Von Bauklötzen und Realisten

Von Karl Kühne (Aachen)



Vermutlich haben die meisten Menschen in ihrer Kindheit mit Bauklötzen gespielt. Egal, ob sie aus Holz, aus Plastik oder rein digital bestanden, eine Eigenschaft teilten sich jene Bausteine: Sie sind Quader mit Ecken und Kanten. Eine besondere Herausforderung ergab sich daraus, wenn versucht wurde, ein rundes Gebäude zu errichten. Der Bau eines perfekten Kreises war praktisch unmöglich, da die realen geometrischen Voraussetzungen dies verhinderten. In der Perspektive war die kindliche Lehre der Bauklötze schmerzhaft: Du darfst kreativ sein, aber nicht träumen. Die realen Prämissen setzen deiner Kreativität Grenzen. Sei kein Idealist, sondern achte auf die praktische Umsetzbarkeit deiner Vorstellungen gemessen an den Gegebenheiten! Jene Lehre haben die meisten anscheinend verinnerlicht, es sei denn, sie sind in der politischen Theorie tätig geworden, denn genau das ist ihr Problem: Die politische Theorie hat vergessen, was es bedeutet mit Bauklötzen zu spielen. Statt auf die praktische Umsetzbarkeit und Diskursfähigkeit ihrer Vorstellungen zu achten, hat sie es sich zum Ziel gemacht, Ideale zu definieren, die dem verzweifelten Versuch gleichen, einen perfekten Kreis aus Quadern zu bauen. Damit verliert sie den Blick für die lebenswirklichen ‚Ecken und Kanten‘ der Unvollkommenheit des Menschlichen. Die Anerkennung und Analyse der realen Prämissen wird ersetzt durch den Auftrag, die Bausteine so zu formen, dass sie der denkerischen Kreativität keine Grenzen mehr setzen. Dieses Projekt kann realistischerweise nicht gelingen. Es scheint die Notwendigkeit eines politischen Realismus zu begründen, der seine Aufgabe darin finden muss, die Lehre der Bauklötze in das Bewusstsein des wissenschaftlichen Austauschs zu rufen und daran zu erinnern, dass die Quadratur des Kreises eine unlösbare mathematische Aufgabe ist.

Die Farce vom idealen Diskurs     
Sinnbildlich für die herausragende Relevanz des Ideals in der politischen Theorie ist unter anderem die gängige Diskursvorstellung von Jürgen Habermas. Der ‚eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments‘, der sich in der idealen Sprechsituation entfaltet, ist Ausdruck dessen, was allgemein unter vernünftig verstanden wird (vgl. Habermas 1995: 47). Die Bedeutung dieser theoretischen Einsicht besteht nicht nur in der Bestimmung der Voraussetzungen optimaler Rationalität, sondern ebenso in ihrem fundamentalen Beitrag zur Entwicklung deliberativer Demokratietheorien. Die lebensweltliche Evidenz des durch die Vernunft motivierten ‚zwanglosen Zwangs‘ lässt sich kaum überzeugend leugnen. Seine diskurstheoretische Systematisierung legt jedoch ein symptomatisches Problem der politischen Theorie offen, das sich erst im Rahmen der theoretischen Fruchtbarmachung herausbildet. Diese schlägt sich in einer normativen Idealisierung nieder, deren Prägnanz kaum deutlicher wird als in Habermas’ Gebrauch des Begriffs ‚kontrafaktisch‘ (vgl. Habermas 1998: 18). Konkret benötigt die ideale Entfaltung des ‚zwanglosen Zwangs‘ Bedingungen, die in der Realität nie vorherrschend waren und auch nicht sein werden. Es kommt zur Entkopplung von der Lebenswelt.    
Folglich ist es Habermas’ Konzept der idealen Sprechsituation und des herrschaftsfreien Diskurses, das realistische Kritik verlangt. Es offenbart zwar ein Bewusstsein für den starken Einfluss von Machtstrukturen auf die Glaubwürdigkeit und die Rationalität, ignoriert diesen aber zugleich, indem der herrschaftsfreie Raum theoretisch postuliert wird. Selbstverständlich verweist Habermas mit der Kontrafaktizität darauf, dass die ideale Sprechsituation als Rahmen optimaler Rationalität in den unvollkommenen Verhältnissen der Realität nicht existiert:

„Nun sind die allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen wegen ihres starken idealisierenden Gehalts nicht leicht zu erfüllen. Rationale Diskurse haben einen unwahrscheinlichen Charakter und heben sich wie Inseln aus dem Meer der alltäglichen Praxis heraus.“ (Habermas 1991: 162)

Realistischerweise müsste Habermas aufgrund jener Beobachtung schlussfolgern, dass der reale Diskurs kein guter Weg ist, um rationale Lösungen zu produzieren, wenn der Zwang des besseren Arguments nur im herrschaftsfreien Raum optimale Rationalität erzeugt. Offenkundig kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass kontrafaktische Beziehungen der Machtfreiheit jemals existieren. Habermas könnte ebenfalls die Frage aufwerfen, ob es die gegebenen Bedingungen überhaupt zulassen, optimale Rationalität zu erreichen und als Entscheidungsmaßstab im gesellschaftlichen Konflikt zu etablieren. Das alles macht er nicht. Vielmehr verlangt er eine Idealisierung des realen Diskurses mithilfe der Einführung einer normativ gehaltvollen Handlungstheorie, welche von vornherein den kommunikativen Idealen einen Vorzug einräumt (vgl. Habermas 1995: 384ff.). Letztendlich verharrt die ideale Sprechsituation nicht im Status des Rationalitätsgebots, sondern wird durch die Notwendigkeit gleichberechtigter Berücksichtigung aller Betroffenen zum normativen Gerechtigkeitsgebot transformiert. Spätestens an dem Punkt ist die Machtfreiheit als konstitutive Voraussetzung konzipiert und mündet in einem Imperativ, der mit etwas Polemik wie folgt umrissen werden kann: ‚Diskursteilnehmer, vergesst eure menschlichen Interessen und den eigenen Status der Macht, um meinem Ideal zu folgen und es zu verwirklichen!‘ Deshalb ist die Harmonie zwischen fairem Austausch und rationalem Ergebnis unrealistisch: Sie offenbart die Forderung, dass die Rahmenbedingungen, die Habermas nicht berücksichtigte, nun seiner idealen Theorie folgen sollen.

Die Grenze des politischen Denkens         
Hier muss eine realistische Kritik des politischen Denkens ansetzen. Neben einer starken Abstraktion von der Lebensrealität ruft insbesondere der weitergehende Versuch, die natürlichen Gegebenheiten der Theorie gefügig zu machen, Befremdlichkeit im Realisten hervor. Jenes Vorgehen steht im Konflikt mit einer der Grundregeln des Realismus. Bekanntlich war es Niccolò Machiavelli, der feststellte, dass es die Kunst des politischen Denkens sei, funktionierende Ordnung unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu schaffen:

„Alle, die über Politik schrieben, bewiesen es, und die Geschichte belegt es durch viele Beispiele, daß der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, daß alle Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben.“ (Machiavelli 2007: 16)

Der Satz verkörpert mehr als eine pessimistische Anthropologie. Er beinhaltet die Erkenntnis, dass die politische Theorie lernen muss, mit unliebsamen, aber unveränderlichen Voraussetzungen umzugehen. Diese Einsicht bildet den Hintergrund dessen, was Bernard Williams als die ‚erste politische Frage‘ nach Thomas Hobbes bezeichnet: Wie ist in Anbetracht von Konflikt, Eigeninteresse und Irrationalität in der Politik eine stabile Ordnung möglich (vgl. Williams 2008: 3f.)?   
Ideale Theorie ist im Gegensatz dadurch motiviert, Perfektion dort zu erreichen, wo sie faktisch unmöglich ist. Da dieses Unterfangen an reale Grenzen stoßen muss, bedarf die Realisierung eines Ideals immer der Veränderung von Prämissen – im Notfall durch die Formulierung eines Erziehungsauftrags. Für den Realismus erscheinen die Prämissen hingegen als natürlich gegeben. Das Erreichen der Perfektion eines Ideals ist damit nichts weiter als eine theoretische Spielerei. Der Realist lebt in dem stetigen Bewusstsein, dass gewisse Prinzipien und Dilemmata – es sei dabei an Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit gedacht – nicht zur gesellschaftlichen Vollkommenheit geführt werden können. Dementsprechend ist der realistische Protest die Artikulation dessen, was ich eingangs als die schmerzhafte Lehre der Bauklötze bezeichnete: Die Grenzen der Theorie liegen in realen Prämissen begründet.  
Folglich existiert die eigentümliche Annahme, dass es unabänderliche Rahmenbedingungen gibt, von denen nicht abstrahiert werden darf, damit die politische Theorie einen realen Mehrwert hat. Zu Recht sollte an dem Punkt gefragt werden, welche Bedingungen das sind und was sie unveränderlich macht. Auch wenn in der Kürze keine umfassende Antwort erfolgen kann, will ich erste Gedanken dazu präsentieren: Hans-Jörg Sigwart stellt fest, dass der Realismus einen Blick auf den, wie er es nennt, „[…] basic fact of conflict and disagreement as the natural conditions [eigene Herv.] of the social life of human beings whose actions are predominantly driven by selfinterest and irrational passions […]“ hat (Sigwart 2013: 410). In Anbetracht des Zitats von Machiavelli lässt sich diese Beobachtung zur realistischen Anthropologie bestätigen. Zugleich ist mit Fokus auf das soziale Zusammenleben ebenjener herausragende Einfluss von Machtstrukturen zur Strukturierung der gesellschaftlichen Beziehung zu nennen, den Habermas‘ ideale Sprechsituation auslöschen muss.

Der Wert des Ideals
Offen bleibt allerdings, ob die realistische Kritik nicht die wahren Gründe für Idealismus übersieht. Ein begründetes Ideal kann eine funktionale Rolle in der Lebenswirklichkeit übernehmen. Bekanntlich versucht die politische Theorie selten platonische Gestaltungsmacht für sich zu proklamieren. Vielleicht ist es in Anlehnung an John Rawls ihr Auftrag, der Gesellschaft Grundideen und Ideale zu präsentieren, die nicht realisierbar sein sollen, sondern primär der Strukturierung kultureller Debatten dienen (vgl. Rawls 2012: 27f.)? Damit bestünde die Aufgabe des Ideals gar nicht in seiner Realisierung, sondern in der Klärung von Bedeutungsinhalten und dem Schaffen eines Maßstabs für Kritik. Darüber hinaus präsentiert es einen kollektiven Sinn, den es anzustreben gilt. Gerade dieser Funktion wird das resignierte Urteil des Realisten nie genügen können. Machiavelli schien das zu wissen und riet dem erfolgreichen Fürsten:

„[E]r muß es wie die klugen Bogenschützen machen: wenn ihnen der Ort, den sie zu treffen beabsichtigen, zu weit entfernt erscheint, weil sie wissen, wie weit die Kraft ihres Bogens trägt, so setzen sie das Ziel beträchtlich höher an als den dazu bestimmten Ort, nicht um mit ihrem Pfeil in solche Höhe zu gelangen, sondern um mit Hilfe eines so hohen Ziels ihren Zweck zu erreichen.“ (Machiavelli 1986: 41)

Das Zitat drängt den Verdacht auf, dass der gezielte Einsatz von Idealen insbesondere für den Realisten vonnöten sein kann. Letztendlich ist er derjenige, der die frustrierende Unerreichbarkeit gewisser Ziele adressiert und um die Herausforderungen der menschlichen Natur weiß. Dennoch bleibt es im Hinblick auf die ‚erste politische Frage‘ sein Anliegen, unter denkbar schlechten Voraussetzungen die bestmögliche Ordnung zu schaffen. In dem Bewusstsein liegt der Mehrwert des Realismus für die politische Theorie begründet. Jene realistische Fragestellung erscheint gegenüber der Definition bestimmter Ideale als die schwierigere Aufgabe. Bekanntlich ist es immer noch das einfachere Unterfangen, sich ein rundes Gebäude vorzustellen, als ein Konstrukt aus nicht zusammenpassenden Quadern mit Ecken und Kanten, welches näherungsweise ein rundes Aussehen erhalten soll.
Im realistischen Verständnis erhält die politische Theorie folglich den Auftrag, eine Bewältigungsstrategie für den Schmerz zu präsentieren, der aus der Enttäuschung über die objektiven Umstände der Lebenswirklichkeit resultiert. Diesen mithilfe eines theoretischen Idealismus zu verdrängen, kann keine tragfähige Lösung darstellen. Politisches Denken muss den Weltschmerz kanalisieren. Dies ist die Pointe des realistischen Denkens: Politische Theorie darf nicht zu einer institutionalisierten Form der Realitätsverweigerung verkommen. Damit verbunden ist das Bewusstsein darüber, dass die Konstruktion perfekt runder Gebilde häufig eine vergebliche – wenn auch nützliche – Illusion ist. Will politische Theorie ein realistisch-utopisches Verfahren nach Rawls sein, müssen gewisse reale Grenzen ausgehalten werden.


Karl Kühne ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der RWTH Aachen. Er studierte Politikwissenschaft mit einem Schwerpunkt auf Politische Theorie ebenfalls an der RWTH. Im Rahmen seiner von Prof. Dr. Hans-Jörg Sigwart betreuten Masterarbeit, untersuchte er prozedurale Begründungsmethoden im politischen Denken von John Rawls und Jürgen Habermas.