Rawls und die Religion. Zum Verhältnis zwischen Glauben und öffentlicher Rechtfertigung

Von Michael Roseneck (Frankfurt und Mainz)


Die Sozialforschung ist weitestgehend von der Prognose Max Webers abgerückt, dass Modernisierung und die Trennung von Kirche und Staat zugleich auch einen Bedeutungsverlust der Religion bedingen. Vielmehr beziehen religiöse Akteure in der demokratischen Öffentlichkeit oder in Institutionen wie beratenden Ethikkommissionen prominent Stellung, zum Beispiel zu moralisch bedeutsamen Fragen wie denen von Abtreibung, Asylpolitik oder Medizinethik, und üben damit potentiell Einfluss auf den Willensbildungsprozess aus.[i]

Dies könnte gleichwohl politikphilosophisch problematisiert werden. Demokratische Herrschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie, obwohl sie Herrschaft ist, den moralischen Status der Rechtsadressat*innen als Freie und Gleiche nicht verletzt. Diese Gratwanderung gelingt ihr dadurch, dass sie zum einen durch Normen reguliert ist, die sich die Rechtsadressat*innen selbst gegeben haben respektive verändern können und zum anderen in Bezug auf ihre Begründung allgemeine Akzeptanz erfahren können – und sei es auch nur deswegen, weil eine Norm durch faire Verfahren zustande kam. Demokratische Herrschaft resultiert daraus, wie Hannah Arendt es formuliert, „sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“.[ii] Erstes verweist auf den formalen Aspekt demokratischer Herrschaft: Sie muss, wie auch immer institutionell konkretisiert, partizipativ sein.Zweites auf den inhaltlichen Aspekt: Sie muss mit allgemein akzeptierbaren Gründen öffentlich gerechtfertigt werden können.

Angesichts dessen scheint die Einflussnahme religiöser Überzeugungen auf den demokratischen Willensbildungsprozess prinzipiell illegitim: Da in pluralistischen Gesellschaften diverse Glaubensvorstellungen und Weltanschauungen existieren, können aus ihnen abgeleitete politische Geltungsansprüche nicht allgemeine Akzeptanz finden. Dementsprechend finden sich in Teilen der öffentlichen Debatte aber auch bei sozialen Bewegungen wie den Neuen Atheisten Standpunkte, die einen generellen Ausschluss religiöser Gründe forcieren. Vielmehr sollen im demokratischen Willensbildungsprozess nur „säkulare“, „evidenzbasierte“ und „rationale“ Gründe Geltung beanspruchen können.

Dies ist jedoch ihrerseits keine gut begründete Sichtweise. Zum einen handelt es sich hierbei um eine pragmatische Engführung politischer Diskurse, die aus dem Blick verliert, dass moralische und ethische Wertvorstellungen sowie Interessen ein relevantes Element demokratischer Entscheidungen bilden. Ob diese oder jene Wirtschaftspolitik mehr Wohlstand generieren kann als eine andere, ist eine über Evidenzen zu beantwortende Frage. Wie aber wiederum dieser Wohlstand zu verteilen ist, kann nicht über lediglich „evidenzbasierte“ Gründe beantwortet werden – ja, doch eigentlich schon, was wir überhaupt als Wohlstand bezeichnen wollen. Zum anderen aber weiß die Unterstellung, religiöse Gründe seien „rationalen Argumenten unzugänglich[]“ und „intellektuell unredlich[]“ nicht zu überzeugen.[iii] Er ist vielmehr zutiefst ideologisch.

Dass dem so ist, lässt sich mit Bezug auf John Rawls‘ Erkenntnistheorie nachvollziehen: Allgemeinhin ist es der Fall, dass das menschliche Erkenntnisvermögen selektiv, einseitig, fehlerhaft, schlichtweg begrenzt ist. Rawls bezeichnet diese anthropologische Konstante als Bürden des Urteilens.[iv] Aus den Bürden des Urteilens folgt nun, dass bei derselben Evidenzgrundlage möglicherweise unterschiedliche, gleichermaßen berechtigte Meinung darüber vorhanden sein können, was der Fall ist. Beispielsweise können bereits aus einfachsten Beobachtungen von Wechselwirkungen bekanntermaßen keine eindeutigen induktiven Schlüsse gezogen werden.

Unsere modernen Gesellschaften kennzeichnen sich ferner durch ein hohes Maß an funktionaler Differenzierung, mit der auch eine Vervielfältigung der Erfahrungswelten in Abhängigkeit von Faktoren wie dem Beruf, Geschlecht, Wohnort, Milieu et cetera verbunden ist. Die Diversifizierung der Erfahrungswelt wiederum begünstigt, dass die immer schon wirkenden Bürden des Urteilens eine weitaus größere Angriffsfläche erhalten und Mitglieder moderner Gesellschaften abhängig von ihrer sozialen Position unterschiedlich gefärbte Weltsichten entwickeln werden. Moderne Vergesellschaftung führt damit zwangsläufig zur Herausbildung von weltanschaulichem Pluralismus, wobei unterschiedliche Weltsichten nicht notwendigerweise auf kognitive Fehlleistungen, sondern vielmehr auf unterschiedliche soziale Positionen zurückzuführen sind.

Bei einer derartigen Ausgangslage nun eine Gattung von Weltanschauungen als schlichtweg irrational zu bewerten, zum Beispiel religiöse, oder eine andere Gattung von Weltanschauungen als einzige rationale, zum Beispiel säkulare, ist folglich insofern nicht epistemisch gerechtfertigt, als dabei die aus den Bürden des Urteilens resultierende Unsicherheit darüber, was wirklich der Fall ist, nicht hinreichend Berücksichtigung findet. Wenn dem so ist, verstrickt sich das vorgestellte Argument, religiöse Gründe seien wegen ihrer prinzipiellen Unbegründetheit schlichtweg aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen, in Selbstwidersprüche: Einerseits ist die Forderung nach Ausschluss selbst nicht gut begründet, sondern sitzt nur einer von vielen möglichen, nämlich einer positivistischen Weltsicht auf, andererseits kann zumindest die Gruppe von intellektuell redlichen Gläubigen mit guten Gründen einen derartig begründeten Ausschluss ihrer Überzeugungen nicht akzeptieren. Die Forderung nach einem generellen Ausschluss religiöser Gründe zugunsten von säkularen verletzt folglich ihrerseits das für demokratische Legitimation zentrale Prinzip öffentlicher Rechtfertigung.[v]

Nur weil aber die einseitige Parteinahme für säkulare Begründungen in der politischen Öffentlichkeit nicht überzeugen kann, folgt noch nicht, dass Tür und Tor für religiöse Argumente offenstehen, denn letztlich scheinen sie zumindest unter Rahmenbedingungen pluralistischer Vergesellschaftung nicht allgemein akzeptierbar. Rawls‘ Demokratietheorie ist nicht nur insofern für die Verhältnisbestimmung zwischen Religion und öffentlichem Vernunftgebrauch eine bedeutsame Sichtwortgeberin, als sie mit dem Konzept der Bürden des Urteilens wichtige epistemologische Weichenstellungen vornimmt, sondern auch Optionen der demokratisch legitimen Inklusion religiöser (und auch nichtreligiöser) Lehren in den demokratischen Prozess benennt. Sie kann damit Wege der Versöhnung zwischen religiösen Traditionen auf der einen Seite und des Geltungsanspruchs demokratischer Herrschaft auf der anderen Seite skizzieren.

Diese Optionen des Brückenschlags zwischen religiösen Gründen und öffentlicher Vernunft thematisiert Rawls dort, wo er Pflichten benennt, denen Bürger*innen dann Beachtung schenken müssen, wenn sie in demokratischen Systemen politisch agieren, zum Beispiel wenn sie eine bestimmte Partei wählen oder für eine bestimmte Position im öffentlichen Raum ihre Stimme erheben. Rawls‘ Fragestellung irritiert vielleicht, denn man mag es im alltäglichen Sprachgebrauch gewohnt sein, von Pflichten offizieller Amtsträger*innen zu sprechen. Wenn es um die Begründungspflicht für politischer Maßnahmen geht, könnten zum Beispiel Abgeordnete oder vielleicht noch Verfassungsrichter*innen angesprochen werden. Aber kann man hierbei von Bürgerpflichten sprechen? „Werd‘ ich doch wohl sagen dürfen, wenn es meine Meinung ist“, gilt vielen als Ausdrucksweise eines liberalen Freiheitsverständnisses.

Eine strikte Unterscheidung zwischen Pflichten, die Akteure im politischen System haben, einerseits und diejenigen, die (wenn sie überhaupt welche haben) Bürger*innen haben, andererseits ist allerdings kurzschlüssig. In demokratischen Systeme finden sich diverse institutionelle Kopplungen zwischen Bürgerschaft und öffentlicher Meinung auf der einen Seite und dem politisch-administrativen System auf der anderen: Man wählt zum Beispiel bestimmte Personen oder Parteien, die für eine Legislaturperiode unmittelbar auf die Entscheidungsfindung Macht ausüben, oder man verwaltet mit anderen Bürger*innen den „Pool von Gründen“, derer sich Abgeordnete bedienen können, um ihre Entscheidungen zu entwickeln und zu legitimieren.[vi] „Demokratie bedeutet […] gleiche Beteiligung an der politischen Zwangsgewalt, welche die Bürger, wenn sie abstimmen, aber auch auf andere Weise übereinander ausüben.“[vii] Dementsprechend sind auch bereits „einfache“ Bürger*innen aufgefordert, bis zu einem gewissen Grad ihre politischen Ansichten bezüglich deren allgemeinen Akzeptanz zu filtern.

Zwei Optionen, wie insbesondere religiöse Überzeugungen diesen Filter passieren können, finden sich in Rawls‘ Werk: (1) Religiös fundierte politische Geltungsansprüche sind dann demokratisch legitim, „sofern sie […] das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs stärk[en].“[viii] Wenn zum Beispiel, wie im Falle der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder heutzutage bei religiös begründeter Solidarität mit Geflüchteten, religiöse Stimmen weitaus besser dazu geeignet sind, doch eigentlich allgemein akzeptierbare Zwecke zu dramatisieren und die notwendigen Solidarität zu mobilisieren, so sei es legitim, wenn sie in den öffentlichen Diskurs Eingang finden. (2) Ferner sei es opportun, dass Gläubige aus ihren Überzeugungen entnommene Gründe im politischen Raum zunächst frei heraus äußern, sofern sie langfristig äquivalente, allgemein akzeptierbare Gründe benennen.

ad (1): Der sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnende Jürgen Habermas bemerkte allerdings, dass ideengeschichtlich betrachtet, bei allem Übel, das mit manchen Formen der Religion verbunden war und ist, religiöse Überzeugungen auch eine wichtige epistemische Ressource darstellen können.[ix] Dass, um einen Fall zu benennen, der doch eigentlich ein hierarchisches Verhältnis markierende Begriff der Würde – zu finden in Begriffen wie dem der Amtswürde beispielsweise – heutzutage auch darin seine Verwendung findet, mit dem Begriff der Menschenwürde einen jeden Menschen qua seines Menschseins einen unendlichen Wert zuzusprechen, geht auf die aus dem Judentum stammende Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zurück.[x] Allgemein gesagt verfügen also „[r]eligiöse Überlieferungen […] für moralische Intuitionen, insbesondere im Hinblick auf sensible Formen eines humanen Zusammenlebens, eine besondere Artikulationskraft. Dieses Potential macht die religiöse Rede bei entsprechenden politischen Fragen zu einem ernsthaften Kandidaten für mögliche Wahrheitsgehalte […].“[xi] Angesichts dessen müssen über politische Themen Deliberierende offen dafür sein, sich von neuen guten Gründen aus religiöser Rede inspirieren zu lassen. Religiöse Semantik darf nicht nur, wie bei Rawls, als motivationaler Durchlauferhitzer für doch eigentlich schon bekannte Vernunftideen geringgeschätzt werden.

ad (2): Ferner ist zu hinterfragen, ob langfristig immerzu eine Ersetzung religiöser Gründe in öffentlich zugängliche vonnöten ist, um allgemeine Akzeptanz herbeizuführen. 2012 urteile etwa das Landgericht Köln, dass eine „ohne […] medizinische Indikation“ vorgenommene, religiös motivierte Beschneidung männlicher Säuglinge als „nicht zu rechtfertigen[de]“ Körperverletzung im Widerspruch zu Art. 2 Abs. 2 GG zu beurteilen sei.[xii] Wenig später entschied der Bundestag, dass religiöse Zirkumzisionen dann zulässig seien, „wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden“ und somit das Kindeswohl nicht beeinträchtige.[xiii] Allgemeine Akzeptanz in Bezug die eine religiös begründete Praxis konnte in diesem Fall nicht durch eine Ersetzung religiöser Gründe bedingt werden – für genuin religiöse Praktiken gibt es nun einmal nur genuin religiöse Gründe –, sondern es reichte aus, dass religiöse Gründe so in Recht transformiert wurden, dass keine vernünftigen Gründe gegen ihre Effekte sprachen.[xiv]

Rawls‘ Verdienst in Bezug auf die Verhältnisbestimmung zwischen Religion und öffentlicher Vernunft liegt darin, überzeugend zu skizzieren, inwiefern sich Tradition und Geltung nicht ausschließen. Allerdings ist in Zweifel zu ziehen, ob die von ihm genannten Optionen der demokratisch legitimen Inklusion religiöser Gründe exhaustiv sind. Vielmehr regten sie den akademischen Diskurs dazu an, in dieser für postsäkulare, pluralistische Demokratien existentiell wichtigen Frage über Rawls hinaus zu gehen.


Michael Roseneck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Religionsphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Politische Theorie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit dem Verhältnis von Religion und deliberativer Demokratie. Hierzu erscheint zeitnah im Nomos-Verlag der Titel Zwischen Tradition und Geltung.


[i] Casanova, José. 2010. „Religion challenging the myth of secular democracy“. In Religion in the 21st century. Challenges and transformations, herausgegeben von Lisbet Christoffersen, Hans Raun Iversen, Hanne Petersen, Margit Warburg, 19-36. Surrey: Ashgate.

[ii] Arendt, Hannah. 1970. Macht und Gewalt. Übersetzt von Gisela Uellenberg. München: Piper. Hier S. 45 (Hervorhebung M.R.).

[iii] Schmidt-Salomon, Michael. 2006. „Leitkultur Humanismus und Aufklärung. Die kritizistische Alternative zu Fundamentalismus und Beliebigkeit.“ In Wissenschaft, Religion und Recht, herausgegeben von Eric Hilgendorf, 223-236. Berlin: Logos. Hier S. 223f.

[iv] Rawls, John. 1989. „The domain of the political and overlapping consensus“. New York University Law Review 64(2): 235-255.

[v] Rawls, John. 2002. „Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft“. In Das Recht der Völker. Übersetzt von Wilfried Hinsch, 165-218. Berlin: de Gruyter.

[vi] Habermas, Jürgen. 1989. „Volkssouveränität als Verfahren“. In Die Idee von 1789 in der deutschen Rezeption, herausgegeben vom Forum für Philosophie Bad Homburg, 7-36. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hier S. 28.

[vii] Rawls, John. 2017 [1993]. Politischer Liberalismus. Übersetzt von Wilfried Hinsch. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hier S. 318.

[viii] Ebd., S. 423.

[ix] Habermas, Jürgen. 2005. „Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ,öffentlichen Vernunftgebrauch‘ religiöser und säkularer Bürger“. In Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, 119-154. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[x] Habermas, Jürgen. 2011. „Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte“. In Zur Verfassung Europas. Ein Essay, 13-38. Berlin: Suhrkamp.

[xi] Habermas 2005 a.a.O., S. 137.

[xii] LG Köln 151 Ns 169/11.

[xiii] § 1631d Abs. 1 BGB.

[xiv] Lafont, Cristina. 2009. „Religion and the public sphere. What are the deliberative obligations of democratic citizenship?“. Philosophy & Social Criticism 35(1-2): 127-150.