Vernunft inmitten des Kampfplatzes der Welt – Zur unabgegoltenen Hoffnung der kantischen Idee von Emanzipation

Gregor Schäfer (Universität Basel/University of London) –


Als das Ideal eines gegenüber allen unbegründeten Anmaßungen kritischen Denkens und einer praktisch in weltbürgerlicher Absicht wirksamen Selbstbestimmung mündiger Menschen hat die Aufklärung in Kants Werk ihren bedeutsamsten philosophischen Referenzpunkt. Blickt man indes den heutigen Weltzustand an, hat die Diagnose durchaus einige Plausibilität, dieses Ideal der Aufklärung sei gescheitert oder befinde sich zumindest in einer tiefen Krise. Die These, dass das menschliche Geschlecht „im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde“i, mag spätestens nach dem 20. Jahrhundert als hoffnungslos naiv zurückgewiesen werden. Der Wahlspruch der Aufklärung, „habe den Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“,ii mag angesichts der objektiven Übermacht einer kulturindustriellen (Schein-)Öffentlichkeit, die, wie Horkheimer und Adorno es kritisierten, „Aufklärung als Massenbetrug“ betreibt, als ideologisch oder gar in eine eigentümliche „Dialektik der Aufklärung“ verstrickt erscheinen.iii In dieser letzteren Linie mögen, im Lichte neuerer Diskussionen, das Projekt der Aufklärung und der mit ihm verbundene Universalismus schließlich überhaupt als Ausfluss partikularer europäischer Herrschaftsverhältnisse verdächtigt werden.

Als einer der augenfälligsten Aspekte dieses Scheiterns oder dieser prekären Situation zeigt sich – zumindest aus einer europäischen Perspektive: allerspätestens heute wieder – die Permanenz von Kriegen als eine das Weltgeschehen bestimmende Realität (– eine Realität, die das Weltgeschehen, global, in Wirklichkeit freilich nie verlassen hat). Bereits im Ausgang des I. Weltkriegs, mit der Gründung des Völkerbundes (1920), und im Ausgang des II. Weltkriegs, mit der Gründung der UN (1945), verbanden sich in Anlehnung an Kants Philosophie die Hoffnungen, ein internationales Bündnis zwischen den Staaten zu stiften, das eine kosmopolitische Friedensordnung – das Ideal des ewigen Friedens – durch „den Zustand eines öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung wirklich […] machen“iv und im institutionellen Medium dieses Rechtszustands den moralischen Fortschritt der Menschheit befördern könnte. In beiden Fällen konnten diese Institutionen Kriege – im Falle des Völkerbundes sogar einen weiteren Weltkrieg – nicht verhindern, ohne dass dadurch die zivilisatorischen Errungenschaften der UN bestritten werden dürften. Denn zweifelsohne haben sie „sowohl auf diplomatischem Weg als auch mit ihren Friedensmissionen immer wieder dazu beigetragen, dass Kriege verhindert oder beendet wurden, und so den Frieden zumindest lokal und vorübergehend gesichert“v. Kriegszeiten aber, wie sie das Weltgeschehen bestimmen, sind in zugespitzter Weise Zeiten, in denen die Autonomie der Vernunft als kritisch ausweisbarer Anspruch auf universelle, generalisierbare Wahrheit und ein ihr entsprechendes selbstbestimmtes Handeln in der Welt keinen Ort haben. Statt in das allgemeine „Publicum“, in die „Weltbürgergesellschaft“ einzutreten, werden hierbei tendenziell alle geäußerten Argumente von der technokratisch-opportunistischen Funktionalität jeweiliger nationaler Staatsräson vereinnahmt und an deren Maßstäben gemessen. Wer immer sich äußert, wird, nolens volens, von den Interessen der kriegsführenden Seiten instrumentalisiert. An die Stelle eines – in Kants Terminologie – „öffentlichen Gebrauchs“ der Vernunft tritt damit deren „Privatgebrauch“, das heißt deren in den „Mechanism“ partikularer Interessen eingebundene Nützlichkeit.vi Angesichts der vorherrschenden empirischen Realität des partikularen Weltzustands setzt sich das vernünftige Ideal des kantischen Universalismus mithin dem Vorwurf der Wirkungs- und Machtlosigkeit, des Formalismus, der bloßen Utopie aus.

Nun hat aber in Kants Konzeption die Forderung nach einem den Frieden ermöglichenden weltbürgerlichen Rechtszustand eine zwingende transzendentale Begründung. Sie ist darin nicht irgendwelchen pragmatischen oder utilitaristischen Erwägungen oder besonderen Rechten geschuldet, sondern basiert auf dem apriorisch begründeten, von allen empirischen Institutionen und Kontexten unabhängigen „Recht der Menschenvii. Sie ergibt sich – „als ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz“viii – in der systematischen Konsequenz der unbedingten und universellen Geltung des Sittengesetzes: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ix Ein solches unbedingtes moralisches Handeln der Vernunft ist nur als regulatives Ideal möglich. Ihm kann – unmittelbar, sinnlich – keine, als solche immer nur bedingte, Realität entsprechen. Es ist gerade diese Einschränkung der Vernunft auf ein regulatives Ideal und die damit implizierte Trennung von Vernunft und Wirklichkeit, gegen die sich der nach-kantische Idealismus wendet – ohne hiermit indes Kants systematisch-methodisch geleiteten kritischen Anspruch zugunsten einer vor-kantischen dogmatischen Metaphysik preiszugeben (sondern im Gegenteil: um die kritische Reflexion konsequent weiterzuführen). Hegels programmatischer Satz, dass, was vernünftig ist, wirklich ist, und was wirklich ist, vernünftig ist, gibt auf diese Problemlage eine Antwort.x Indes finden sich bei Kant selbst schon die Spuren eines – gegenüber einer dualistischen Trennung – spannungsvollen Verhältnisses zwischen Idealität und Realität: Die Philosophie selbst ist nicht einfach abstrakt außerhalb der Welt situiert, sondern gründet auf einem „Weltbegriff (conceptus cosmicus)“, der ihrem bloßen „Schulbegriff“ „jederzeit zum Grunde gelegen hat“xi. Ihrem Geschäft wohnt damit, inmitten der Welt und ihrer Konflikte, Krisen und Widersprüche, ein dezidiert auch sozial und politisch zu verstehendes kritisches Potential, eine polemische Dimension inne – Kant spricht von einem „Kampfplatz“xii der Metaphysik. Der Fortschritt hin zum Bessern ist entsprechend per se ein umstrittener und prekärer, herausgefordert – gerade in seinem unbedingten Anspruch – von der Möglichkeit von Fehlschlägen und Rückschlägen.xiii Es handelt sich bei dem Ideal des ewigen Friedens nicht bloß um eine „leere Idee“xiv: Der vernünftige Fortschritt vollzieht sich – wie Kant es im Blick auf die späteren Dialektik-Konzeptionen des Deutschen Idealismus richtungsweisend entfaltet – gerade als solcher nur durch einen realen „Antagonism“xv hindurch.

Es gibt, so bemerkt Ernst Bloch zu diesem konstitutiven Spannungsverhältnis zwischen Realem und Idealem bei Kant, ein „Unabgeschlossenes“, das – über Kants historische Philosophie und über schulphilosophische Interessen (neu-)kantianischer Rezeptionen hinaus, die, entgegen einem hermeneutischen Vorschlag Fichtes, mehr am Buchstaben, weniger am Geist von Kants Philosophie interessiert sind – weitere Fortbestimmungen dieser Philosophie einfordert: „Der Philosoph, der das Tor zur klassischen deutschen Philosophie bildet, hat in seinem Weltbild ebenso die Künftigkeit offen gehalten, das Dasein nicht geschlossen.“xvi Es bedarf aus dieser Perspektive nur einer geringen Verschiebung, um mit Kants Philosophie inmitten der bestehenden Welt eine emanzipatorische Kraft zu entfalten, die die Partikularität und die Antagonismen dieser Welt, den sie strukturierenden Widerspruch zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Universalität und Partikularität, zugleich sichtbar macht und über sie hinausweist. Die mit Kants Philosophie emphatisch geltend gemachte Verallgemeinerung – ihr „Pathos des Novum und Ultimum“xvii – hat in den Formen und Institutionen der bestehenden Welt konstitutiv keinen Platz und markiert in ihr als bleibende Herausforderung ebendeshalb eine offen bleibende Leerstelle: „Denn keinerlei privater Vorteil auf Kosten der allgemeinen Gesellschaft hat in […] der Maxime und Gesetzgebung [des kategorischen Imperativs] ein Recht. Vielmehr wirkt der kategorische Imperativ fast wie ein Optativ, ja wie eine Antizipationsformel hin zu nicht-antagonistischer Gesellschaft, […] in der überhaupt erst wirkliche Allgemeinheit moralischer Gesetzgebung möglich ist.“xviii

Der damit angesprochene Optativ ist kein der Realität machtlos gegenüberstehender Wunsch, sondern beschreibt eine der vernünftigen Idee konstitutiv, als das „Interesse der Menschheit“xix, eingeschriebene Tendenz: eine dem „Factum der reinen Vernunft“xx performativ einwohnende, an Emanzipation interessierte und für deren Kämpfe Partei ergreifende Hoffnung, die gerade als solche wirklichkeitskonstitutiv, gegenständlich-tätig ist; gleichsam ein ontological-ethical commitment des erkennenden und handelnden Subjekts, vermittelst dessen dieses in der Welt überhaupt erst erkennen und handeln kann. Wo immer wirkliche kritische Reflexion statthat, ist die inmitten des Kriegszustands der Welt verstellte Perspektive des Friedens präsent – nicht als eine Garantie (denn Hoffnung ist, wie Bloch es betont, keine Zuversicht), aber als eine im Vollzug kritischen Denkens und Handelns eröffnete Möglichkeit. Eine in diesem Zusammenhang auch von Bloch zitierte Stelle aus Kants Die Träume eines Geistersehers dürfte für diese emanzipatorische Denkfigur aufschlussreich sein:

„Ich finde nicht, daß irgend eine Anhänglichkeit, oder sonst eine vor der Prüfung eingeschlichene Neigung meinem Gemüthe die Lenksamkeit nach allerlei Gründen für oder dawider benehme, eine einzige ausgenommen. Die Verstandeswage ist doch nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, der die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen Vortheil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Speculationen von an sich größerem Gewichte auf der anderen Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann, und die ich in der That auch niemals heben will.“xxi


Gregor Schäfer schrieb seine Dissertation zu Hegel an der Universität Basel, wo er auch als Lehrbeauftragter tätig war. Bis im Sommer 2025 ist er Fellow an der School of Advanced Study an der University of London. Er forscht und publiziert insbesondere zur klassischen deutschen Philosophie, Geschichte und Systematik der Metaphysik und spekulativen Denkens, Ästhetik und politischen Philosophie. In seinem angehenden Postdoc-Projekt beschäftigt er sich mit der „Realisierung des Idealismus“ bei Fichte und Hegel.


i Immanuel Kant: Der Streit der Facultäten, in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe = AA). Hrsg.: Bde. I-XXII: Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin (u.a.) 1900ff., hier: AA VII, 88.

ii Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: AA VIII, 35.

iii Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1981, 141-191.

iv Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden, in: AA VIII, 386.

v Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens. München 2023, 45.

vi Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, a.a.O., 37f. Es würde, so ein von Kant angeführtes Beispiel, „sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden als Gelehrter über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publicum zur Beurtheilung vorzulegen.“ – Sofern der neuzeitlich-moderne Staat sich als Schutzmacht gegen den Kriegszustand begründet, folgt er – wie es in Hobbes’ Leviathan unverblümt heißt – entsprechend per se dem Grundsatz „authoritas, non veritas, facit legem“ (Thomas Hobbes: Opera Philosophica, vol. I. London 1841, 202). Wahrheitsfähig ist der Staat, mit Kant, nur als „platonisches Ideal“, als „respublica noumenon“ (Kant: Der Streit der Facultäten, a.a.O., 91).

vii Hans Friedrich Fulda: Begriff und Begründung der Menschenrechte. Im Ausgang von Kant, Frankfurt a.M. 2024, 26.

viii Kant: Der Streit der Facultäten, a.a.O., 88.

ix Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV, 429.

x Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, 1, hrsg. v. d. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg 2009, 14. Zu Recht macht Adorno darauf aufmerksam, dass gerade hiermit Hegel das Erbe der Aufklärung fortführt, sofern die damit angesprochene Vernunft nur in Konstellation mit Freiheit, Selbstbestimmung, zu denken ist (Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1970, 288).

xi Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: AA IV, A 839, B 867.

xii Ebd., A VIII.

xiii Kant: Der Streit der Facultäten, a.a.O., 88: „Aber wenn der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck auch jetzt nicht erreicht würde, wenn die Revolution oder Reform der Verfassung eines Volkes gegen das Ende doch fehlschlüge, oder, nachdem diese einige Zeit gewährt hätte, doch wiederum alles ins vorige Gleis zurückgebracht würde …, so verliert jene philosophische Vorhersagung doch nichts von ihrer Kraft.“

xiv Kant: Zum Ewigen Frieden, a.a.O., 386.

xv Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: AA VIII, 20.

xvi Ernst Bloch: „Zweierlei Kant-Gedenkjahre“, in: Werkausgabe, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1985, 442-460, hier: 459.

xvii Ebd. – Domenico Losurdo spricht von einem „Pathos der Allgemeinheit“, das bei Kant innerlich mit dem Epochen-Ereignis der Französischen Revolution verbunden ist – siehe Domenico Losurdo: Immanuel Kant. Freiheit, Recht und Revolution, Köln 1987.

xviii Bloch: „Zweierlei Kant-Gedenkjahre“, a.a.O., 458.

xix Kant: Der Streit der Facultäten, a.a.O., 88.

xx Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: AA V, 31.

xxi Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: AA II, 349f.


Titelbild Linzenshinweis: Dietmar Rabich, Dülmen, Hausdülmen, Friedenstaube an einem Wohnhaus — 2022 — 1450, CC BY-SA 4.0