Was kann man mit Nietzsches Philosophie politisch anfangen?
von Hans-Martin Schönherr-Mann (München)
Fridays for Future stiehlt den rechten Populisten gerade die Show. Greta Thunberg erhält explizit für ihr zivilgesellschaftliches Engagement den alternativen Nobelpreis. Altlinke wie Slavoj Žižek, Nancy Fraser, Paul Mason, Wolfgang Streeck oder Eva Illouz hadern mit den Emanzipationsbewegungen der letzten 50 Jahre, denen sie Kollaboration mit dem Neoliberalismus vorwerfen, applaudieren gar ein wenig den Nationalisten oder kehren in traditionelle Lebensformen ein. Die Rechtspopulisten möchten vor die Kennedy-Ära zurück oder Rot-Grün beerdigen – wahrscheinlich im Sinne des Wortes.
Was für eine politische Bedeutung hat Nietzsche vor diesem Hintergrund? Darauf bezogen und im Anschluss an Arthur C. Danto zerfällt sein Werk in zwei Tendenzen: eine idiosynkratische eines perspektivlosen Nihilismus, wenn er nordische Helden und autoritäre Patriarchen bewundert und Demokratie als Vermassung ablehnt. Darauf haben sich schon mal die Nazis berufen, was Identitäre wiederholen können. Dabei entwickelt Nietzsche aber keinerlei antisemitischen Neigungen. Im Gegenteil, darauf hat Hannah Arendt hingewiesen, hatte Nietzsche immer ein unverkrampftes Verhältnis gegenüber Juden.
Und die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Gesamtausgabe entlarvte sein angebliches Werk ‚Der Wille zur Macht‘ als ein Machwerk, das vor allem seine Schwester so zusammenstellte, dass es zur Nazi-Ideologie passen sollte. Das Buch sollte man nicht zitieren! Gut begründet wäre ein Rückgriff rechter Ideologen auf Nietzsches Werk also nicht, was diese freilich nicht schrecken dürfte. Solche Kreise nehmen es nun mal mit Wahrheiten nicht so genau, erfinden lieber welche, die evident den Fakten widersprechen soll. Also wiederum dürfte Nietzsche vor dem Missbrauch nicht geschützt sein.
Allerdings – das bringt ihn trotzdem nicht wirklich in die Nähe solcher Ideologen – ist Nietzsche sicher kein Freund der Demokratie, jedenfalls nicht der seiner Zeit, mit der es aber auch nicht weit her war. Gab es im 19. Jahrhundert Demokraten, denen die Demokratie wichtiger gewesen wäre als die Nation, der Staat oder der Sozialismus? Großbritannien fehlt bis heute eine Verfassung. Für viele war denn die Demokratie nur eine bürgerliche Angelegenheit, die schnell aufzugeben war, wenn es politisch nicht im jeweiligen Sinn klappte. Von Demokratie im Stil eines Verfassungspatriotismus war weit und breit nichts zu sehen.
Nietzsche ist auch sicherlich elitär. Aber die Eliten seiner Zeit schätzte er nicht, die prompt alle blind in den ersten Weltkrieg taumeln würden und dann keinen Weg mehr hinaus fanden. Seine Haltung wirkt auch nur vor dem Hintergrund elitär, dass er das sozialdemokratische Programm der Gleichheit nicht teilte: Es geht ihm nicht darum, dass soziale Wohltaten verteilt werden. Stattdessen propagiert er einen Bund der Wiederkünftigen, die die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen anerkennen, womit er die weit verbreiteten Fortschrittshoffnungen konterkariert, die sich bis heute ja auch als eher fragwürdig erwiesen haben. Doch aus diesem Bund wird niemand ausgeschlossen, braucht man dazu keinen bestimmten Stand so wenig wie Reichtum. Man wird Bildung benötigen – selbstredend nicht die, die das Gymnasium jener Zeit verbreitete.
So entfaltet Nietzsche neben jener vorurteilsbeladenen brutal autoritären Neigung sein eigentliches Denken als Kritik am Christentum, am leeren bürgerlichen Bildungsideal und den egalitären Vorstellungen seiner Zeit. Auch diese verdanken sich dem christlichen Erbe, das alle Lebendigkeit, Leidenschaften, Neigungen sowie Selbstgewissheiten austreibt und statt Stolz Demut verlangt. Die traditionellen ethischen Werte der militarisierten Gesellschaften des 19. Jahrhunderts mit ihren primären Prinzipien von Gehorsam und Untertänigkeit missfallen sogar dem idiosynkratischen Nietzsche, führen diese in einen Materialismus. Denn Kriege werden ja letztlich nur aus ökonomischen Gründen geführt, wie der Imperialismus der europäischen Mächte jener Zeit vorführt, selbst wenn ganze Massen solchen Zielen geopfert werden. Wie erklärt doch Zarathustra: „Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?“ (63)
Just diese so traditionellen wie materialistischen Werte sind für Nietzsche indes gar keine, sind sie vielmehr lebensfeindlich und bleiben vor allem nicht der Erde treu: eine Nähe zur Ökologie? Nicht nur das fordert Nietzsche von jenen Zeitgenossen, die sich nicht gehorsam unterordnen wollen. Vielmehr sollen diese selbst als einzelne neue Werte erfinden, durch die sie über sich hinauswachsen. Das ist nicht nur eine individuelle Perspektive. Damit verlassen sie auch die Pfade der untertänigen Zeitgenossen, die Nietzsche als letzte Menschen bezeichnet. Jene, die sich auf neue Wege begeben, sind zwar noch keine Übermenschen. Aber sie bereiten den Weg dorthin, wird sich der Mensch nun mal evolutionär verändern.
Damit entwickelt Nietzsche eine individualistische Ethik, die zunächst nur in Künstler-, Intellektuellen- und Bohemien-Kreisen auf Gegenliebe stieß, die Nietzsche als erste rezipierten, noch bevor die Nazis versuchten, Nietzsche mit Beschlag zu belegen. Ob ihm diese individualistische Rezeption selbst getaugt hätte, darf man bezweifeln. Jedenfalls er avanciert damit zum Sprachrohr kleiner derartiger Kreise, die versuchen, sich dem übermächtigen kulturellen Druck einer militarisierten Gesellschaft zu entziehen und die, so sieht es einer der ersten Nietzsche Rezipienten, Georg Simmel, diesem Druck notorisch unterliegen werden – und sei es dadurch, dass sie in den großen Kriegen ums Leben kommen werden oder die aus Verzweiflung in jungen Jahren Selbstmord begehen wie Otto Weininger, Carlo Michelstaedter oder die Schwester von Max Scheler.
Nach Charles Taylor ebnet Nietzsche einer Ethik der Authentizität den Weg. Ob es wirklich darum geht, lasse ich mal offen. Jedenfalls wird diese Ethik seit den 1960er Jahren nach Taylor zu einem Massenphänomen, gleichgültig ob es entweder um Selbstverwirklichung oder um eine individuelle Emanzipation geht, die nicht unbedingt einen wahren Kern entbirgt, als vielmehr schlicht individuelle Teilhabewünsche am Sozialen wie Politischen formuliert.
Dergleichen beseelt wesentlich die folgenden sozialen Bewegungen, die heute auch weit ins konservative Lager reichen – man denke nur an die diversen ökologischen Initiativen. Daraus ist die Zivilgesellschaft entstanden, die sich von radikalen rechten Bestrebungen just durch diese ethischen Orientierungen strukturell unterscheidet, in deren Zentrum Menschenrechte, Emanzipation und das Diskriminierungsverbot stehen, während man im rechten Lager Diskriminierung ja für notwendig und geradezu für gut hält, Emanzipation für volksfeindlich und Menschenrechte auflassen möchte.
So hat Nietzsche ob gewollt oder nicht einer Ethik der individuellen Emanzipation den Weg geebnet, nicht einer allgemein menschlichen, keinem Universalismus. Es geht um die Entfaltung besonderer individueller Eigenschaften – beispielsweise sexueller Vorlieben, wovon Nietzsche natürlich nicht redet – unabhängig davon, ob es eine Naturanlage ist. Es erscheint naheliegend, dass dezidiert links eingestellte Zeitgenossen damit wenig anfangen können, sind sie doch noch bei der allgemeinmenschlichen Emanzipation der Proletarier als Menschen stehengeblieben.
Erst ein sozialdemokratischer Verfassungspatriotismus, der längst von Grünen und Konservativen übernommen wird, dem es um die Demokratie um ihrer selbst willen geht, kann sich mit dieser individuellen Ethik der Emanzipation anfreunden. Also insoweit lässt sich auch in diesem Lager Nietzsche rezipieren, was in Frankreich und Italien seit den siebziger Jahren auch immer häufiger der Fall war, in Deutschland bis heute aber eher selten vorkommt, wiewohl Nietzsche sicher der momentan meistrezipierte Philosoph sein dürfte.
Aber er wird auch gerne von jenen gelesen, die ihn lieber unpolitisch verstehen. Konservative Traditionalisten, womöglich katholisch orientiert, erfreuen sich an seiner Aufklärungsschelte, wenn Nietzsche vorführt, dass eine rationale Begründung der Ethik scheitert. Sie meinen, daraus ergebe sich, dass es politisch wieder der Religionen und der Kirchen bedürfe. So hat sich Nietzsche das zwar bestimmt nicht vorgestellt. Aber keine Rezeption muss den Intentionen des Rezipierten folgen.
So zeigt sich, dass Nietzsche einer der Wegbereiter der diversen Emanzipationsbewegungen ist, aus denen heraus die Zivilgesellschaft entstand. Er schreibt nicht eine politische Philosophie des Staates, höchstens in dem Sinn, dass sich in Staat und Gesellschaft Gewaltenteilung immer weiter verbreitet, deren Sinn für Odo Marquard ja weit über das Politische hinausgeht, so dass Gewaltenteilung die Macht des Staates eher schwächt als stärkt.
Daher geht diese Macht sukzessive auf aktive Bürger über, die schließlich das demokratische Selbstbewusstsein entfalten müssen, wie es sich Hannah Arendt vorstellt, damit die Demokratie nicht plötzlich ohne Demokraten dasteht. Insofern avanciert Nietzsches politische Philosophie zu einer Konzeption eines außerinstitutionellen politischen Engagements, wie es sowohl der existentialistische Sartre, als auch Derrida entwerfen, wenn sich Emanzipation und Dekonstruktion aneinander annähern: Emanzipation kann nicht heißen, sich in ein Weltbild einzuklinken, sondern solche Vorstellungen notorisch bis in ihre letzten Aporien hinein zu hinterfragen.
Trotzdem bleibt hier noch ein Wermutstropfen zwischen Nietzsches individualistischer Ethik und Fridays for Future, wo sich das Umweltverständnis in ein ökologisches Weltbild hinein steigert, das menschheitliche Ansprüche formuliert. Aber solange dabei Diskriminierung strikt vermieden wird, und es emanzipatorisch primär um individuelle Teilhabe am Politischen geht, werden ideologische Entwürfe genauso wieder verblassen wie universalistische Visionen, die sich bei genauerem Hinsehen als Illusionen enthüllen.
Hans-Martin Schönherr-Mann, Professor für politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Univ. München und regelmäßiger Gastprofessor an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Univ. Innsbruck
Literaturhinweise
Hans-Martin Schönherr-Mann, Friedrich Nietzsche, UTB Profile, Paderborn 2008
Ders., Der Übermensch als Lebenskünstlerin – Nietzsche, Foucault und die Ethik, Matthes & Seitz, Berlin 2009
Ders., Die Technik und die Schwäche – Ökologie nach Nietzsche, Heidegger und dem ’schwachen Denken‘, Vorwort v. Gianni Vattimo, Edition Passagen, Wien 1989
Ders., Hannah Arendt – Wahrheit, Macht, Moral, C.H. Beck, München 2006
Ders., Dekonstruktion als Gerechtigkeit – Jacques Derridas Staatsverständnis und politische Philosophie, Reihe Staatsverständnisse Bd. 126, hrsg. von Rüdiger Voigt, Nomos Verlag, Baden-Baden 2019