
Was ist falsch an Social Justice (ZDPE, Heft 1/25)? – Eine Replik
Von Frank Brosow (Ludwigsburg) und Markus Tiedemann (Dresden)
Vor einigen Wochen erschien bei praefaktisch.de ein Blogbeitrag, der sich unter dem Titel „Eine Ausgabe, viele Fragezeichen“ (EAVF) kritisch mit Ausgabe 1/25 der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE) zum Thema Social Justice auseinandersetzt. Die Redaktion von praefaktisch.de hat uns gebeten, eine Replik auf diese Kritik zu verfassen. Dieser Einladung kommen wir mit diesem Beitrag gerne nach.
Worum geht es nicht?
Gerechtigkeit ist ein komplexes Konzept. Wie alle sozialen Normen entstand es in tribalistisch organisierten Gruppen und fand zunächst nur innerhalb dieser Gruppen Anwendung. Mit dem Aufkommen der Philosophie und insbesondere der philosophischen Ethik formte sich Gerechtigkeit zusehends als ein Zusammenspiel von Individualismus und Universalismus heraus. Gerechtigkeitsnormen schützen Individuen und behandeln alle Menschen gleich, sofern sich Individuen oder Situationen nicht durch Eigenschaften unterscheiden, durch die eine Vergleichbarkeit der Fälle nicht mehr gegeben ist. Der doppelte Anspruch, einerseits Gleiches gleich und anderseits Ungleiches ungleich zu behandeln, macht Abwägungen nötig. Je nachdem, an welchen Kriterien Gleichheit und Ungleichheit gemessen werden, kann eine individuelle Handlung oder eine soziale Praxis als gerecht oder ungerecht erscheinen. Ein Dissens in Fragen der Gerechtigkeit ist kein hinreichender Beleg dafür, dass einer Seite nicht daran gelegen ist, Gerechtigkeit herzustellen. Der Dissens liegt in der Natur des Diskurses über Gerechtigkeit, da dieser stets ein Abwägen zwischen Aspekten, die Fälle vergleichbar machen, und Aspekten, in denen sich Fälle unterscheiden, erfordert. Im ethischen Diskurs tauschen wir Gründe aus, die für und gegen verschiedene Konzepte von Gleichheit, Ungleichheit und letztlich von Gerechtigkeit sprechen. Unsere Hoffnung wäre, dass langfristig der zwanglose Zwang des besseren Arguments und nicht die Stärke der Emotion oder die Wucht des Vorwurfs über die Qualität einer Konzeption entscheidet. In der Praxis kommt es zu jedem Zeitpunkt zur Koexistenz verschiedener Konzepte von Gerechtigkeit, deren Fundament ein Pluralismus an sorgfältig geprüften, ethischen Theorien bildet. In der letzten Dekade wurde der ethische Diskurs über Gerechtigkeit durch den verstärkten Fokus auf die soziale Perspektive bestimmt. Im Zentrum steht eine nicht neue, aber zuvor zu wenig berücksichtigte Beobachtung: Unter den Bedingungen einer Mehrheitsgesellschaft, deren Interessen regelmäßig die Interessen von Minderheiten überlagern, kann der alleinige Fokus auf die Gewährleistung von Gerechtigkeit für Individuen zu Ergebnissen führen, die hinsichtlich der Gleichbehandlung von Gruppen ungerecht wirken. Das Bemühen um die gerechte Behandlung von Gruppen werden wir im Folgenden mit dem deutschen Begriff soziale Gerechtigkeit bezeichnen. Das Gegenkonzept zu sozialer Gerechtigkeit in diesem Sinne ist nicht soziale Ungerechtigkeit, sondern individuelle Gerechtigkeit, die bisher weitestgehend synonym mit dem Begriff Gerechtigkeit war. Das Konzept der sozialen Gerechtigkeit macht darauf aufmerksam, dass ein Übersehen der Gruppenperspektive die in Fragen der Gerechtigkeit typischen Abwägungsprozesse zwischen Gleichheit und Ungleichheit verzerrt und damit defizitär macht. Die Betonung der Relevanz der sozialen Perspektive im Gerechtigkeitsdiskurs kann vorbehaltlos als ein Fortschritt im ethischen Diskurs bezeichnet werden, solange die damit einhergehende Forderung lautet: ‚Lasst uns zusätzlich zu allem, was wir bisher unter Gerechtigkeit verstanden haben, auch die soziale Perspektive und die Auswirkungen von Gerechtigkeitsnormen auf Angehörige von (benachteiligten) Gruppen in unsere Abwägungsprozesse einbeziehen!‘ Diese Forderung erkennt an, dass sowohl die individuelle als auch die soziale Gerechtigkeit sinnvolle und wertvolle Teile des Konzeptes der Gerechtigkeit im Ganzen bilden. Gleichzeitig macht sie darauf aufmerksam, dass beide Konzepte zueinander in Widerspruch geraten können, was ein rationales Abwägen zwischen ihnen erforderlich macht. Abwägungen sind im wissenschaftlichen und insbesondere im ethischen Diskurs nicht außergewöhnlich, sondern der Normalfall. Wer z.B. eine Kritik oder Replik verfasst, wird dabei zwischen Ehrlichkeit und Höflichkeit abwägen und übernimmt die persönliche Verantwortung für das Ergebnis dieser Abwägung. Im ethischen Diskurs herrscht weitreichende Einigkeit darüber, dass so unterschiedliche und einander widersprechende Theorien wie die Tugendethik, der Kontraktualismus, die Moral-Sense-Philosophie, die deontologische Ethik und der Utilitarismus sinnvolle und wertvolle Beiträge zum ethischen Diskurs leisten. Als Philosophierende und Handelnde beachten wir die von diesen Theorien betonten Aspekte und wägen sie gegeneinander ab. Fast immer ist mehr als eine Lösung für ein ethisch-moralisches Problem so gut begründbar, dass ihre Umsetzung auch von denjenigen als verantwortungsvolle Entscheidung akzeptiert werden kann, die sich aufgrund abweichender Prioritäten selbst anders entschieden hätten. Ansätze, die soziale Gerechtigkeit in diesem Sinne als wertvolle Erweiterung der Abwägungsprozesse über Gerechtigkeit verstehen, werden wir im Folgenden als Typ-A-Ansätze bezeichnen. Diese Diskussionsbeiträge begrüßen wir ausdrücklich.
Worum geht es?
In der Praxis finden sich jedoch auch Theorien sozialer Gerechtigkeit, die wir hier als Typ-B-Ansätze bezeichnen werden. Diese zerfallen in zwei Unterarten.
Typ-B1 vertritt sinngemäß folgende Thesen: ‚Eine Abwägung zwischen sozialer und individueller Gerechtigkeit sollte nicht stattfinden und kann nur verziehen werden, wenn sie kompromisslos zugunsten der sozialen Gerechtigkeit ausfällt. Denn Individualismus und Universalismus sind Irrwege, und Traditionen der Gerechtigkeit, die auf diesen Irrwegen beruhen, liefern keine guten Gründe, vom wahren (d.h. dem sozialen) Konzept der Gerechtigkeit abzuweichen.‘ Jeder Versuch, Gerechtigkeit anders als in Bezug auf Gruppen zu verstehen, ist diesen Ansätzen zufolge falsch und ein unzulässiger Schritt in Richtung Ungerechtigkeit. Typ-B2 spricht sich nicht offen gegen Individualismus und Universalismus aus, sondern vertritt sinngemäß folgende These: ‚Individuen aus der privilegierten Mehrheitsgesellschaft sollten ihre Interessen freiwillig so lange zurückstellen, bis eine reale Gleichverteilung sozialer Privilegien zwischen allen Gruppen erreicht ist. Wo diese Umverteilung nicht freiwillig erfolgt, trifft es zu, dass die Bevorzugung marginalisierter Gruppen gemessen an universellen Gerechtigkeitsnormen gegenüber den betroffenen Individuen ungerecht ist. Der Blick in die Geschichte der Diskriminierung gebietet es jedoch, dass Individuen aus der privilegierten Mehrheitsgesellschaft davon absehen, darauf hinzuweisen, und den Ausgleich historischer Ungerechtigkeit durch Ungerechtigkeit akzeptieren, ohne ihn so zu nennen.‘ In Fragen sozialer Gerechtigkeit wiegt Rücksicht gegenüber benachteiligten Gruppen diesen Ansätzen zufolge schwerer als ein vermeintliches Recht zum Aussprechen von Tatsachen, die sich aus der universalistischen Perspektive beobachterunabhängig als wahr erweisen lassen. Der Unterschied zwischen Typ-B1 und Typ-B2 kann so paraphrasiert werden: Typ-B1-Ansätze halten die Überzeugung, dass soziale Gerechtigkeit individuelle Gerechtigkeit stets aussticht, für wahr im Sinne von zutreffend. Typ-B2-Ansätze wenden hier nicht das Kriterium der Wahrheit an, sondern das Kriterium der sozialen Angemessenheit und halten die Bevorzugung der sozialen Perspektive normativ für geboten. Typ-B2-Ansätzen nach korreliert die Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft mit ihren sozialen Privilegien notwendig mit Resilienz, sodass von Angehörigen der Mehrheit erwartet werden kann, dass sie Kritik in jeder Form akzeptieren und individuelle Benachteiligung zu ihren Ungunsten durch das Einnehmen der sozialen Perspektive für sich selbst und andere als Akt sozialer Gerechtigkeit framen. Die Zugehörigkeit zu benachteiligten Minderheiten korreliert diesen Ansätzen zufolge hingegen notwendig mit Fragilität, sodass die Schonung der Gefühle von Angehörigen benachteiligter Gruppen und die Stärkung ihrer sozialen Position oberste Priorität haben. Individuen aus benachteiligten Gruppen ist es daher nicht zuzumuten, Kritik zu akzeptieren und Benachteiligung zu Ungunsten ihrer Gruppe durch das Einnehmen der individuell-universalistischen Perspektive für sich selbst und andere als Akt individueller Gerechtigkeit zu framen. Mischformen beider Theorien sind häufig. Ihre Gemeinsamkeit liegt im Werben für das pauschale Abrücken von individueller Gerechtigkeit zum Zweck der Gewährleistung von sozialer Gerechtigkeit. Für beide Formen von Typ-B-Ansätzen verwenden wir den englischen Begriff (Critical) Social Justice. Die aktivistische Bewegung, die diese Ansätze populär macht, nennen wir die Social Justice Bewegung. Theorien des Typs B beobachten wir mit Sorge. Ursächlich ist sowohl der Abbau von Standards individueller Gerechtigkeit als auch die Erschwernis der Akzeptanz von Typ-A-Ansätzen, die aufrichtig um eine Versöhnung von sozialer und individueller Gerechtigkeit bemüht sind, statt soziale gegen individuelle Gerechtigkeit auszuspielen. Aus diesen Gründen halten wir ein Heft der ZDPE zum Thema Social Justice für angemessen. Ziel war es, den interdisziplinären Diskurs in seiner Komplexität und Kontroversität darzustellen, die Möglichkeit und Legitimität von konstruktiver Kritik an Typ-B-Ansätzen aufzuzeigen, so die erreichten Standards individueller Gerechtigkeit zu erhalten und gleichzeitig den Weg für soziale Gerechtigkeit im Sinne von Typ-A-Ansätzen zu ebnen.
Heft 1/25 der ZDPE und der Blogbeitrag bei praefaktisch.de
Die Einleitung zu unserem Heft enthält einen Thesenkatalog, mit dem sich bestimmen lässt, welche Aussagen zu Social Justice Ziel unserer Kritik sind. (https://www.ccbuchner.de/clip_code/23125-01) Dies hat mehrere Vorteile. Der Diskurs über soziale Gerechtigkeit vollzieht sich nicht nur in Fachliteratur, Medien und Politik, sondern vor allem im zwischenmenschlichen Gespräch, auch und vor allem im Bildungssektor. Unser Thesenkatalog soll es (im Unterricht und außerhalb des Unterrichts) ermöglichen, einzelne Aussagen aus diesen Gesprächen als Teile einer größeren Argumentationsstrategie im Stil von Typ-B-Ansätzen zu erkennen und Aufmerksamkeit auf ihre kritische Prüfung zu lenken. Unserer Erfahrung nach tragen Personen, die selbst für soziale Gerechtigkeit im Sinne des Typs A eintreten, ihr anschlussfähiges Verständnis von Gerechtigkeit als faires Abwägen zwischen sozialer und individueller Gerechtigkeit auch an die Texte von Personen heran, die wir unsererseits als Vertreterinnen und Vertreter des Typs B lesen. Oftmals schwanken Publikationen zwischen diesen Ansätzen, indem sie stellenweise klar Typ-B1 oder Typ-B2 vertreten, an anderen Stellen jedoch wie Typ-A-Ansätze klingen. Statt uns in Detailfragen der Textexegese zu verlieren, welche konkreten Texten in welchem Grad Typ-B1 oder Typ-B2 zuzurechnen sind, wollten wir den Diskurs bewusst auf die Frage zuspitzen: ‚Wenn eine Theorie nachweislich die meisten oder alle der von uns genannten Thesen vertritt, stimmt ihr uns dann zu, dass diese Theorie dafür mit guten Gründen kritisiert werden kann?‘ Vertreter*innen von Typ-B-Ansätzen sind in der Regel daran zu erkennen, dass sie diese Frage verneinen oder sich um ihre Beantwortung herumdrücken. Um deutlich zu machen, dass wir damit keinen Strohmann konstruieren, haben wir vor allen anderen Beiträgen für das Themenheft einen Artikel eingeworben, der die Argumentationsperspektive von Typ-B-Theorien authentisch vorführen und so stark wie möglich machen sollte. Die ausgewählten Autor*innen verfügten nicht nur über die nötige akademische Expertise, sondern erfüllten hinsichtlich ihrer sozialen Gruppenzugehörigkeiten auch alle in Typ-B-Theorien geforderten Kriterien. Sie waren von Beginn an darüber informiert, dass ihr Beitrag im Rahmen einer kritischen Diskussion des Themas erscheinen würde. Obwohl uns dieser Beitrag bereits 1,5 Jahre vor dem geplanten Erscheinungstermin des Heftes zugesagt wurde und wir auf Bitten der Autor*innen hin die Abgabefrist für das Manuskript um mehrere Wochen verlängert haben, wurde der Beitrag letztlich aus Zeitmangel aufseiten der Autor*innen nicht produziert und konnte zu diesem späten Zeitpunkt bis zur Drucklegung des Heftes auch nicht mehr adäquat ersetzt werden. Diese thematische Lücke ist dem Heft anzumerken, da die übrigen, interdisziplinären Beiträge zum Thema bewusst als Kontrapunkte zu dem als Leitartikel geplanten Pro-Social-Justice-Beitrag konzipiert wurden. Als Herausgeber des Heftes begrüßen wir es daher ausdrücklich, dass der Blogbeitrag bei praefaktisch.de ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des Heftes zumindest einen Teil derjenigen Perspektive nachträglich ergänzt, die eigentlich im Zentrum des Themenheftes hätte stehen sollen. Auch die Wahl des Kriteriums der Wissenschaftlichkeit als Maßstab für den Diskurs über dieses Themenfeld und die Einladung zu einem offenen Diskurs über die Einhaltung dieses Maßstabs begrüßen wir ausdrücklich. Entsprechendes gilt für die Auswahl der anderen zur Kritik herangezogenen Kriterien, die wir für gelungen und konsensfähig halten. Unser Dissens beschränkt sich auf die Frage, wie gut welche Diskursbeiträge abschneiden, wenn sie an diesen und weiteren Kriterien gemessen werden. Dies in einem offenen Diskurs durch die wissenschaftliche Forschungsgemeinschaft entscheiden zu lassen, ist die übliche Vorgehensweise und ganz im Sinne der ZDPE im Allgemeinen und des Heftes 1/25 im Besonderen. Dabei unterscheiden wir zwischen wissenschaftlichen Diskursen innerhalb der Forschungsgemeinschaft durch das Sammeln und Prüfen von Argumenten und dem aktivistischen Diskurs, der weltanschauliche Zustimmung oder Ablehnung zum Maßstab der Qualität der Beiträge erhebt. Würde Heft 1/25 Emotionen wie Verärgerung bei allen Leserinnen und Lesern zuverlässig vermeiden, wäre die behandelte Kontroverse darin unzutreffend abgebildet. Wir halten es für plausibel, davon auszugehen, dass so gut wie alle Beiträge zum Themenfeld Social Justice in der einen oder anderen Weise einem Bias unterliegen. Zumindest uns sind keine Publikationen bekannt, von denen sowohl diejenigen, welche die in unserer Einleitung aufgezählten Thesen vertreten, als auch diejenigen, die sie kritisieren, übereinstimmend sagen, dass es sich um Diskursbeiträge ohne Bias handelt. Die Beiträge aus Heft 1/25 nehmen wir davon keineswegs aus. – Den kritischen Blogbeitrag zu Heft 1/25 auf praefaktisch.de ebenfalls nicht. Solange es nicht möglich ist, ein Themenheft mit in dieser Weise unparteiischen Beiträgen zu füllen, ist die nächstbessere Option, alle Seiten mit ihrem jeweiligen Bias gleichermaßen in den kontroversen Diskurs einzubeziehen. Dies war die Strategie bei der Planung von Heft 1/25. Aufgrund des nicht gelieferten Beitrags ließ sich diese Strategie nicht so umsetzen, wie wir uns das als Heftherausgeber gewünscht hatten. Dass der Diskurs, der durch das Heft angestoßen wurde, in Form des Blogbeitrags bei praefaktisch.de nachträglich um diese Perspektive erweitert wurde, freut uns, auch wenn der Duktus des Beitrags erstaunt.
Modus und Kontext des Diskurses
Wir hoffen klargemacht zu haben, dass wir kein Interesse daran haben, einen Teil der Ansätze aus dem Diskurs auszuschließen oder zu verdrängen, sondern unser Vertrauen auf den offenen Austausch und das Urteilsvermögen der Mitglieder der philosophischen Forschungsgemeinschaft setzen. Damit diese sich ein korrektes Bild machen können, sind einige Worte zu den Umständen nötig, unter denen das Heft, der Blogbeitrag und diese Replik entstanden sind. Der Planung von Heft 1/25 gingen mehrere Lehrveranstaltungen an der PH Ludwigsburg zum Thema Was ist falsch an Social Justice? voraus. Diese umfassten einen Vortragsteil und offene Diskussionen nach den Regeln der Spectrum Street Epistemology (https://www.ccbuchner.de/clip_code/23125-02). Sowohl im Seminar selbst als auch in dessen offiziellen Evaluationen wurde die Existenz dieses Lehrangebots von einzelnen Studierenden angeprangert, die ihr Missfallen zum Teil mit nachweislich falschen Behauptungen über das Seminar verbanden. Andere Studierende ließen dem Senatsbeauftragten für Antidiskriminierung den kompletten Foliensatz des Seminars zukommen und baten um deren Prüfung. Diese Prüfung erfolgte und ergab keine Beanstandungen. Viele der Folien flossen in Beiträge aus Heft 1/25 ein. Nach Einreichung der Manuskripte zu Heft 1/25 beim Verlag erfolgten auch dort Gespräche über die kritische Ausrichtung des Heftes. Auch dieses Prüfverfahren überstanden die Beiträge. Aufgrund dieser Gespräche konnte das Heft erst mit zweimonatiger Verspätung erscheinen, was insbesondere angesichts des inzwischen vollzogenen Machtwechsels im Weißen Haus kein ideales Timing mehr war. Nach Erscheinen des Heftes erhielten nicht nur die Heftherausgeber, sondern alle im Herausgeberteam, der Verlag und der Vorstand der Gesellschaft für Philosophie und Ethikdidaktik (GPED), die mit der ZDPE in keiner institutionellen Verbindung steht, eine E-Mail der Society for Women in Philosophy (SW*IP). In dieser E-Mail wurden alle im Verteiler darauf hingewiesen, „dass sich einige SW*IP-Mitglieder sehr über einige der Inhalte der ZPDE-Ausgabe 1/2025 zum Thema „Social Justice“ geärgert haben“. Auch im Vorstand gäbe es „starke inhaltliche Bedenken gegenüber einigen Texten“. Verbunden wurde dies mit der Aufforderung, die genauen Modalitäten des Review-Verfahrens der ZDPE mitzuteilen. Dem sind wir nachgekommen. Der entsprechende Text wird in Kürze auch auf der Verlagsseite zur Verfügung stehen. Als schließlich Anfang Oktober 2025 der erwähnte Blogbeitrag bei praefaktisch.de erschien, wurde dies von einer E-Mail der Verfasser*innen begleitet. In dieser hieß es: „Wir hoffen, dass unser Beitrag dazu anregt, die Maßnahmen zur Sicherung der wissenschaftlichen Integrität der ZDPE kritisch zu überprüfen.“ Erneut erhielten nicht nur wir als verantwortliche Heftherausgeber diesen Hinweis, sondern auch die anderen Herausgeber*innen der ZDPE, die an der Entstehung des Heftes nicht beteiligt waren, sowie der Verlag. Welche „weiteren Organe der ZDPE“ (EAVF) darüber hinaus noch zu „Maßnahmen zur Sicherung der wissenschaftlichen Integrität der ZDPE“ aufgefordert wurden, ist für uns nicht nachvollziehbar, da die Empfänger*innen dieser E-Mail individuell angeschrieben wurden. Auf Tagungen und in persönlicher Korrespondenz wurden Personen aus unserem akademischen Umfeld seither mehrfach dazu aufgefordert, sich zu Heft 1/25 zu äußern. – Wir erlauben uns an dieser Stelle zu erwähnen, dass es auch sehr anerkennende Rückmeldungen von namhaften Kolleginnen und Kollegen gegeben hat. Die Strategie, im Umfeld kritisierter Personen sozialen Druck zu erzeugen, damit ‚so etwas‘ nicht noch einmal vorkommt, geht deutlich über das Austragen eines inhaltlichen Dissenses über Konzepte von Gerechtigkeit und das Bemühen um wissenschaftliche Qualitätssicherung hinaus. Ein solches Maß an Aktivismus gegenüber wissenschaftlichen Publikationen überschreitet nicht die Grenzen des rechtlich Zulässigen, war uns jedoch bisher nur als Reaktion auf kirchen- und islamkritische Beiträge bekannt. Laut dem Blogbeitrag werden in Heft 1/25 „Narrative der Angst geschürt“. (EAVF) Tatsächlich warnt Heft 1/25 vor genau dieser Verbindung aus einseitiger Kritik, sozialem Druck und weltanschaulichem Aktivismus, die hier als reale Reaktion auf das Heft demonstriert wurde. Wäre dieser Aktivismus unterblieben, würde wir eher daran zweifeln, ob es notwendig und angemessen war, im Jahr 2025 noch dieses Heft herauszugeben. Der aktivistische Modus, in dem sich die Kritik vollzieht, zeigt: Seminare und Publikationen, die sich kritisch mit Social Justice auseinandersetzen, sind im deutschsprachigen Raum noch immer möglich; allerdings nur dort und nur so lange, wie die Entscheidungsträger*innen in Verlagen und Hochschulen soziale Gerechtigkeit noch im Sinne von Typ A statt Typ B verstehen und sozialem Druck standhalten. In unserem Fall war dies glücklicherweise gegeben. Es wird jedoch zusehends weniger selbstverständlich.
Wissenschaft, Weltanschauung und Aktivismus
Der Blogbeitrag kritisiert: „Der Universalismus der Wissenschaft wird von den Autor*innen vermutlich mit weltanschaulicher Neutralität gleichgesetzt. Damit werden wesentliche wissenschaftsphilosophische Positionen ausgeblendet.“ (EAVF) Begriffe würden „abseits der zeitgenössischen Forschungsdiskussion“ und „abweichend von der zeitgemäßen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion verwendet“. (EAVF) Dies nennt der Blogbeitrag „schwerwiegende methodische Mängel“. (EAVF) Demnach besteht der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit darin, Wissenschaft nicht so (weltanschaulich) zu verstehen, wie die Critical Theories, nicht die Begriffe zu verwenden, die diese Theorien für den wissenschaftlichen Diskurs als obligatorisch behaupten, und Personen in den Diskurs hineinzulassen, die als „anti-woke“ gelabelt sind. – Damit wurde das Anliegen des Themenheftes 1/25 treffend erkannt. Auf die Strategie, geläufige Konzepte wie ‚Gewalt‘, ‚Rassismus‘ oder ‚Frau‘ mit einer neuen Bedeutung zu versehen und diese Bedeutung nicht im wissenschaftlichen Diskurs zu etablieren, sondern durch Aktivismus und sozialen Druck als verbindlich zu behaupten, weist Heft 1/25 ausdrücklich hin. Dasselbe geschieht hier mit dem Konzept ‚Wissenschaft‘. Ein wissenschaftsphilosophisches Konzept zu vertreten, das keine Trennung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung vorsieht, ist eine Sache. Eine andere Sache ist es, keine Trennung von Wissenschaft und weltanschaulichem Aktivismus vorzunehmen. Dass im Kontext von Social Justice zuweilen beides in Kombination auftritt, entspricht der inneren Logik von Typ-B-Theorien. Welches Wissenschaftsverständnis im 21. Jahrhundert die zeitgenössische Forschungsdiskussion bestimmen wird, werden die nächsten Dekaden erweisen. Inwiefern der Blogbeitrag selbst gemessen an Kriterien wie Wissenschaftlichkeit, vagen Begriffen, Fehlschlüssen, Narrativen der Angst etc. fairer mit den zitierten Beiträgen umgeht als die bemängelten Beiträge mit den Positionen, die sie kritisieren, können Leserinnen und Leser leicht selbst beurteilen, sofern sie nicht nur den Blogbeitrag, sondern auch Heft 1/25 lesen. Wirkung wird der Blogbeitrag vor allem auf und durch diejenigen haben, die ihn aufgrund seiner politischen Stoßrichtung zitieren, ohne Heft 1/25 zu lesen und die Berechtigung der geäußerten Kritik zu überprüfen. Der Blogbeitrag nennt eine „erkennbare politische Tendenz“ und den „Hang zur moralischen Panik“ mit gutem Recht als Probleme, schließt jedoch gleichzeitig mit den folgenden Zeilen: „Wir haben daher gute Gründe anzunehmen, dass sich eine Fachzeitschrift hier für die politische Propaganda bestimmter Akteur*innen instrumentalisieren lässt und ihnen darüber hinaus den Weg in die Schulbildung ermöglicht. Die Herausgeber*innen, weiteren [sic!] Organe der ZDPE und der Verlag müssen sich fragen, wie das passieren konnte, wie sie darauf reagieren wollen und wie sie solcherlei Einflussnahme in Zukunft verhindern wollen.“ (EAVF) Erneut können wir hier nur unsere volle Zustimmung zu den angewendeten Kriterien ausdrücken und gleichzeitig auf unseren Dissens in der Frage verweisen, welche Art von Einflussnahme auf die ZDPE wirklich erfolgt – und welche nicht. Wer Kritik an wissenschaftlichen Beiträgen wie selbstverständlich durch E-Mail-Aktionen an das akademische Umfeld der Kritisierten flankiert, mag leicht zu der Vermutung neigen, dass andere nach ähnlichen Strategien handeln. Der Schluss von sich selbst auf andere ist jedoch allzu oft ein Fehlschluss. Die „guten Gründe“, aus denen heraus die Verfasser*innen des Blogbeitrages eine politische Einflussnahme auf die ZDPE „innerhalb eines regressiven und revisionistischen politischen Programms“ annehmen, sind diese: „Einige der Autor*innen sind Mitglieder des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit. Andere sind vor allem als Anti-Woke- bzw. Anti-Trans-Aktivist*innen bekannt.“ (EAVF) Dieser Kategorisierung folgen keine weiteren Belege. Zudem verzichten die Autor*innen auf die Information, dass die Heftherausgeber z.T. seit 35 Jahren mit erheblichem Einsatz in der Arbeit gegen Rechtsextremismus aktiv sind und sich aktiv für die Rechte von Homosexuellen eingesetzt haben. Ob diese selektive Kontextualisierung auf einen Mangel an Recherche oder auf System beruht, sei dahingestellt.
Die rechte und die linke Hand der Identitätspolitik
Vorbemerkung: In Ermangelung einer Alternative übernehmen wir mit der Vokabel „links“ die Selbstbezeichnung der entsprechenden Personen. Gleichwohl vertreten wir die Auffassung, dass ein kohärentes linkes Selbstverständnis Universalismus impliziert. Wenn Probleme als emotional bedeutsam empfunden werden, gleichzeitig jedoch so komplex sind, dass sich gute Gründe pro und contra finden lassen, neigen wir als Menschen zur Anwendung von Heuristiken, die kognitive Überlastung und kognitive Dissonanz vermeiden. Eine solche Heuristik ist die Reduktion der Beurteilung der Qualität eines Arguments auf die Fragen, von wem das Argument vorgebracht wurde und ob diese Person ‚eine von uns‘ oder ‚eine von denen‘ ist. Das dieser Heuristik zugrundeliegende Common-Enemy-Weltbild ist konstitutiv für radikale Theorien. Im gegenwärtigen politischen Kulturkampf äußert es sich in der Einteilung von Positionen in links und rechts, verbunden mit der Doktrin, dass nur Positionen aus dem jeweils eigenen Lager Berücksichtigung verdienen. Als Konsequenz lernt man die Position der anderen Seite zwecks Vermeidung von Kontaktschuld nicht mehr wirklich kennen, sondern konstruiert sie negativ durch Abgrenzung von der eigenen Position: ‚Wir sind für das Gute. Wer nicht für uns ist, ist gegen das Gute. Wer gegen das Gute ist, ist der Feind. Vom Feind kann nichts Gutes gelernt werden.‘ Die Schwächen einer solchen Heuristik liegen in der Philosophie auf der Hand. Ließe man nur diejenigen als Kantianerinnen und Kantianer gelten, die an der kantischen Philosophie keine Kritik üben, würde nicht einmal Kant selbst als Kantianer durchgegangen sein. Im Politischen hat diese Heuristik einen doppelten Nachteil: Erstens werden alle, die an linken Positionen Kritik äußern, dem rechten Spektrum zugeordnet. Wer einmal dieses Etikett hat, braucht nicht mehr gelesen zu werden. Stattdessen genügt es, die Rezension zu zitieren, in der die heuristische Zuordnung zum rechten Spektrum erfolgt. Diese Zuordnung erfolgt entweder inhaltlich („P kritisiert etwas, das die Neue Rechte auch kritisiert.“) oder sozial („P gehört einer Gruppe an, der auch Personen aus der Neuen Rechten angehören.“) Wohin dies führt, ist klar zu sehen, wenn man die Wahlerfolge der AfD mit dem Umstand zusammendenkt, dass in einem Rechtsstaat niemand aufgrund politischer Überzeugungen rechtswirksam aus sozialen Vereinigungen ausgeschlossen werden kann. Für alle, die sich nicht vollständig in eine homogene Bubble Gleichgesinnter zurückziehen, wird es immer schwerer, keiner Gruppe anzugehören, zu der auch Personen gehören, die öffentlich Meinungen der Neuen Rechten vertreten. Ein Beispiel ist das Thema Wissenschaftsfreiheit. Organisationen wie das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ziehen sowohl diejenigen an, die Wissenschaftsfreiheit als ein aufrichtiges Anliegen verfolgen, als auch diejenigen, die sie für politische Zwecke instrumentalisieren. Wahr ist, dass Personen aus dem Umfeld der Neuen Rechten die Themen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit benutzen, um ihren eigenen Populismus zu rechtfertigen. Die Erfahrungen in den USA zeigen, dass dahinter selten aufrichtige Unterstützung von Freiheitsprinzipien steht, da dieselben Personen nach einer Änderung des Machtgleichgewichts alles daransetzen, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit für den politischen Gegner einzuschränken. Sollen diejenigen, die sich aufrichtig für ein Prinzip einsetzen, mit denen gleichgesetzt werden, die dasselbe nur aus strategischen Gründen tun? Das hieße, auch diejenigen, die aufrichtig für Selbstbestimmung eintreten, mit denen aus der Neuen Rechten gleichzusetzen, die ihr Gender nur wechseln, um die Missbrauchsanfälligkeit des Selbstbestimmungsgesetzes zu demonstrieren. Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sind Grundpfeiler der Demokratie. Wie alle Werte können sie im Extremfall gegen andere Werte abgewogen werden. Ihre Relativierung erfordert jedoch gute Argumente, die über den Vorwurf einer Kontaktschuld hinausgehen. Zweitens sorgt die Ignoranz gegenüber den tatsächlichen Argumenten des anderen Lagers dafür, dass man nicht bemerkt, wo man selbst die Ziele der anderen Seite fördert. Theorien vom antiuniversalistischen Typ-B1 finden sich in der Neuen Rechten ebenso wie im linken Spektrum. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Neue Rechte die Gruppe des eigenen Volkes als die relevante Bezugsgröße für Gerechtigkeit und als Leidtragende universalistischer Ethiken setzt, wobei die Zugehörigkeit zu diesem Volk an exklusive Kriterien gebunden wird. Theorien im linken Spektrum setzen marginalisierte Gruppen als die relevanten Bezugsgrößen für Gerechtigkeit und als Leidtragende universalistischer Ethiken, wobei sie das Ziel der Inklusion verfolgen. Die Ausrichtung auf Exklusion im einen und Inklusion im anderen Fall ist ethisch bedeutsam, lässt die Gemeinsamkeit der Ablehnung von Individualismus und Universalismus zugunsten identitätspolitischer Setzungen im Stil eines naiven Tribalismus jedoch nicht verschwinden. Der aktivistische Vordenker der Neuen Rechten Martin Sellner schreibt: „Identitäre Politik geht davon aus, daß es keine objektiv feststellbare umfassende Überlegenheit einer Kultur gibt. Keine Kultur ist die beste an sich. Aber jede Kultur ist jeweils die beste für ihr eigenes Volk.“ (Sellner 2024, 135) Ersetzt man hier den nationalistisch gedachten Volksbegriff durch alternative Identitätskategorien, ist diese Position kaum vom antiuniversalistischen Kulturrelativismus des Typs B1 zu unterscheiden. Es wäre dabei verfehlt zu denken, Positionen der Neuen Rechten seien an einer stupiden Menschenfeindlichkeit zu erkennen, die aus Hass gegenüber Fremden die Vorteile einer moralisch anschlussfähigen Argumentation übersieht. Dass derartige Hassrede im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs nichts zu suchen hat, ist Konsens. Dies ist jedoch nicht der einzige Modus, in dem die Neue Rechte ihre Thesen populär macht. So heißt es weiter: „Aus Liebe zum eigenen Volk ist eine Remigration notwendig. Niemals dürfen wir dabei aber den Respekt vor anderen Völkern und Kulturen verlieren. Nur wenn Remigration in all diesen moralischen Implikationen verstanden und kommuniziert wird, hat sie eine reale Chance auf Umsetzung.“ (Sellner 2024, 135) Das von linker Identitätspolitik unterstützte Projekt des Kulturrelativismus zulasten universalistischer Werte gehört mindestens ebenso sehr zum Programm der Neuen Rechten wie das meist nur vorgebliche Streben nach Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit und wird zuweilen geschickt mit dem Aufruf zum Respekt vor anderen Völkern und Kulturen verknüpft. Wie vermeiden es linke Theorien vom Typ B1, die aus Ablehnung des Universalismus für Kulturrelativismus, Dekolonialisierung und Safe Spaces eintreten, gleichzeitig Ziele der Neuen Rechten wie Remigration zu fördern? Welche Argumente haben diese Typ-B1-Ansätze gegenüber Sellner und seinesgleichen, außer der Strategie, angesichts von Buzzwords wie ‚Remigration‘ performativ in Schnappatmung zu verfallen? Der gemeinsame Kulturrelativismus macht beide Lager zu Verbündeten im Kampf gegen individualistische, liberale und universalistische Normensysteme. Konsequenterweise schreibt der Neofaschist Stenio Solinas in der extrem rechten Zeitschrift Elementi schon im 20. Jahrhundert: „Unser Drama heute besteht im Moderatismus. Unser Hauptfeind sind die Gemäßigten. Der Gemäßigte ist von Natur aus demokratisch.“ (Zitiert nach Bobbio 1994, 35) Es wäre viel gewonnen, wenn sich die scheinbar unvermeidbare Politisierung wissenschaftlicher und ethischer Diskurse zukünftig in den Kategorien ‚radikal‘ und ‚gemäßigt‘ statt in ‚links‘ und ‚rechts‘ niederschlagen würde. Wer mehrfach scharf links abbiegt, mag erkennen, dass er/sie/they sich am Ende in dieselbe Richtung bewegt wie diejenigen, die rechts abgebogen sind.
Fazit
Heft 1/25 der ZDPE ist nicht das Ergebnis politischer Einflussnahme, sondern will den philosophischen, philosophiedidaktischen und interdisziplinären, wissenschaftlichen Diskurs über die Konzepte sozialer und individueller Gerechtigkeit von aktivistischer Einflussnahme freihalten. Die Verweigerung gegenüber aktivistischer Beeinflussung zugunsten der eigenen Weltanschauung mag sich für einige so anfühlen, als erfolge sie zur Förderung der entgegengesetzten Weltanschauung. Doch Gefühle sind keine Realität und besitzen auch keine argumentative Kohärenz. Als Heftherausgeber vertreten wir einen ethischen und wissenschaftlichen Universalismus, den wir klar von Ansätzen abgrenzen, die sich keiner reziproken und allgemeinen Rechtfertigung verpflichtet fühlen. Dies mag man uns vorwerfen und für ein alternatives Wissenschaftsverständnis werben, das Wissenschaft und Weltanschauung meint zusammenführen zu können. Solange dieses alternative Wissenschaftsverständnis nicht zum allgemeinen Gesetz geworden ist, ist es jedoch weder unwissenschaftlich noch ethisch problematisch, Wissenschaft als Suche nach beobachterunabhängig als zustimmungsfähig erweisbaren Fakten und Argumenten zu verstehen, Theorien an diesem Konzept von Wissenschaft zu messen und Weltanschauungen davon zu unterscheiden. Heft 1/25 folgt keinem „regressiven und revisionistischen politischen Programm“ (EAVF), sondern einer Einsicht, die aus der Mode gekommen ist, nichtsdestotrotz jedoch den Kern des Wissenschaftsbetriebs wie auch den des Philosophierens ausmacht: Alle Menschen unterliegen dem psychologischen Phänomen, das als Myside-Bias bekannt ist. (Mercier/Sperber 2017) Dieses Phänomen besteht darin, dass wir in eigenen Ideen, Positionen und Argumenten eher die Stärken und das Positive sehen, während wir fremde Ideen, Positionen und Argumente eher kritisch betrachten und uns stärker auf das Negative an ihnen fokussieren. Daraus folgt, dass Menschen in der Regel auf die Kritik anderer Menschen angewiesen sind, um die Schwächen ihrer eigenen Ideen, Positionen und Argumente zu erkennen. Im tribalistischen Denken ist eine Ausweitung des Myside-Bias auf Ideen, Positionen und Argumente zu beobachten, die aus der eigenen Gruppe kommen, während in anderen Gruppen eher als negativ kritisierbare Ideen, Positionen, Argumente und Personen wahrgenommen werden. Eine Debattenkultur, in der Kritik an anderen Gruppen nicht nur erlaubt ist, sondern wertgeschätzt wird, wird sich insgesamt für alle Gruppen als nützlicher erweisen als eine Debattenkultur, in der jede Gruppe nur die eigenen Ideen, Positionen und Argumente kritisiert, aber keine externe Kritik an den Ideen, Positionen und Argumenten anderer Gruppen übt oder zulässt. Das Bestreben, Individuen oder Gruppen vor Kritik zu schützen, führt dazu, dass die geschützten Individuen und Gruppen ihre Position aufgrund mangelnden externen Feedbacks nicht von Fehlern befreien und als Folge davon auf eine für sie selbst und andere suboptimale Weise argumentieren und handeln, die nicht selten den weltanschaulichen Gegnern dieser Gruppen in die Hände spielt. Die Identitätspolitik in der politisch linken und der politisch rechten Lesart geht davon aus, dass bestimmte Gruppen wie das eigene Volk oder benachteiligte Minderheiten und ihre jeweiligen Interessenvertretungen über Irrtum und Bias soweit erhaben sind, dass externe Kritik ihre Position nur schlechter, aber nicht besser machen kann. Die Gründe, warum man die Identitätspolitik eindämmen sollte, sowie die Methoden, wie man sie wirksam eindämmen kann, sind dieselben wie die Gründe und Methoden zur Eindämmung des Myside-Bias. Im Fortschrittsstreben der Menschheit ist es die Wissenschaft mit ihrem weltanschaulich neutralen Peer Review System, im gesellschaftlichen Zusammenleben ist es der demokratische Meinungsbildungsprozess, der einen gleichberechtigten Dialog von Weltanschauungen und Parteien ermöglicht, in der Bildung von Individuen ist es das Philosophieren mit Andersdenkenden, verstanden als das Sammeln und rationale Prüfen von Gründen. Wer eines dieser Systeme angreift und durch weltanschaulichen Aktivismus ersetzt, gefährdet das bisherige Verständnis evidenzbasierter Wissenschaft, rechtsstaatlicher Demokratie und philosophischer Bildung. Diese Gefahr zur Diskussion zu stellen ist Aufgabe von Heft 1/25 der ZDPE.
Frank Brosow ist Fachkoordinator für Philosophie/Ethik am Institut für Philosophie der PH Ludwigsburg und Mitherausgeber der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE). Mit der TRAP-Mind-Matrix hat er ein Modell des Philosophierens als Bildungsprozess vorgelegt, das zur rationalen Prüfung von Intuitionen die individuelle, die soziale und die universalistische Perspektive gegeneinander abwägt.
Markus Tiedemann ist Professor für Didaktik der Philosophie und für Ethik an der Technischen Universität Dresden. Zuvor war er Professor an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und der Freien Universität Berlin sowie 11 Jahre lang Lehrer an verschiedenen Schulformen. Fachdidaktisch vertritt er das Prinzip der Problemorientierung sowie das Konzept der Transzendentalen Toleranzerziehung. Fachphilosophisch hat er kürzlich das Buch „Post-Aufklärungs-Gesellschaft“ vorgelegt. Er ist seit 2011 Mitherausgeber der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE).
Literatur:
Bobbio, Norberto: Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung. Berlin 1994.
Mercier, Hugo / Sperber, Dan: The Enigma of Reason. Cambridge 2017.
Sellner, Martin: Remigration. Ein Vorschlag. Schnellroda 2024.



