06 Aug

Kants problematischer Religionsbegriff

Von Christian Danz (Wien)

Mit seiner Erkenntniskritik hat Immanuel Kant die Grundlagen der modernen Religionsphilosophie und protestantischen Theologie geschaffen. Gleichwohl ist sein eigener Religionsbegriff heute nicht mehr fortsetzbar. Für Kant ist Religion kein Bestandteil der theoretischen Erkenntnis, sondern der praktischen Vernunft, genauer: ihrer Anwendung auf den Menschen. Erst in der Realisierung der Moral durch den Menschen kommt Gott in der kantischen Religionsphilosophie ins Spiel. Er repräsentiert die Beziehbarkeit und Kompatibilität von freiem sittlichen Handeln und Naturnotwendigkeit, die in jedem Handeln bereits vorausgesetzt, aber nicht hervorgebracht werden kann. Kants Gottesgedanke als Schöpfer, Gesetzgeber und Richter symbolisiert die reflexive Struktur des sittlichen Handlungsbewusstseins. Wenn aber von Religion nur dort die Rede sein kann, wo Moral vorliegt, dann ist sie eine Funktion von dieser und nichts Eigenständiges mehr.

30 Jul

Was macht eine resiliente Demokratie aus?

Prof. Dr. Tine Stein im Gespräch mit Dr. Sarah Rebecca Strömel

Wie können wir die Demokratie vor den inneren und äußeren Bedrohungen schützen? Was steckt hinter dem Konzept der „resilienten Demokratie“? Wie weit sollten staatliche Befugnisse im Umgang mit einer der größten Herausforderungen, nämlich der Klimakrise gehen und was können wir hierbei von Hans Jonas lernen? Diese und weitere Fragen thematisiert Dr. Sarah Rebecca Strömel (Universität Regensburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Tine Stein (Universität Göttingen).

Die Themen:

00:00 Willkommen, Prof. Tine Stein!
00:58 Derzeit ist überall zu lesen und zu hören, dass sich die Demokratie in der Krise befinde. Einerseits, weil Gefahren wie Pandemien, Kriege und Umweltkatastrophen auf die Demokratie einwirken, andererseits weil die innere Stabilität durch populistische und extremistische Gruppen bedroht wird. Gleichzeitig stand die Demokratie historisch immer wieder vor Herausforderungen. Ist unsere Demokratie im liberalen, rechtsstaatlichen Sinne momentan tatsächlich stärker denn je gefährdet?
02:43 Wie können wir unsere Demokratie gegen die Bedrohungen von innen und außen schützen? Wie schaffen wir es für die Grundwerte zu werben und das Vertrauen wiederherzustellen?
04:53 Auch in Abgrenzung zur „wehrhaften“ oder „streitbaren Demokratie“ machen Sie in Ihren Publikationen den Begriff „resiliente Demokratie“ stark. Was meinen Sie damit und wieso halten Sie das Konzept für zielführend?
06:53 Einen konkreten Vorschlag auf institutioneller Ebene zum Umgang mit der ökologischen Krise haben Sie in Ihrer Doktorarbeit unterbreitet: einen „Ökologischen Rat“. Wie sah dieser Vorschlag im Detail aus – und warum haben es Verfassungsreformen so schwer?
11:19 In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Hans Jonas in Anlehnung an den kategorischen Imperativ von Kant einen neuen kategorischen Imperativ formuliert, der da lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Dieser Imperativ verortet die ökologische Verantwortung klar auf individueller Ebene. Wie weit sollten staatliche Befugnisse beim Thema Umweltschutz gehen?
14:04 Im Zusammenhang mit der Frage nach Klimaschutz und Umweltkatastrophen werden die möglichen „Rechte zukünftiger Generationen“ diskutiert. Sollten wir zukünftigen Generationen Rechte einräumen und wenn ja, warum?
16:20 Bei der Suche nach möglichen Ursachen für den inneren Stabilitätsverlust der Demokratie fällt im historischen Vergleich auf, dass sich die Rolle der Religion stark verändert hat. Sie haben – Böckenförde folgend – auf einen Zusammenhang zwischen unserem Begriff von Menschenwürde/Menschenrechten und christlichen Impulsen hingewiesen. Brauchen wir die Religion als Bindeglied für die Bürgerschaft und Impulsgeber zu bestimmten Werten der Demokratie, wie beispielsweise schon Rousseau und Tocqueville vermutet haben?
21:29 Was können wir in unserem alltäglichen Umgang miteinander tun, in der Öffentlichkeit aber auch im Privaten, um unsere Demokratie zu schützen und zu erhalten?

16 Jan

Ein religionspädagogischer Beutelsbacher Konsens? Der Schwerter Konsent als Ergebnis einer Fachtagung

Von Jan-Hendrik Herbst (TU Dortmund)


In unterschiedlichen Fachdidaktiken gibt es eine Auseinandersetzung um den Beutelsbacher Konsens (BK), die Neutralität von schulischer Bildung und eine „Kontroverse über Kontroversitätsgebote“. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Aktualisierungen und Modifizierungen vom BK vorgenommen, u. a. im Magdeburger Manifest (Demokratiepädagogik), in der Frankfurter Erklärung (kritische politische Bildung) und im Dresdener Konsens (Philosophiedidaktik). Für Religionspädagogik und religiöse Bildung gab es ein vergleichbares Koordinatensystem bisher nicht – auch wenn der BK religionspädagogisch durchaus rezipiert wurde. Diese Rezeption erfährt dabei Impulse durch die anderen Fachdidaktiken und sie wird durch aktuelle gesellschaftliche Debatten intensiviert (z. B. durch die kontroversen Auseinandersetzung über Migrationspolitik, Coronamaßnahmen und Waffenlieferungen – allesamt Themen, die auch im Rahmen religiöser Bildung diskutiert werden). Vor diesem Hintergrund wurde im März 2022 eine religionspädagogische Tagung organisiert, die anhand konkreter und gesellschaftlicher Themen religiöser Bildung (Ökonomie, Ökologie und Antisemitismus) die Fragen rund um Kontroversität, Positionalität und Neutralität thematisierte. Eine Perspektive der Tagung war es auch, die Möglichkeit und Notwendigkeit eines religionspädagogischen BKs und seiner Ausformulierung zu diskutieren. Als Ergebnis dieser Diskussion wurde nun, am 29. September 2022, der sog. „Schwerter Konsent“ publiziert. Bewusst wurde auf den stärkeren Begriff „Konsens“ (Einigung, der alle zustimmen) verzichtet und die schwächere Bezeichnung „Konsent“ (Einigung, die niemand ablehnt) gewählt. Diese Begrifflichkeit aus der Soziokratie zeigt an, dass keine schwerwiegenden Einwände mehr vorliegen. Damit sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ähnlichen Prinzipiensets angezeigt, die den „Schwerter Konsent“ inspiriert haben.

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21 Jun

Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen? Internationale Diskussionen um ‚Kontroversität‘ und ‚Positionalität‘ von (religiöser) Bildung

Von Jan-Hendrik Herbst (TU Dortmund)


Am 10. Januar titelt die Washington Post (WP): „Ein republikanischer Senator vertritt die Auffassung, dass Lehrkräfte im Unterricht über Nationalsozialismus und Faschismus ‚unparteiisch sein‘ sollen.“ Diese Position vertrat Scott Baldwin, um den es im Artikel geht, im Kontext eines Gesetzesentwurfs in Indiana (‚Bill 167‘), der es Eltern erlauben sollte, sich aktiv gegen „spaltende Ideologien“ im Klassenzimmer einzusetzen. Auch wenn Baldwin die Aussage nach heftiger Kritik etwas relativierte, steht sie doch exemplarisch für eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der eine wertebezogene Dimension von pädagogischer Praxis geleugnet bzw. eine bestimmte Form (‚pro-demokratisch‘; ‚pro-liberal‘ o.ä.) angegriffen wird. Bereits im Artikel der WP wird ein anderes Beispiel angeführt: Vor weniger als drei Monaten musste sich ein Schulverwalter in Nordtexas dafür entschuldigen, dass er Pädagog:innen dazu angewiesen hatte, Lesematerial mit „gegensätzlichen“ Ansichten zum Holocaust bereitzustellen. Der Kontext dieser Anweisung war ein neues Gesetz, welches Lehrkräfte zu einer multiperspektivischen Didaktik bei „gegenwärtig kontroversen“ Themen verpflichtete.

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01 Jun

Von religiösen Eiferern und Fanatikern

Von Ruth Rebecca Tietjen (Kopenhagen)


Von religiösem Eifer ist allerorts die Rede: er wird angeführt, um religiös motivierte oder legitimierte Gewalt zu erklären, soll religiösen Fanatismus motivieren oder sogar mit konstituieren. Was aber ist religiöser Eifer? Wie hängt er mit religiöser Gewalt zusammen? Was trägt unsere jeweils eigene Perspektive auf Religion, Leidenschaft, Politik und Gewalt, die wir immer schon mitbringen und einnehmen, zu unserem Verständnis oder Miss-Verständnis religiösen Eifers bei?

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25 Apr

Rawls und die Religion. Zum Verhältnis zwischen Glauben und öffentlicher Rechtfertigung

Von Michael Roseneck (Frankfurt und Mainz)


Die Sozialforschung ist weitestgehend von der Prognose Max Webers abgerückt, dass Modernisierung und die Trennung von Kirche und Staat zugleich auch einen Bedeutungsverlust der Religion bedingen. Vielmehr beziehen religiöse Akteure in der demokratischen Öffentlichkeit oder in Institutionen wie beratenden Ethikkommissionen prominent Stellung, zum Beispiel zu moralisch bedeutsamen Fragen wie denen von Abtreibung, Asylpolitik oder Medizinethik, und üben damit potentiell Einfluss auf den Willensbildungsprozess aus.[i]

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28 Mrz

Rawls und die Religion

Von Martin Breul (Erfurt)


Es hat nicht viel gefehlt, und Rawls wäre nicht der bedeutendste Vertreter der Politischen Philosophie im 20. Jahrhundert, sondern Theologe und Pfarrer geworden: Vor seinem Studium und während seines Dienstes im US-Militär im 2. Weltkrieg spielte Rawls – als gläubiger episkopaler Christ – mit dem Gedanken, Priester zu werden; und selbst als er diese Idee aufgrund seiner im Krieg in Frage gestellten Religiosität wieder aufgab, blieb er interessiert an theologischen Fragestellungen. Seine Abschlussarbeit am Philosophy Department der Universität Princeton trug den Titel „Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube“. Auch wenn Rawls keine Karriere in der Theologie verfolgte, ist die Stellung der Religion in der politischen Öffentlichkeit eines liberalen Verfassungsstaats ein Dauerthema seiner späteren Werke. Welches Verhältnis hat Rawls also zur Religion? Welchen Stellenwert hat die Religion in seiner Version des Politischen Liberalismus? Und war Rawls am Ende gar ein religiöser Denker?

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08 Sep

Pfingsten – oder wie das Christentum seinen religiösen Wahrheitsanspruch und die Toleranz Anderen gegenüber miteinander verbindet.

Von Martin Wendte (Pfarrer der Friedenskirche und Citykirchenpfarrer, Ludwigsburg)


Einstieg: Buddhistische Bäuche und saudi-arabische Gefängnisse – wie erleben wir die Zuordnung von Toleranz und Wahrheit im Bereich der Religion?

Zwei Szenen zum Einstieg: Von den Bücherregalen vieler Menschenfreunde aus dem sozialökologischen Milieu grüßt eine Buddhafigur. Da sitzt er, der Erleuchtete, mit gütigem Lächeln, meist mit sympathischem Bauchansatz, oft in Bronze oder Plastik gegossen. Er strahlt auch mit seinen nur 30 Zentimetern Größe in den ganzen Raum hinaus aus, dass Du schon Deinen eigenen Weg finden wirst, und dass es gut ist, solange das im Bereich positiver Vibrations liegt. Da macht es dann keinen Unterschied, ob Du die Kraft von diesem wahren Selbst in Dir dann Gott oder Allah nennst, Buddha oder Shiwa.  – Doch vielleicht flackert in demselben Zimmer auch das Hellblau eines Laptops, auf dem neueste Nachrichten aus Saudi-Arabien vermeldet werden: Dort wurde ein Mann am Flughafen gefasst und ins Gefängnis geworfen, weil er Saudi-Arabien illegal verlassen wollte – er konvertierte zum Christentum und ist daher in Saudi-Arabien vom Tode bedroht, weil das Christentum eine unwahre Religion ist, und ihr zu folgen ist nicht tolerabel.

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19 Nov

Zur Rolle von Religion und Weltanschauungen in der Tierethik

von Clemens Wustmans (Berlin)


Religiöse Überzeugungen spielen im komplexen Feld von Tierethik, Tierschutz und Tierrechtsbewegung eine ambivalente Rolle: Tierschutzvereine und Tierheime sind in großer Zahl nach Albert Schweitzer benannt, auf der Ebene sozialer Bewegungen begründen nicht wenige Menschen ihre Motivation für den Tierschutz mit ihrer religiösen Sicht auf die Welt, um sich für ihre Mitgeschöpfe einzusetzen (ein Begriff, der so auch im deutschen Tierschutzgesetz zu finden ist) und zumindest im deutschsprachigen Raum ist die Umweltbewegung der 1970er und 80er Jahre kaum ohne ihre religiöse Dimension denkbar.

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20 Aug

Das Theodizeeproblem oder ein Problem mit der Theodizee? Was passiert mit klassischen Fragen, wenn wir die Religionsphilosophie neu denken?

von Amber L. Griffioen (Konstanz)


Wer mal eine Einführung in die „klassischen Debatten“ der Religionsphilosophie besucht hat, ist wahrscheinlich über den Begriff Theodizee gestolpert. Grob gesagt ist eine Theodizee der Versuch, den allmächtigen, allwissenden, allgütigen Gott des sogenannten klassischen Theismus angesichts der Übel in der Welt zu rechtfertigen. Etwas weniger grob gesagt geht es bei der Theodizee nicht wirklich darum, Gott zu rechtfertigen (denn wenn es eine solche Gottheit gibt, braucht diese unsere Hilfe nicht, sich zu verteidigen). Es geht vielmehr darum, die Überzeugung[1] derjenigen zu rechtfertigen, die an diesen Gott glauben. Dies ist eine wichtige Präzisierung, denn sie deutet auf einen zentralen Schwerpunkt der analytischen Religionsphilosophie des 20-21. Jahrhunderts hin, nämlich auf den wiederholten Versuch, die Rationalität oder zumindest die rationale Zulässigkeit der klassisch monotheistischen Überzeugung zu prüfen (und meistens zu verteidigen) – hier in Anbetracht eines möglichen defeaters (Gegenbelegs), nämlich der Menge an erlebtem Bösen bzw. subjektivem Leiden in der Welt. Dieser Fokus auf die Rationalität der religiösen Überzeugung macht das sogenannte „Theodizeeproblem“ also eher zu einem Rätsel für die Religionsphilosophie, das es zu „lösen“ gilt: Wie kann man den klassischen Monotheismus mit den Übeln der Welt so versöhnen, dass es nicht irrational wäre, weiterhin an diesen Gott zu glauben?

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