Nein, Sex ist nicht wie eine Tasse Tee

von Maya Burkhardt


„Entscheidungen bezüglich des Sexuallebens können Erwägungen über Aufrichtigkeit, Rücksicht auf andere, Klugheit oder die Schadensvermeidung für andere usw. einschließen, aber dasselbe ließe sich zu Entscheidungen sagen, die das Autofahren betreffen. (Tatsächlich sind die moralischen Probleme, zu denen das Autofahren Anlass gibt, sowohl vom Standpunkt der Umwelt als auch dem der Sicherheit, viel schwerwiegender als Probleme, die sich aus geschütztem Sexualverkehr ergeben.) Dieses Buch enthält demgemäß keine Diskussion über Sexualmoral. Es gibt wichtigere Fragen der Ethik, die zu bedenken sind.“

Das schreibt Peter Singer in der Einleitung der dritten Auflage seines Buches „Praktische Ethik“ zum Thema Sexualmoral in dem Bemühen, ernstzunehmende moralische Überlegungen von einem „System widerwärtiger puritanischer Verbote […]“ abzugrenzen, „[…] dass hauptsächlich dazu bestimmt ist zu verhindern, dass Menschen ihr Vergnügen haben.“[1] Singer nutzt den Vergleich mit dem Autofahren hier am Anfang seines Buches, um das Thema Sexualität aus seiner weiteren Auseinandersetzung herauszuhalten.

Auch im feministischen Mainstream werden aus einer ähnlichen Motivation heraus vielfach Vergleiche von sexuellen Handlungen zu – im moralischen Sinne – trivialen Tätigkeiten gezogen; Die Beispiele dienen dazu, sich von Prüderie und Puritanismus abzugrenzen und klar zu machen, dass Feminist_innen nicht etwa, wie nicht selten gemutmaßt wird, etwas gegen Sex an sich hätten.

Ein gutes Beispiel für solch einen Vergleich aus dem populärfeministischen Bereich ist das bis heute auf YouTube über 7Millionen Mal angesehene Video „Tea Consent“[2].  Es handelt sich um ein eher didaktisch aufgemachtes Video, das sich an potentielle Vergewaltiger_innen richtet, um sie darüber zu unterrichten, dass es ebenso unangebracht ist, Menschen zum Sex zu zwingen, wie zum Teetrinken. Die Pointe des Videos liegt in der offensichtlichen Absurdität, Menschen gegen deren Willen oder gar während sie bewusstlos sind eine Tasse Tee einzuflößen und die Message ist so simpel wie eingängig: Was moralisch schon für Tee gilt, das kann auch für Sex nicht falsch sein.

Zunächst einmal ist es fraglich, ob es sich, wie in dem Video angedeutet wird, bei sexueller Gewalt um ein bloßes Missverständnis handelt, dem mit Aufklärung über die angemessene Sexetikette begegnet werden kann und sollte. Das offensichtlichste Problem aber an diesem Umgang mit Sexualität ist, dass Sex nicht im Entferntesten das Gleiche ist wie eine Tasse Tee.

Nun handelt es sich bei den beiden Beispielen zugegebenermaßen bloß um Vergleiche, die im Hinblick auf einen ganz bestimmten Umstand Gleichheit zwischen sexuellen und anderen alltäglichen Tätigkeiten behaupten. Die Autor_innen hatten natürlich nicht im Sinn, Sex insgesamt mit Autofahren oder Tee trinken gleichzusetzen, da hier vor allem der moralische Stellenwert von Handlungen verglichen wird:

Durch die Vergleiche soll jeweils deutlich werden, dass sich Sex, was den moralischen Status angeht, zunächst einmal nicht von Autofahren oder Teetrinken unterscheidet. Bei sexuellen Übergriffen sind es demnach bloß die Komponenten Zwang und Gewalt, die die Handlung überhaupt von dem Bereich des moralisch Trivialen abgrenzen. (Wobei Singer das Thema der Einvernehmlichkeit nicht einmal anspricht, sondern in seinem Beispiel offenbar voraussetzt.)

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass, wie auch Singer in seinem Text bemerkt, die Disziplinierung und Sanktion von Sexualität vielfach dazu genutzt wurde und wird, insbesondere religiöse Herrschaft zu errichten und aufrechtzuerhalten und Gewalt gegen bestimmte Gruppen von Menschen zu rechtfertigen, ist dieser Impuls, Sex zu einem moralisch ganz und gar unheiklen Thema erklären zu wollen, nachvollziehbar.

Die Problematik an diesem Umgang mit Sex und Sexualität wird allerdings immer dann besonders deutlich, wenn wir uns etwas eingehender mit sexueller Gewalt beschäftigen. Menschen neigen in der Regel dazu, sexuelle Gewalt mit einem spezifischen Schaden zu assoziieren, der sich in seinen Folgen von anderen Schäden unterscheidet und der moralisch sehr viel schwerer wiegt, als einer, der durch den erzwungenen Konsum einer Tasse Tee entsteht. Wir gehen wahrscheinlich erst einmal davon aus, dass einer Person, die vergewaltigt worden ist, ein schlimmeres moralisches Unrecht angetan wurde, als dem Tee-Opfer aus dem Video und mindestens eine andere Art von Übel als jemandem, der in einem Verkehrsunfall zu Schaden kam. Vermutlich würden dem sogar die Produzenten des Videos zustimmen, weshalb es dann auch so seltsam anmutet, dass in dem Video angemessene Verhaltensweisen in Bezug auf Tee und Einvernehmlichkeit bei sexuellen Handlungen mehr oder weniger als einfache Höflichkeitsregeln kommuniziert und gleichgesetzt werden. Nun ist ein zweiminütiges YouTube Video zugegebenermaßen eine dankbare Zielscheibe für Vorwürfe fehlender Präzision und außerdem ist die Tatsache, dass Menschen dazu neigen, etwas so oder so zu sehen, noch kein Argument dafür, dass es auch so ist. So vertritt beispielsweise die populäre queerfeministische Autorin Mithu M. Sanyal in ihrem Buch „Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens“[3] die These, dass der Schaden, der durch sexuelle Gewalt am Opfer entsteht, sich nicht fundamental von anderen möglichen Schäden, beispielsweise durch andere Formen von Gewalt oder Unfälle hervorgerufen, unterscheiden muss. Konsequenterweise vergleicht die Autorin in ihrem Buch und in einem Zeitungsartikel auch mehrfach Vergewaltigungs- mit Unfall- oder anderen Gewaltopfern.[4]

Sie bezieht sich dabei auf theoretischer Ebene unter anderem auf folgenden Ausspruch des französischen Theoretikers Michel Foucault, der ihr als Grundlage für ihre Überlegungen dient:

„Ob man irgendjemandem seine Faust in die Fresse oder seinen Penis ins Geschlechtsteil schlägt, bezeichnet keinen Unterschied. […] Die Sexualität kann auf keinen Fall Gegenstand einer Bestrafung sein. Und wenn man Vergewaltigung bestraft, dann sollte man ausschließlich die physische Gewalt bestrafen.“[5]

Aus Foucaults Perspektive macht diese Position insofern Sinn, als er unseren Umgang mit sexueller Gewalt und die spezifische Demütigung, die Scham und den emotionalen Schmerz, die durch die sexuelle Ebene des Aktes beim Opfer entstehen als durch einen gesellschaftlichen Diskurs hergestellt ansieht. Auf die Stimmigkeit dieser Theorie möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen und auch nicht den Beweis antreten, dass Foucault damit unrecht hat. Vielmehr möchte ich im Folgenden begründen, wieso die konkreten Überlegungen Foucaults und Sanyals zum Umgang mit sexueller Gewalt insbesondere aus einer feministischen Perspektive als unzureichend zu betrachten sind:

Zunächst einmal lässt sich einwenden, dass es für einige Menschen allein schon in Anbetracht der potentiellen Folgen sehr wohl einen Unterschied macht, ob man ihnen eine „Faust in die Fresse“ oder „seinen Penis ins Geschlechtsteil schlägt“, weil ein bestimmter Anteil von Menschen im zweiten Fall der Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft ausgesetzt ist. Es deutet vieles darauf hin, dass die Gebärfähigkeit von Menschen mit weiblichen Reproduktionsorganen biologische Tatsache ist. Wer eine gebärfähige Person vergewaltigt, übt über die traumatische Erfahrung der Vergewaltigung selbst hinaus, für die nächsten Wochen, Monate oder gar den Rest des Lebens eine massive Macht über den Körper, dessen reproduktive Funktionen und das weitere Leben des Opfers aus. Je nachdem ob die Betroffene Zugang zu sicheren und legalen Möglichkeiten hat, eine Schwangerschaft abzubrechen, muss sie sich möglicherweise zudem in Lebensgefahr begeben, um abzutreiben. Nicht zuletzt berührt die Auseinandersetzung mit Vergewaltigungen also auch den angrenzenden feministischen Kampf um reproduktive Rechte, der sich in hohem Maße auf Menschen biologisch weiblichen Geschlechts auswirkt. Damit bergen Vergewaltigungen für die meisten Frauen einen potentiellen Extraschaden, wenn hierin auch nicht der ganze Schaden durch sexuelle Gewalt liegen kann, denn sexuelle Gewalt geht nicht immer von Männern aus und richtet sich nicht stets gegen Frauen. Zudem muss eine Vergewaltigung nicht zwangsläufig mit der Penetration einer Vagina durch einen Penis einhergehen.

Trotzdem wird allein hieraus bereits deutlich, dass Foucault biologisch männliche Körper zum Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Überlegungen macht, deren Ergebnisse er dann unzulässigerweise auf alle Menschen bezieht.

Diese Ausblendung von weiblichen Körpern stellt meines Erachtens für sich genommen schon einen Grund dar, das Konzept als Grundlage für feministische Überlegungen zu verwerfen.

Es lassen sich an der den oben genannten Vergleichen zugrundeliegenden Idee, Sexualität sei an sich moralisch trivial, jedoch noch weitere Probleme ausmachen.

Denn sexuelle Gewalt als ‚gegen den ausdrücklichen Willen des Opfers erzwungene sexuelle Handlung‘ verstanden, ist schon auf körperlicher Ebene etwas anderes als ein Unfall oder ein anderes Gewaltverbrechen, auch ohne die speziellen reproduktiven Gefahren für einen Teil der Betroffenen zu berücksichtigen. Wenn wir von einem Unfallopfer sprechen, so sprechen wir von jemandem, der körperliche Verletzungen davongetragen hat oder dessen Eigentum beschädigt wurde. Ein nichtsexuelles körperliches Gewaltverbrechen zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass das Opfer gegen seinen Willen körperliche Verletzungen davonträgt, Schmerzen erleidet oder körperlich in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Für sexuelle Gewalt ist dieser körperliche oder sich auf Objekte beziehende Schaden überhaupt nicht notwendig. Sie muss auch nicht mit körperlichen Schmerzen einhergehen. Körperliche Verletzung oder Schmerzen sind nicht Teil der eigentlichen Tat, sondern kommen zu ihr möglicherweise noch hinzu, beispielsweise als ein Mittel um den sexuellen Akt durchzusetzen. Auch ein Einschränken der Bewegungsfreiheit muss nicht unbedingt zu einer sexuellen Gewalttat dazugehören.

Der Schaden durch sexuelle Gewalt lässt sich also weder hinreichend in den potentiellen reproduktiven Folgen noch der zum sexuellen Akt hinzukommenden Gewalt ausmachen.

Übrig bleibt der Zwang zur sexuellen Handlung, wobei der Zwang meist zwar als das entscheidende Merkmal herangezogen wird, durch das sexuelle Gewalt von anderen sexuellen Handlungen abzugrenzen ist, allein Zwang kann auch nicht dasjenige sein, was einen so schweren und spezifischen Schaden konstituiert, wie wir ihn mit sexueller Gewalt verbinden, denn ebenso wichtig ist, wozu ich gezwungen werde, wie sich an dem Tee-Vergleich gut zeigt.

Diejenige Komponente, die sexuelle Gewalt so schwerwiegend macht, muss also die sexuelle Dimension der Handlung sein, zu der das Opfer gezwungen bzw. die am Opfer vollzogen wird.

Das heißt aber auch, dass an Sexualität eine spezifische Vulnerabilität geknüpft sein muss, die sich so weder an Tee, noch an Autofahren ausmachen lässt. Wenn das so ist, dann müssen wir, so glaube ich, Sexualität und sexuellen Handlungen einen speziellen moralischen Status einräumen, der sich von Tätigkeiten wie Autofahren und Teetrinken grundsätzlich unterscheidet.

Wodurch diese spezifische sexuelle Vulnerabilität zustande kommt und ob sie eher, wie Foucault behauptet, diskursiv hergestellt oder doch körperlich begründet ist, ist dadurch noch nicht gesagt. Entscheidend für den moralischen Status sexueller Handlungen ist zunächst aber erst einmal, dass sie existiert und reale Folgen für die Opfer sexueller Gewalt hat. Foucaults Strategie, die sexuelle Dimension theoretisch und strafrechtlich einfach auszublenden und dann darauf zu hoffen, dass auch die zugehörigen kulturellen Kategorien verschwinden, die das Leid verursachen, mag in der Theorie zwar konsequent sein, beruht aber letztlich auf Spekulation. Obwohl Singer, was sein theoretisches Fundament angeht, nicht viel mit Foucault teilt und man die reproduktiven Folgen bei seinem Konzept wenigstens als berücksichtigt betrachten kann, übersieht auch er die spezifische Vulnerabilität, die an Sexualität geknüpft ist. Ganz konkret werden alle drei genannten Autor_innen mit ihren Vergleichen dem Leid der Opfer von sexueller Gewalt nicht gerecht.

Die Annahme einer spezifischen Vulnerabilität durch Sexualität wirft nun wiederum unglücklicherweise sehr komplizierte Fragen darüber auf, ob und wie diese sich auf unseren Umgang mit einvernehmlicher Sexualität auswirken sollte.

Denn wenn an sexuelle Handlungen eine spezifische moralisch relevante Vulnerabilität geknüpft ist, die sich nicht allein aus den Komponenten Zwang bzw. Gewalt und aus potentiellen Schwangerschaften oder anderen körperlichen Folgen ergibt, so sind womöglich Einvernehmlichkeit und ein verantwortungsvoller Umgang mit Verhütung  nicht die einzigen Bedingungen für – im moralischen Sinne – guten Sex. Das könnte aber auch bedeuten, dass die Grenze zwischen sexueller Gewalt und moralisch einwandfreiem Sex anders definiert werden müsste als allein durch das Kriterium der Zustimmung.

 Viele Feminist_innen versuchen diesem Problem zu begegnen, indem sie statt von „sexueller Gewalt“ lieber von „sexualisierter Gewalt“ sprechen. Gewalt und Sex werden hier nicht wie bei Foucault als zwei völlig voneinander getrennte Entitäten behandelt. Trotzdem wird auch hier sprachlich der Eindruck erweckt, es handle sich bei sexueller Gewalt um Gewalt, die gewissermaßen bloß in Sexualität eingewickelt ist. Diese Betrachtungsweise macht, obwohl sie eine gewisse Verwobenheit von Sex und Gewalt in bestimmten Situationen anerkennt, allerdings auch wenig Sinn. Denn vergegenwärtigen wir uns noch einmal, dass, wie oben festgestellt, das spezifische moralische Übel sexueller Gewalt weder allein im Zwang begründet liegen kann, noch in zum sexuellen Akt hinzukommender bzw. ihn ermöglichender Gewalt, so heißt das, dass die Gewalt eben nicht einfach sexualisiert ist, sondern, das, was den Schaden anrichtet zum Teil die sexuelle Handlung selbst sein muss. Insofern ist der Sex in bestimmten Situationen nicht nur nicht von der Gewalt zu trennen, sondern der sexuelle Akt ist in diesen Fällen selbst die Gewalt. Der Begriff „sexuelle Gewalt“ stellt diesen Umstand sehr viel präziser dar.

Deutlich wird, wie ambivalent sich uns Sex im moralischen Sinne darstellt, wenn wir ihn in einigen Situationen als eine Quelle von großem geteiltem Genuss, von Glück oder einfach als zu befriedigendes Bedürfnis wahrnehmen können, während sexuelle Handlungen in anderen Kontexten Gewalt darstellen. Die in einigen Fällen vorhandene Verschränkung von Sexualität mit Reproduktion verkompliziert das Vorhaben, Sexualität moralisch einzuordnen zusätzlich. 

Der kritisierte Umgang aus den genannten Beispielen ist also insofern verlockend, als dass er uns die Frage, wie wir mit der moralischen Ambivalenz von Sexualität umgehen, weitestgehend erspart, weil einfach alles, was für diese Ambivalenz sorgen könnte, aus dem Bereich der Sexualität entfernt und auf den Gewaltbegriff ausgelagert wird.

Eine angemessene moraltheoretische und feministische Auseinandersetzung mit Sexualität müsste jedoch genau an dieser Ambivalenz ansetzen um dem Thema und nicht zuletzt dem konkreten Leid der Opfer von sexueller Gewalt gerecht zu werden.


Maya Burkhardt studiert Philosophie und Kunst in Kassel. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der politischen Philosophie. Insbesondere beschäftigt sie sich mit feministischen Theorien und Fragen zu Sexualität und sexueller Gewalt. 


[1] Peter Singer: Praktische Ethik, 3.Aufl. Stuttgart: Reclam 2017.

[2] https://www.youtube.com/watch?v=oQbei5JGiT8 (13.05.19).

[3] Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens. Hamburg: Edition Nautilus GmbH.

[4] Vgl. Mithu M. Sanyal: Du Opfer! 2017: http://www.taz.de/!5379541/ (13.05.19) und Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens 2016. S. 80.

[5] Zitiert nach: Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens. S.42.