Kants Philosophie der Trennung und die Krisen der Gegenwart
Von Georg Spoo (Freibug)
Kants Kritik der reinen Vernunft ist eine Philosophie der Trennung. Ein Hauptziel dieses Werkes besteht darin, die Frage der Epistemologie (Wie ist sicheres Wissen von räumlichen Gegenständen möglich?) und die Frage der Ontologie (Wie hängen Geist und Materie miteinander zusammen?) zu trennen. Dadurch soll das Problem vermieden werden, das durch die Vermischung dieser Fragen entsteht: Da die ontologische Frage unlösbar ist, bleibt die epistemologische Frage automatisch unbeantwortet, was auf den Zweifel an der Außenwelt hinausläuft. Durch die Trennung beider Fragen lässt sich das Problem, das aus ihrer Vermischung folgt, vermeiden: Nach Kant ist die Begründung unseres Wissens von Gegenständen möglich, ohne hierfür erklären zu müssen, ob und wie das, wovon wir etwas wissen, an sich tatsächlich mit unserem Bewusstsein zusammenhängt.
Diese Art der Problemlösung ist kennzeichnend für Moderne und Aufklärung überhaupt. Sie drückt auf einer tieferen Ebene das diskursive Selbstverständnis und die funktionale Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft aus: Nicht nur epistemische, sondern vor allem politische und soziale Konflikte werden gelöst, indem die jeweiligen Sphären und Geltungsbereiche zugleich als eigenständig etabliert und voneinander getrennt werden. Diese rationale und effiziente Strategie der Problemlösung hat aber die Kehrseite, dass das Ganze aus dem Blick gerät und damit irrational wird. Im Falle von Kants Epistemologie: Eine Begründung des Wissens bleibt einseitig, wenn nicht zugleich geklärt wird, wie unser Bewusstsein faktisch mit der Welt, von der es etwas weiß, zusammenhängt. Um die epistemischen, sozialen und ökologischen Mehrfachkrisen unserer Gegenwart zu überwinden, müssen wir ein Denken überwinden, das in funktionalen Trennungen verhaftet bleibt. Wir müssen die Frage nach dem Zusammenhang des Ganzen neu und radikal stellen.