Wissenschaftsfreiheit? Nur dem Namen nach! Ein kritischer Kommentar zum „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“
Von Alexander Reutlinger (München)
Eine Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hat Anfang Februar das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit[1] gegründet. Das Netzwerk möchte Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit dokumentieren und kritisieren.
Hat dieses Netzwerk nicht ein hehres Ziel? Muss nicht jeder Wissenschaftler, jeder Bürger, aufschreien, wenn die Erforschung und Lehre bestimmter Fragen staatlich verboten oder Universitäten ihre Autonomie genommen wird (wie gegenwärtig in Ungarn, der Türkei oder Serbien, um nur einige Beispiele in Europa zu nennen)? Muss man sich nicht z.B. mit der Central European University solidarisch zeigen, weil diese aufgrund eines 2017 von der ungarischen Regierung verabschiedeten Gesetzes („Lex CEU“) Budapest verlassen und nach Wien umziehen musste? Ja, man muss selbstverständlich solche Missstände klar als Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit benennen und kritisieren. Aber muss man deswegen auch das neue Netzwerk unterstützen? Nein, das muss und sollte man keineswegs.
Warum? Weil es diesem Netzwerk nur dem Namen nach um Wissenschaftsfreiheit geht. Es geht diesem Netzwerk nicht darum, Vorfälle zu kritisieren, bei denen die freie Themenwahl in Forschung und Lehre durch den Staat – oder auch durch forschungsfördernde Unternehmen – eingeschränkt oder gänzlich abgeschafft wird. Dies wären klare Fälle, in denen Wissenschaftsfreiheit durch wissenschaftsexterne Faktoren (wie Staaten und Unternehmen) eingeschränkt oder gänzlich abgeschafft wird. Im Gegensatz dazu geht es dem Netzwerk offenbar um ein anders gelagertes Phänomen: um einzelne Wissenschaftler, die innerhalb der wissenschaftlichen Community von ihren Fachkollegen, Studierenden und Universitätsleitungen kritisiert wurden und werden. Es geht um Wissenschaftler, die sowohl für ihre eigenen Aussagen als auch die Aussagen von Personen, die sie zu Vorträgen an Universitäten eingeladen hatten, kritisiert werden. Mit dieser Ausrichtung setzt das Netzwerk die Kontroverse um den Fall des Philosophieprofessors Dieter Schönecker inhaltlich und teils auch auf personeller Ebene fort (denn er selbst und einige seiner Unterstützer sind medial präsente Mitglieder des Netzwerks).
Innerwissenschaftliche Kritik an Aussagen (oder auch an Forschungsvorhaben) von Wissenschaftlern und Personen, die sie einladen, ist in der wissenschaftlichen Gemeinschaft eine alltägliche und zu begrüßende Praxis. Diese Praxis ist nicht nur mit der Wissenschaftsfreiheit der kritisierten Wissenschaftler vereinbar, sondern sie ist gleichzeitig ein lebendiger Ausdruck derselben Freiheit ihrer Kritiker – d.h. der Freiheit, weitgehend unabhängig von wissenschaftsexternen Instanzen (wie z.B. dem Staat) forschen und lehren – und dies schließt ein: Kollegen kritisieren – zu können. Wenn Aussagen z.B. als rassistisch oder als Klimawandelleugnung (oder allgemeiner als wissenschaftsskeptisch) kritisiert werden, dann hat die vorgebrachte Kritik meist zwei verschiedene, legitime Dimensionen, die man auseinanderhalten sollte: wissenschaftliche Qualitätskontrolle und innerwissenschaftliche Normen und Werte.
Manche Kritikpunkte sind im Bereich der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle angesiedelt. Wissenschaftler (bzw. Personen, die sie an eine Universität einladen) werden z.B. dafür kritisiert, dass ihre Thesen und Argumente empirisch nicht fundiert sind, oder dass sie einen Mangel an einschlägigen Sachkenntnissen, an Vertrautheit mit dem aktuellen (inter)disziplinären Forschungsstand und/oder an methodischer Kompetenz aufweisen. Zudem wird einzelnen Wissenschaftlern und ihren Gästen vorgeworfen, dass sie z.B. verfügbare und relevante Daten ignorieren (ein Vorwurf, der sich beispielsweise auf Wissenschaftsskeptiker bezieht, die Forschungsergebnisse der Klimawissenschaften in Zweifel ziehen). Es ist erstaunlich, dass Kritik, die auf wissenschaftlicher Qualitätskontrolle basiert, keinerlei Erwähnung im Manifest des Netzwerks findet.
Eine andere Art von innerwissenschaftlicher Kritik besteht in Argumenten, die auf innerwissenschaftliche Normen und Werten beruhen. Neben rechtlichen Regelungen zur Wissenschaftsfreiheit selbst, die das Netzwerk anerkennt, sind u.a. folgende innerwissenschaftlichen Normen und Werte zu nennen: ethische Leitlinien bei Experimenten, die Festsetzung von Förderschwerpunkten mit Gemeinwohlorientierung, verschiedenste Gleichstellungs- und Inklusionsmaßnahmen im Wissenschaftsbetrieb, Normen guter Förderpraxis für Stiftungen, die Pflicht zur Offenlegung von Interessenkonflikten, und die Beschreibung und Bewertung von Risiken, die aus der Forschung für die Gesellschaft, die Umwelt und auch für die Wissenschaft selbst entstehen können. Diese Liste ließe sich leicht fortsetzen und spezifizieren. Wissenschaft ist keineswegs ein moral-, rechts- und politikfreier Raum, in dem wertendende und normative Überlegungen lediglich wissenschaftsexterne, ideologische Störfaktoren sind, wie es das Netzwerk nahelegt. Wer wirklich verstehen möchte, wie Wissenschaft funktioniert, muss anerkennen, dass es diese normative Dimension der Wissenschaft gibt. Diese Dimension der innerwissenschaftlichen Normen und Werte stellt de facto eine weitere, legitime Quelle für innerwissenschaftliche Kritik dar.
Wie gut oder schlecht Kritikpunkte, die auf Qualitätskontrolle oder innerwissenschaftlichen Normen und Werten beruhen, im Einzelfall auch sein mögen, innerwissenschaftliche Kritik zu äußern, stellt keine Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit dar. Man kann sicherlich die Frage stellen, in welcher Form solche innerwissenschaftliche Kritik geäußert werden sollte – dies ist eine Frage, die das Netzwerk aufwirft. Darf Kritik nur in den üblichen Bahnen akademischer Diskussion vorgebracht werden? Oder darf sie auch als Protest artikuliert werden, der akademische Veranstaltungen stört? Das ist ein diskussionswürdiges Thema. Aber – und dies ist entscheidend – es hat mit Wissenschaftsfreiheit nichts zu tun.
Verschiedene Formen der innerwissenschaftlichen Kritik als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit zu begreifen, ist aber nicht nur falsch, sondern birgt auch mindestens zwei Gefahren. Erstens laufen die Mitglieder des Netzwerks Gefahr, die gravierenden Probleme ihrer Kollegen (z.B. in Ungarn) zu relativieren, deren Freiheit in Forschung und Lehre tatsächlich durch den Staat eingeschränkt wird. Damit leistet das Netzwerk der Wissenschaftsfreiheit sicherlich keinen Dienst. Dies steht im Widerspruch zum Hauptziel des Netzwerks, Wissenschaftsfreiheit befördern zu wollen. Zweitens ist die Gefahr zu groß, beliebige Gegenargumente als Angriff auf die eigene Wissenschaftsfreiheit pauschal abzutun und damit jede Debatte im Keim zu ersticken. Dies untergräbt ein weiteres, selbstgestecktes Ziel des Netzwerks, den sachorientierten Austausch von Argumenten zu unterstützen.
Das Netzwerk täte daher gut daran, seine Positionen zu Wissenschaftsfreiheit grundlegend zu überdenken oder sich einen anderen Namen zu geben.
Alexander Reutlinger (Dr. phil. habil.) arbeitet als Akademischer Rat an der LMU München. Dort forscht und lehrt er – ganz frei – zu verschiedenen Themen der Wissenschaftsphilosophie und angrenzenden Bereichen der Philosophie.