monate zuvor angemeldet haben. Damit ist der 1. August 2024 der erste Tag, an dem eine solche notwendige Anmeldung möglich ist – und der Grund, warum ich beim Standesamt in Ravensburg, was mein aktueller Wohnort ist, heute auf der sprichwörtlichen Matte stand.

Ich war sogar, wie mir die überaus freundliche und bis über beide Ohren strahlende Amtsperson mitteilte, der faktisch erste Mensch in Ravensburg, der zur offiziellen Anmeldung von Geschlechtseintrag und Vornamen heute am 1. August 2024 angetreten war und nun vor ihr saß. Ja, andere hätten sich zwar bereits für eine Anmeldung angemeldet – seit heute früh stünde auch endlich das entsprechende Formular im online-Format dafür bereit, als ich zwei Wochen zuvor via Mail nachfragte, wie und wo ich diesen Schritt gehen könnte, gab es das noch nicht, die bürokratischen Mühlen in Deutschland usw. Aber ich sei tatsächlich die erste Person in Ravensburg, leiblich in Präsenz anwesend, ganz gegenwärtig und real, ausgerüstet mit diversen (dieses Wort wird im Folgenden noch eine Rolle spielen, das sei hier nur schon mal zur Vorwarnung angemerkt) Dokumenten – Reisepass, Personalausweis, Heiratsurkunde, Geburtsurkunde… Ich hatte ja alles gegriffen, was in meine nervös zittrigen Hände fiel, selbst mein Impfpass und eine nostalgisch sepia-getünchte Bekanntmachung meiner Geburt wurden nicht verschont, sie alle mussten mitkommen, wurden aufs Standesamt mitgeschleppt, nur, um dann vernachlässigt verwaist der Dinge zu harren, die da kommen und an denen sie zum Teil gar nicht beteiligt sein werden. Denn es wurden doch nur Personalausweis, Geburts- und Heiratsurkunde benötigt – und nun hinter einem optimistisch hoffnungsvollen Lächeln die eigene Aufregung nur schwerlich verbergend vor ihr sitzend, der diese amtsoffizielle Option in Anspruch zu nehmen gedachte.

Ein echter konkreter Mensch. Und so gar nicht wütend oder aktivistisch irgendeinen Punkt machen wollend, wie ›uns‹ (also der LGBTQIA+ Community) gerne vorgeworfen wird, nein, ganz und gar nicht, sondern ein einfaches, langweiliges, ein bisschen müdes, zumindest aber emotional gestresstes Individuum. Schlicht und glücklich und wohl etwas aufgeregt. Mehr nicht. Weil, ist das jetzt echt ok, dass ich diesen Schritt gehe? Diesen Raum einnehme? Diesen Stuhl besetze, auf dem Andere und Wichtigere als ich deshalb jetzt gerade nicht sitzen können und sage, nein, vielmehr stolpere verbal vor mich hin: »Ich bin hier, um etc.«?

Ich. Jetzt. Hier. (Warum musste ich auf einmal an Sextus Empiricus denken? Dabei passt der ganze Stil hier doch sehr viel besser zu Paul B. Preciado…)

Aber so wird Identität in unseren Breitengraden nun einmal offiziell festgestellt, nämlich über die Vorlage einiger konkret dafür gedachter Dokumente: Geburtsurkunde, Personalausweis, ggf. Heiratsurkunde. Das heißt aus philosophischer Perspektive natürlich noch lange nicht, dass dieses willkürliche Sammelsurium an Papieren tatsächlich und in einem ernstzunehmenden Sinn Identität ist oder abbildet. Es (das Papier-Sammelsurium) stellt, erstens, allein die offizielle Behauptung bzw. Feststellung dar, dass ein Ding namens Identität existiert sowie, zweitens, eine Definition ebendieser Identität bereit. Das mag Ihnen wie eine triviale Anmerkung erscheinen, sie hat aber an dieser Stelle meines kleinen Erfahrungsberichtes durchaus ihre Berechtigung. Sie ist in ihrer Schlichtheit notwendig (wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde) und sie ist darüber hinaus auch noch hinreichend, da ich ja gar nicht die Intention habe, eine differenzierte philosophische Abhandlung über personale und soziale Identität zu verfassen.

Um aber dennoch und wie in Form eines kleinen Exkurses eine Art Ausblick darauf zu geben, was wir hier eigentlich genau abkürzen, indem wir nicht oder zumindest nicht differenziert über Identität sprechen, möchte ich in aller Knappheit zusammenfassen, was ich unter Identität verstehe, um damit zugleich eine kleine (verspätete, denn wir befinden uns ja bereits mitten im ersten Abschnitt) Inhaltsübersicht dieses Erfahrungsberichtes zu geben: Ich begreife Identität als einen ganzen Themenkomplex, der mindestens die drei folgenden Diskurse enthält: Es geht, erstens, wie dieser erste Abschnitt bereits skizziert, in einem engeren Sinn um das Thema der Identität selbst. Dazu zählen Fragen wie die, was Identität ganz allgemein ist, ob ein Ding namens Identität (als eine fixe, starre oder zumindest in der Zeit konstante Entität) überhaupt existiert oder ob es sich dabei lediglich um etwa eine (dynamische und fluide, wenn auch nichtsdestotrotz relevante) Rolle handelt, die wir im Alltag ganz selbstverständlich ausüben. Weiterhin drehen sich in diesem ersten Diskurs nach der Existenz, Definition und Ausgestaltung von Identitäteinige Überlegungen auch darum, ob Identität verschiedene Facetten aufweist wie etwa eine personale und eine soziale Seite. Das sind weitestgehend klassische Fragen, die in der Philosophie des Geistes beheimatet sind und die in Deutschland offiziell durch die Vorlage der genannten Dokumente beantwortet werden.

Feministische Vorhaben bewegen sich insbesondere an der Grenze zum zweiten Diskurs in diesem Themenkomplex. Denn insbesondere dann, wenn es um Aspekte des geschlechtlichen, sexuellen und beziehungsorientierten Selbstverständnisses geht, wird häufig der Zusammenhang zur (personalen) Identität hergestellt, im Sinne von »Ist mein Geschlecht Teil meiner Identität?«, »Bin ich trans* (= habe bzw. besitze ich eine trans*-Identität) oder lebe ich trans* (= übe ich eine Art Rolle aus, die unzweifelhaft von enormer Wichtigkeit für mich sein kann)?« oder »Sagt mein Geschlecht, meine Sexualität oder die Weise, in der ich eine Beziehung führe (etwa monogam oder polyamor) etwas über meine Identität aus?«. Unter dieses zweite Thema des geschlechtlichen, sexuellen und beziehungsorientierten Selbstverständnisses fallen in tradierten feministischen Diskursen auch Fragen wie die, ob ein Mensch mit einem bestimmten Geschlecht oder einer spezifischen sexuellen Identität auf die Welt kommt oder nicht. Selbstverständlich vertreten Manche hier auch die Position, dass keine der genannten Kategorien (Geschlecht, Sexualität, Beziehungsleben) überhaupt irgendetwas mit Identität zu tun hat – sei es, weil sie (im Rahmen des ersten Diskurses) das Phänomen Identität selbst infrage stellen bzw. annehmen, dass es Identität nicht gibt, sei es, weil andere Kategorien für sie von identitätsdefinierender Relevanz sind. Genau genommen kann also der zweite Diskurs erst im Anschluss an den ersten stattfinden. Stellen Fragen nach der Existenz, Definition und Ausgestaltung von Identität den Horizont und Rahmen dar, spielen sich die identitätsbezogenen Themen des zweiten Diskurses nach dem jeweiligen und konkreten geschlechtlichen, sexuellen und beziehungsorientierten Selbstverständnis innerhalb desselben und (üblicherweise, wenn auch nicht notwendig) mit Blick auf die personale Identität ab. Auf diesen zweiten Diskurs komme ich im nächsten Abschnitt meines Erfahrungsberichtes zurück.

Schließlich geht es im Rahmen des Themenkomplexes Identität, drittens, um Fragen nach Selbstdarstellung, Repräsentation, Sichtbarkeit und Anerkennung. Spielen die ersten beiden Diskurse – Definition und Selbstverständnis – primär mit Blick auf die Person selbst eine Rolle, verbindet spätestens dieser dritte Diskurs nun Individuum und Gesellschaft miteinander. Aus feministischer Sicht wird in diesen Kontexten verstärkt der Fokus darauf gelegt, was wir (sofern überhaupt) von unserer Identität nach außen sichtbar machen (können), wer, im Sinne von: welche Identitäten im öffentlichen und gesellschaftlichen Raum bzw. in spezifischen gesellschaftlichen Kreisen sichtbar sind und anerkannt werden und welche Menschen aufgrund der Tatsache, dass sie weder sichtbar noch angemessen repräsentiert sind, aus der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft verschwinden. Auf diesen dritten Diskurs komme ich im letzten Abschnitt meines Erfahrungsberichtes zurück.

Aber nun zurück zum Geschehen im Büro des Ravensburger Standesamts.

Nachdem wir also gemeinschaftlich und unter Rückgriff auf besagte Dokumente (»…Gut, gut, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, nein, den Impfpass brauche ich nicht, und nee, das ist ja nur eine Bekanntmachung Ihrer Geburt usw.« – »In sepia« wage ich gedanklich hinzuzufügen) bestätigt hatten, dass ich tatsächlich ich war und bin, konnten wir endlich zur eigentlichen Anmeldung der Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen voranschreiten:

Geschlechtsidentität: Welche Kategorie darf‘s denn sein? Ja, die sind vorgegeben.

Sie: »Was wollen Sie denn ändern?« (Sie hat übrigens tatsächlich die ganze Zeit über gelächelt, sie hat sich nach meinem Dafürhalten wirklich und ehrlich gefreut. Für mich. Für all das.)

Ich: »Ich möchte meinen Geschlechtseintrag streichen!«

Sie: »Streichen?«

Ich: »Ja, streichen.«

Sie: »Also streichen.«

Ich: nicke bekräftigend.

Sie: »Das ist dann divers

Ich: »Und den Vornamen ändern.«

Sie: »Und welchen Vornamen darf ich eintragen?«

Ich: »Toni. T. O. N. I.«

Sie: »Mit ›I‹ am Ende. Ok. Schön.«

Das ging alles sehr schnell. Zu schnell, als dass ich mir über dieses unscheinbare Wörtchen divers in dem fraglichen Moment groß Gedanken machen konnte. Wenig später sprach ich mit Aiki Mira (schreibt wunderbare queere Science-Fiction; am 12. Oktober ist Buchpremiere für their neues Buch Proxi im c-base in Berlin – das bisschen Werbung muss erlaubt sein) darüber. Aiki sagte: »Also nichts da stehen haben, fänd‘ ich persönlich auch schöner, aber divers sorgt für mehr queere Sichtbarkeit. Deshalb habe ich das bewusst gewählt.«  Ich stimme prompt zu. Ja, divers ist in der Tat die rechtlich sichtbare queere Kennung! Das stimmt und deshalb ist es gut, dass es ab November bei mir in der Geburtsurkunde stehen wird. Ich komme auf diesen Punkt am Ende des dritten Abschnitts noch zurück. (Nebenbei: Das wäre dann ab November 2024; Glückwünsche werden zu entsprechender Zeit gerne entgegengenommen. Vielen Dank.)

Aber: Es ist doch ein gar zu garstiges kleines, mieses Wort, oder? Das gilt sowohl für divers als auch für die offizielle geschlechtliche Kategorie des sog. Dritten Geschlechts. Erst 2018 wurde in Deutschland dieses Dritte Geschlecht für die rechtliche und damit offizielle Erfassung von eigentlich intersexuellen Menschen eingeführt. Seit Dezember 2018 können Neugeborene im Geburtenregister unter dem Label divers eingetragen werden. Abgesehen davon, dass jedes Abrücken von der cisnormativen Zwei-Geschlechter-Logik zunächst einmal begrüßenswert ist, wird mit beiden Bezeichnungen – sowohl Drittes Geschlecht als auch divers – Diskriminierung reproduziert und der Bruch mit der cisnormativen Praxis zugleich wieder eingeschränkt. Denn zum einen wird mit dem Dritten Geschlecht eine Reihenfolge der Geschlechter festgelegt (in der vermutlich, zumindest würde das der patriarchalen Ordnung und der medizinisch-fachlichen Praxis entsprechen, die nach wie vor das Männliche als Standard und Norm setzt, die erste Stelle mit dem männlichen und die zweite mit dem weiblichen Geschlecht zu besetzen ist) und darüber eine implizite Abwertung desselben (aber auch des ›zweiten Geschlechts‹, welches das auch immer sein mag, raten Sie mal) vorgenommen.

Die diskriminierende Einordnung in die Kategorie divers klingt dann auch unverhohlen nach Sammelstelle, nach Restekategorie, nach »Toni möchte bitte aus dem Bällediversbad abgeholt werden« (vielen lieben Dank, Michael Kühler, für diese Inspiration) oder »unschön gemischtes Allerlei; mit oder ohne Hack verfügbar – diverse options available«… oder halt auch nicht… bzw. nach allem, was sich nicht in die Matrix der zwei herkömmlichen Geschlechter fügt.

Zum anderen wird ein Abweichen von der cisnormativen Zwei-Geschlechter-Logik bislang (bis zum 1. August bzw. 1. November 2024 immerhin) auf intersexuelle Menschen beschränkt. Trans* Menschen wurden bisher ganz hervorragend in der cisnormativen Ordnung ignoriert, auch wenn die Option des Dritten Geschlechts in der Praxis von trans* Menschen, die sich nicht als intersexuell verstehen (wie ich etwa, ich lebe seit einigen Jahren mehr oder weniger offen nichtbinär) – und eben jetzt auch aus trauriger Phantasielosigkeit des deutschen Rechtsstaates nun im Rahmen des Selbstbestimmungsgesetzes – genutzt wird. So kann bspw. beim Ausfüllen von digitalen Formularen zuweilen neben den beiden üblichen Geschlechtern die Option divers gewählt werden. Die Wahl dieser Kategorie ist so lange für trans* Menschen, deren Geschlecht bei ihrer Geburt mit weiblich oder männlich festgelegt wurde (wie das bei mir der Fall ist; weiblich, falls Sie sich das jetzt fragen sollten), unproblematisch, so lange durch die jeweilige Institution kein Nachweis über ihr biologisch zugeschriebenes Geschlecht eingefordert wird. (»Sagen Sie, haben Sie eine Vulva oder einen Penis oder etwa beides oder keines oder von beidem ein bisschen etwas, bitteschön…?! Ich muss das hier für Ihre Bahncard festlegen, damit klar ist, welches der heruntergewirtschafteten WCs in unseren Zügen Sie nutzen dürfen.« »Aber die sind doch unisex?!« »Ach ja, stimmt – egal, ich will es trotzdem wissen!« Dieser fiktive Dialog hat nicht wirklich stattgefunden – aber hätte er können! Es stellt sich mir schon die Frage, wozu an so vielen Stellen die Geschlechtskategorie abgefragt wird…)

Ethische Positionen, die an der cisnormativen Zwei-Geschlechter-Logik festhalten, wie das etwa bei Julian Nida-Rümelins und Nathalie Weidenfelds Erotischem Humanismus (2022) der Fall ist – wenn sie dort die entsprechende chirurgische Praktik der sog. geschlechtsangleichenden Operation kurz nach der Geburt oder im frühen Kindesalter bei intersexuellen Menschen immerhin implizit kritisieren (2022: 208). Zudem gehen sie lediglich von dem Fall aus, dass sich der postnatal »korrigierte« (2022: 208) Mensch zu »dem anderen, durch medizinische Maßnahmen unterdrückten Geschlecht zugehörig fühlt« (2022: 208). Ein Denken, das mit der cisnormativen Zwei-Geschlechter-Logik gänzlich bricht, wird von ihnen nicht thematisiert, blendet daher auch folgerichtig trans* Menschen abseits der Intersexualität aus und verstehen Intersexualität selbst letztlich als ein noch nicht recht erfolgtes Festlegen auf das weibliche oder männliche Geschlecht. Bewusst habe ich im vorherigen Satz die ambige Formulierung noch nicht recht gewählt. Zum einen soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass auch aus der Perspektive der fraglichen ethischen Ansätze der chirurgische postnatale Eingriff als nicht rechtens verstanden wird. Zum anderen soll damit die implizite Erwartungshaltung jener Ethiken angedeutet sein, die davon ausgehen, dass eine Entscheidung für das eine und gegen das andere Geschlecht zu einem späteren Zeitpunkt durch die Person selbst erfolgen wird. Ein neben oder außerhalb dieser beiden Geschlechter wird nicht gesehen.

Aber zurück zum Selbstbestimmungsgesetz.

Die offizielle (rechtliche oder staatliche) Definition von Identität umfasst also auch eine geschlechtsbezogene Seite (vgl. den zweiten Diskurs im Rahmen des Themenkomplexes Identität, den ich weiter oben knapp umrissen habe). Die offizielle Definition behauptet bzw. stellt also nicht nur fest, dass es ein Ding namens Identität gibt, sondern auch, dass die Identität einer Person u.a. eine geschlechtliche Seite aufweist. Eine bspw. sexuelle oder beziehungsorientierte Identitätskategorie wird hingegen offensichtlich nicht angenommen, da diese Informationen schlicht nicht im Personalausweis oder in ähnlichen Dokumenten anzugeben sind – bzw. lediglich implizit über die Heiratsurkunde ermittelt werden können (obwohl die natürlich keine Aussage über Sexualität und Beziehungsführung eines Menschen zulässt). Und ebenso wie dieses offizielle Verständnis von Identität durch eine Reihe an Dokumenten hinreichend erfasst wird – Geburtsurkunde, Personalausweis, ggf. Heiratsurkunde –, sind für den Nachweis der sog. Geschlechtsidentität spezifische Kategorien vorgegeben – männlich, weiblich, divers – die im Rahmen der offiziellen Definition von Identität als hinreichend verstanden werden.

Gesellschaftliche Anerkennung: Denk doch lieber noch mal (drei Monate) darüber nach!

Und auf einmal hatte ich diesen Zettel vor mir liegen und – ich wusste gar nicht, wie mir geschah – da las diese freundliche Amtsperson auch schon laut und in vernehmlichem, (selbst-)bestimmtem Ton den folgenden Absatz vor (ich dachte die ganze Zeit nur »Herrjeh, mach das doch bitte nicht so laut, Du teilst Dir doch das Büro mit dieser anderen Person da am Nachbarschreibtisch, das ist mir ja jetzt schon ein bisschen unangenehm und außerdem fühle ich mich seltsam belehrt hier, was soll das denn eigentlich…?!«): »…Mir ist auch bekannt, dass ich die genannte Erklärung und die Versicherung erst drei Monate nach dieser Anmeldung beim Standesamt anmelden kann. Diese Zeit kann ich dafür nutzen, mir den von mir beabsichtigten Schritt zu überlegen und mir die Bedeutung der Änderungserklärung zu verdeutlichen…« (Hervorhebungen von mir)

»Ist das jetzt wirklich Euer Ernst?!« So denke ich freilich nur. Äußerlich halte ich mein strammes Lächeln – schlicht und glücklich und wohl etwas aufgeregt. Innerlich schließe ich die Augen, zitiere Kate Bornstein in ihrem Text für das 32. Objekt der von David Evans Frantz, Christina Linden und Chris E. Vargas herausgegebenen Trans Hirstory in 99 Objects (2024). Das ist die Laverne Cox covernde Time-Ausgabe vom 9. Juni 2014 mit der Headline »The Transgender Tipping Point«. Den Text dazu hat eben jene wunderbare Kate Bornstein verfasst und er veranschaulicht treffend die Unterscheidung zwischen Sex und Gender und auch die Infragestellung bis hin zur Auflösung dieser sinnlosen Dichotomie:

»Sex. For thousands of years, biological sex was the playing field – or the battleground – of humanity. Some aspect of bio sex has always been the basis of who’s assigned male and who’s assigned female. And it was an iron-clad law that once assigned a sex, you could never change, or so we have been told. Well, over time and here and there, some of us said no. Then more and more of us said NO, and gender identity was born: I am not what I’ve been assigned. I am what I know myself to be, and I alone define myself for me. […] It’s our tipping point and we say: trans men are men, trans women are women – no matter our genitals, the makeup of which is none of your business – not now, not at the time of our birth. It’s our tipping point and we are embodying our authentic selves. […] It’s our tipping point and we say: keep your laws off my body. Biology is not destiny. […] It’s been nearly a decade and now there’re more trans identities knocking on America’s door. Our next tipping point will ask you to unleash your imagination. Male and female? Man and woman? What’s coming is so much more than that and a whole lot less. Some of us are neither men nor women – we are nonbinary or genderqueer, agender, gender nonconforming, or gender fluid. And darling, we are tipping. My pronoun might be they or them, or hir, or ze, or zhem – I could be they and she or they and he. Hell, our pronouns might change every other day, and some of us don’t give a flying fuck about pronouns. […] Oh, and marriage? Well, can a polyamorous pod of four get married? No? Honey, we are the nightmare. […] Oh, and there is so much more. Transgender, thy name is legion. […] The third wave tipping point is gonna say that our genders and sexualities are simply ribbons of joy and possibility that begin with our birth and end with our death. Our pronouns are any, all, and none of them, depending on where and when we are. Our genitals? Oh darling, we fuck with every inch of our bodies. We are the queerest of the queer, we are tipping fast, and you are gonna fall head over heels in love with us.« (Bornstein 2024: 101)

Ich lächle diese freundliche Amtsperson, die mir gegenübersitzt, an, ich lächle sie weg, ich formuliere in Gedanken bereits diesen Blogbeitrag und denke u.a. an all die ungewollt schwangeren Personen, die sich eine aufgenötigte Bedenkzeit und ärztliche Beratung angedeihen lassen müssen. (Das erscheint mir viel problematischer als die Bedenkzeit, die ich zu absolvieren habe.)

Indem ich das Selbstbestimmungsgesetz in Anspruch nehme und eine der offiziell verfügbaren Kategorien wähle, füge ich mich notgedrungen in das von Anderen definierte Vokabular, wähle ich lediglich den in meinen Augen für mich besten Platz in einem vorgegebenen Rahmen. Die offizielle Anerkennung meiner Person ist allein innerhalb dieses Skripts zu erwarten. Nicht, dass ich divers für richtig oder gar ideal halte – aber für mich persönlich ein kleines Stück weit besser als (allein) weiblich oder männlich. Aber das liegt auch daran, dass ich für mich die Entscheidung getroffen habe, das, was offiziell als meine Identität gilt, ein Stück weit zu politisieren. Damit meine ich, dass, auch wenn ich der Ansicht bin, dass diese Kategorien herzlich wenig mit mir zu tun haben, sie doch für andere Menschen in dieser Gesellschaft von Bedeutung sind. Ich habe mich dazu entschieden, dieses (Sprach-)Spiel der offiziellen Definition von Identität mitzuspielen. Um für Sichtbarkeit zu sorgen. Am Liebsten aber wäre es mir, wenn ich an der Stelle nichts stehen hätte. Denn ein Nichts ermöglicht zugleich die theoretische Leugnung der Behauptung, dass Geschlecht und Identität überhaupt etwas miteinander zu tun haben – weil »some of us don’t give a flying fuck about pronouns.« Zugleich stellt ein Nichts den inklusivsten und offensten Raum dar – »[t]ransgender, thy name is legion.«

Meinen Platz habe ich mir wie folgt ausgesucht: Ab spätestens November 2024 ist es Toni (divers)– keine Pronomen; they/them; Neopronomen Eurer Wahl.

*

Zu guter Letzt meint mein liebenswertes Amtsgegenüber noch, dass sie zum aktuellen Zeitpunkt leider noch keine Aussage darüber treffen könne, wie hoch die Gebühren ausfallen würden. »Vielleicht sind es nur die für Namensänderungen üblichen 40€, vielleicht ist es auch gebührenfrei…«. So sinniert die freundliche Amtsperson vor sich hin. Ich unterbreche sie lachend mit den Worten: »Nun, da ich ja jetzt offiziell drei Monate Zeit habe, um mir über die Tragweite meiner Änderungen Gedanken zu machen, ist es doch nur rechtens und billig, dass auch der Staat drei Monate Zeit erhält, sich darüber klar zu werden, was er sich das kosten lassen möchte, dass ich mir Gedanken mache.« (»Schade nur, dass die drei Monate für alle später den Antrag stellenden Personen noch genauso gelten werden, selbst dann, wenn sich der Staat über seine Gebühren längst ausgekäst hat…« So füge ich gedanklich hinzu.)

Sie lacht auch. Zum ersten Mal heute bin ich mir nicht sicher, ob sie es ernst meint.


Prof. Dr. Toni (Janina) Loh ist Professor:in für Angewandte Ethik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg an.