Warum es höchste Zeit ist, Rawls zu historisieren – und so die politische Philosophie der Gegenwart vom Bann des politischen Liberalismus zu befreien
Von Oliver Flügel-Martinsen (Bielefeld)
Rawls‘ politische Philosophie kann seit Erscheinen seines epochemachenden Buches A Theory of Justice im Jahr 1971 als das einflussreichste Paradigma der politischen Philosophie der Gegenwart gelten. Das mag man bewundern. Aber eine solche Dominanz – welcher Prägung auch immer – schränkt nicht nur im Allgemeinendie Vielfalt politischen Denkens ein. Vor allem ist Rawls‘ Denken im Besonderen nur wenig geeignet, zeitdiagnostisch und gesellschaftstheoretisch informierte kritische Perspektiven auf unsere politische Gegenwart zu eröffnen, deren wir in einer polarisierten politischen Welt so dringend wie vielleicht noch nie bedürfen und von denen sich weite Teile der heutigen politischen Philosophie aufgrund des rawlsschen Einflusses denkbar weit entfernt haben.
Wirkungsgeschichte lässt sich nicht prognostizieren. Wer zu Lebzeiten in aller Munde gewesen ist, kann schon rasch nach dem Tod aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwinden. Knapp zwei Dekaden nach John Rawls‘ Tod lässt sich aber zweifelsohne festhalten, dass dessen Einfluss nicht nur auf die Gerechtigkeitstheorie, sondern auf die normative politische Philosophie insgesamt immer noch so groß ist, dass sich durchaus von einer Hegemonie des rawlsschen Paradigmas sprechen lässt. Zwar mehren sich gerade in jüngerer Zeit kritische Absetzungsbewegungen, die, etwa im Falle von Danielle Allens Buch Politische Gleichheit (2020) und noch sehr viel deutlicher Katrina Forresters Studie In the Shadow of Justice (2020), auch von Rawls‘ Wirkungsstätte Harvard aus artikuliert werden, aber nicht nur spezifische inhaltliche Thesen, sondern vor allem Rawls‘ Grundausrichtung und Rahmenannahmen prägen weiterhin in hohem Maße die politische Philosophie der Gegenwart.
Die Distanzierung der politischen Philosophie von der Aufgabe einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die Axel Honneth in Das Recht der Freiheit (2011, 14) zu Recht als eine „der größten Beschränkungen, unter denen die politische Philosophie der Gegenwart leidet“, bezeichnet hat und die ich für eine fatalen Effekt der Wirkungsgeschichte des rawlsschen Denkens halte, lässt sich auf den ersten Blick nicht an Rawls‘ Themen erkennen: Mit Gerechtigkeit, Pluralismus und demokratischem Konstitutionalismus werden so beispielsweise Gegenstände angesprochen, die gerade auch in unserer politischen Gegenwart von großer Bedeutung sind. Auch die von Rawls in erstaunlichem Maße inspirierten, wenngleich von ihm selbst nur sehr zögerlich bearbeiteten Diskurse der globalen Gerechtigkeitstheorie scheinen angesichts massiver globaler Ungleichheiten höchst relevant. Es sind also weniger die Themen, sondern, so möchte ich im Anschluss an Raymond Geuss‘ Kritik der politischen Philosophie (2014, 128) behaupten, „seine[…] ganze[…] Art, sich dem Gegenstand der politischen Philosophie zu nähern“, die zutiefst problematisch ist. Was genau meine ich damit?
Um meine grundsätzliche Kritik am rawlsschen politischen Liberalismus und seinen philosophischen Prämissen etwas plastischer hervortreten zu lassen, werde ich diese aus der Perspektive der radikalen Demokratietheorie (vgl. Comtesse/Flügel-Martinsen/Martinsen/Nonhoff 2019 und Flügel-Martinsen 2020) entwickeln – eines alternativen Verständnisses politischer Philosophie und Theorie, das nach meinem Dafürhalten im Unterschied zu Rawls und dem von ihm beeinflussten liberalen politischen Philosophieren von Anfang an stark auf eine zeitdiagnostisch und gesellschaftstheoretisch informierte kritische Analyse unserer Gegenwartsgesellschaften setzt. Radikaldemokratische Ansätze lassen sich geradezu als paradigmatischer Gegenentwurf zum rawlsschen liberalen Mainstream der politischen Philosophie verstehen. Zwar sind die Gründe der Ablehnung ebenso vielfältig wie der deutlich pluralistisch verfasste radikaldemokratische Diskurs überhaupt, die Hauptstoßrichtung lässt sich aber an zwei Einwänden verdeutlichen, die in radikaldemokratischen Diskursen über die verschiedenen Ansätze hinweg in großem Maße geteilt werden.
Am ersten Einwand wird noch einmal deutlich, dass es der radikaldemokratischen Liberalismuskritik nicht nur um die Ablehnung einzelner Aspekte oder Positionen des rawlsschen Denkens, sondern um das zugrundeliegende Theorie- bzw. Philosophieverständnis im Ganzen geht: Für liberale Positionen ist im Anschluss an Rawls nämlich eine Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie wesentlich, die dazu führt, dass die Aufgabe der politischen Philosophie wesentlich in der Begründung normativer Prinzipien auf der Ebene idealer Theorie gesehen wird, die dann erst in einem zweiten Schritt – unter einer mehr oder weniger detaillierten Einbeziehung von Einsichten empirischer Sozialwissenschaften – auf die Ebene nicht-idealer Theorie übertragen werden. Auch wenn der spätere Rawls unterstreicht, dass seine Konzeption insgesamt einen politischen Charakter aufweise und nicht als umfassende moralische Lehre aufzufassen sei, bleibt seine politische Philosophie letztlich trotzdem nur eine angewandte Moralphilosophie (vgl. Williams 2005, 2), weil er zunächst abstrakt Normen begründet, die dann erst auf politische Zusammenhänge übertragen werden. Radikaldemokratische Ansätze richten dabei in deutlicher Abgrenzung zu einem solchen, wesentlich auf die Aufgabe von Normbegründungen fixierten und von konkreten gesellschaftlichen Kontexten abstrahierenden Verständnis politischer Philosophie das Augenmerk von vornherein auf eine gesellschaftstheoretische und zeitdiagnostische Ausrichtung der Begriffsbildung. Die dafür erforderliche Analyse gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsbeziehungen kennt dabei durchaus eine große Variantenvielfalt und kann sich etwa auf Inspirationen durch Foucaults Diskurstheorie ebenso wie durch Gramscis Hegemonietheorie stützen. Gegen den rawlsschen Liberalismus wird damit insgesamt geltend gemacht, dass politische Fragen auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie überhaupt nicht angemessen erfasst werden können, weil das Politische nur in seiner Verwobenheit in spezifischen historischen Konstellationen und diskursiven Sinn-, Wissens-, Macht- und Normordnungen überhaupt erfasst werden kann. In der polemischen Zuspitzung, die Raymond Geuss dem Einwand der fehlenden Analyse von Machtverhältnissen und der sie einbettenden sozialen Wirklichkeit in Rawls‘ politischer Philosophie gibt, müssen rawlssche Ansätze dann mit Blick auf die wirkliche Politik als Blindgänger oder „potenzielle ideologische Interventionen“ (Geuss 2014, 128) erscheinen.
Die Struktur dieses ersten grundsätzlichen Einwands lässt sich an einem zweiten, konkreteren Einwand noch etwas deutlicher herausarbeiten. Während Rawls und die von ihm beeinflussten liberalen, normativ-analytischen Ansätze insgesamt auf die normative Vorannahme autonomer Subjekte und ihrer Rechte zurückgreifen, treten viele radikaldemokratische Positionen zunächst einmal einen Schritt zurück und stellen die Frage danach, wie welche Subjektpositionen hervorgebracht werden und in welche Machtbeziehungen diese Subjektivierungen eingelassen sind. Die Vorstellung eines autonomen Subjekts, die für den politischen Liberalismus rawlsscher Observanz einen gemeinsamen normativen Ausgangspunkt darstellt, wird so zu einer spezifischen Subjektposition bestimmter Diskurse und verliert damit ihre Selbstverständlichkeit. Für radikaldemokratische Ansätze ist deshalb die kritische Analyse sozialer und politischer Entstehungskontexte von Subjektformen eine wesentliche Aufgabe, die in liberalen Konzeptionen in der Regel ausgeblendet wird. Statt die Vorstellung autonomer, primär negativ freier Subjekte zur Prämisse politischen Philosophierens zu machen, müsste es deshalb aus radikaldemokratischer Sicht viel eher darum gehen, die Idee des autonomen Subjekts als eine historisch situierte Konzeption zu analysieren, die in spezifische Macht- und Sinnordnungen eingelassen ist.
Gerade an diesen beiden Dimensionen – der Begründung normativer Prinzipien als kardinaler Aufgabe politischer Philosophie und der Prämisse, über diese Normbegründungen im Ausgangspunkt der Vorstellungen eines autonomen Subjekts nachzusinnen – wird deutlich, dass Rawls auch dort fortwirkt, wo sich die liberale politische Philosophie von ihm absetzt. Das lässt sich beispielsweise an Joseph Carens (2017) und Arash Abizadehs (2017) Versuchen beobachten, die politische Philosophie zu einem Denken jenseits der Grenze zu führen und damit über den für Rawls geradezu selbstverständlichen Referenzpunkt nationalstaatlich organisierter Gesellschaften hinauszugehen. Beide halten nämlich nicht nur an der normativen Prämisse der Rechte autonomer Subjekte fest, sondern sie abstrahieren im Ausgangspunkt dieser Prämisse auch von den konkreten Grenzregimen unserer Gegenwart, überspringen also die Aufgabe einer Gegenwartsanalyse, um stattdessen ganz im rawlsschen Modus der idealen Theorie abstrakt und losgelöst über die Normen nachzudenken, die sich aus den Rechten autonomer Subjekte ergeben.
Einige Strömungen innerhalb des radikaldemokratischen Diskurses, denen ich selbst zuneige, verstehen diese Kritik am politischen Liberalismus vor allem auch als eine Verschiebung der Aufgaben politischer Philosophie und Theorie von der Begründung normativer Prinzipien zur kritischen Befragung von Machtverhältnissen und Sinnordnungen. Insgesamt bieten radikale Demokratietheorien damit eine fruchtbare Alternative zu der im Anschluss an Rawls in der politischen Philosophie der Gegenwart hegemonialen und aus radikaldemokratischer Perspektive fehlgeleiteten Tendenz, Fragen der politischen Philosophie als solche einer angewandten Moralphilosophie zu behandeln.
Im Lichte dieser Kritik muss Rawls also doppelt historisiert werden: Die Grundannahmen und sein Verständnis politischer Philosophie müssen vor dem Hintergrund konkreter historischer Diskurse situiert werden, statt sie als allgemeine Ausgangspunkte zu überhöhen, und er selbst muss dadurch als ein Klassiker der jüngeren politischen Philosophiegeschichte distanziert werden, dessen enormer Einfluss ein interessanter Gegenstand theoriegeschichtlicher Studien sein kann, aber dessen übermächtige Präsenz in den Gegenwartsdiskursen der politischen Philosophie dadurch jedoch gerade gebrochen werden muss.
Erst dann gewinnt die politische Philosophie wieder den Anschluss an die kritischen Gegenwartsdiskurse in den interpretativen Sozialwissenschaften und in der politischen Öffentlichkeit, den sie derzeit in Folge der Fixierung auf das rawlssche Paradigma weitgehend verloren hat, um abstrakt über das große Ganze zu sinnieren, zu dem sie mangels kritischer Gesellschaftsanalyse den Kontakt aber gerade unterbrochen hat.
Abizadeh, Arash: Demokratietheoretische Argumente gegen die staatliche Grenzhoheit, in: Dietrich, Frank (Hg.): Ethik der Migration, Berlin: Suhrkamp 2017,
Allen, Danielle: Politische Gleichheit, Berlin: Suhrkamp 2020.
Carens, Joseph: Ein Plädoyer für offene Grenzen, in: Dietrich, Frank (Hg.): Ethik der Migration, Berlin: Suhrkamp 2017, 166-211.
Comtesse, Dagmar/Flügel-Martinsen, Oliver/Martinsen, Franziska/Nonhoff, Martin (Hg.): Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch, Berlin: Suhrkamp 2019.
Flügel-Martinsen, Oliver: Radikale Demokratietheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2020.
Forrester Katrina: In the Shadow of Justice, Princeton & Oxford: Princeton University Press 2020.
Geuss, Raymond: Kritik der politischen Philosophie, Hamburg: Hamburger Edition 2014.
Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit, Berlin: Suhrkamp 2011.
Rawls, John: A Theory of Justice, Cambridge, MA: Harvard University Press 1999.
Williams, Bernard, In the Beginning Was the Deed, Princeton: Princeton University Press 2005.
Oliver Flügel-Martinsen, Prof. Dr., lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bielefeld. Zu seinen jüngeren Buchveröffentlichungen gehören: Kritik der Gegenwart. Politische Theorie als kritische Zeitdiagnose, Bielefeld: Transcript 2021 i.E. und Radikale Demokratietheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2020.