Geld als Instrument der Unterdrückung

von Christian Neuhäuser (TU Dortmund)


Niemand bestreitet, dass man zu wenig Geld haben kann. Absolut arme Menschen haben mit weniger als 2 Dollar pro Tag auf jeden Fall zu wenig Geld. Viele Menschen glauben auch, dass ihre relativ armen Mitmenschen mit nur 50 oder 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zu wenig Geld haben. Wer in Deutschland mit weniger als 900 Euro im Monat auskommen muss, ist auf diese Weise relativ arm. Und tatsächlich bleibt nach den laufenden Kosten für Miete, Mobilität, Digitalität und den Kosten für Lebensmittel, Kleidung und Sport sowie zumindest kleine Rücklagen für den Ersatz der kaputten Waschmaschine oder des kaputten Fernsehers nicht viel übrig. Wahrscheinlich bleibt sogar gar nichts übrig und am Ende des Monats muss der Gürtel enger geschnallt werden.

All das ist bekannt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ist von relativer oder absoluter Armut betroffen. Das ist ein anhaltender Skandal. Es lassen sich keine nachvollziehbaren Gründe dafür finden, warum es in einer so reichen Welt so viele arme Menschen gibt. Die offensichtliche Unfähigkeit, der Armut effektiv den Kampf anzusagen, hat meiner Meinung nach einen eindeutigen Grund. Reiche Gesellschaften und reiche Organisationen können den Hals nicht voll genug kriegen von immer mehr Geld. Es ist eine Ideologie des Reichtums entstanden, die den Gedanken vollständig verneint, dass man auch zu viel Geld haben kann. Diese Ideologie hat einen einfachen Namen. Sie heißt Kapitalismus.

Aber natürlich ist diese Ideologie falsch, natürlich kann man zu viel Geld haben. Dieser Gedanke ist so einfach und so alt, dass man sich fragt, wie es der kapitalistischen Ideologie gelungen ist, die Menschen davon zu überzeugen, dass dem nicht so sei. Für sich betrachtet ist das ein grandioser Erfolg. Ein Teil dieser Ideologie besteht darin, eine Geschichte von der Unschuld des Geldes zu erzählen. Man schaut nur auf die drei ökonomisch identifizierten Standardfunktionen von Geld, nämlich als Tauschmittel, Bewertungsmittel, Wertaufbewahrungsmittel. Das sind alles tolle Funktionen, von denen offensichtlich nicht genug haben kann. Aber Geld ist nicht nur das. Für manche Menschen ist Geld auch eine Droge, für raffgierige Topmanager und Politikerinnen beispielsweise. Sie können nicht genug davon bekommen und sind bereit dafür extreme Schädigungen, vor allem für andere Menschen, in Kauf zu nehmen.

Außerdem ist Geld auch ein Unterdrückungsinstrument, wie ich argumentieren werde. Wenn das stimmt, dann kann man zu viel Geld haben. Das gilt nämlich auf jeden Fall dann, wenn es sich in eine Droge oder ein Unterdrückungsinstrument verwandelt. Drogensüchtige und Unterdrücker, sehen das nicht ein, sie wollen immer mehr davon. Aber wir anderen Menschen finden, dass sie da einen fundamentalen Fehler machen. Es ist ihre Sucht und Unterdrücksungslust, die sie beherrscht und nicht mehr klar denken lässt. Doch stimmt das überhaupt? Ist Geld eine Droge und ein Unterdrückungsinstrument? Ich möchte mich hier auf den zweiten Punkt beschränken und zeigen wie sich Geld nutzen lässt, um andere Menschen zu unterdrücken. Letztlich beruht diese Macht des Geldes auf seine Funktion in sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontexten.

In sozialen Kontexten dient Geld auf direkte oder indirekte Weise als Statusanzeiger. Natürlich laufen die meisten Menschen nicht mit großen Schildern herum, auf denen steht, wie viel Geld sie haben. Aber in ihrer Kleidung, ihren Autos, Mobiltelefonen und Handtaschen bringen sie das deutlich zum Ausdruck. Etwas subtiler kommt das auch in Restaurantbesuchen, der Wohnungseinrichtung, den Urlauben zum Ausdruck. Das ist dann gleich doppelte Distinktion, nämlich einmal von denjenigen, die sich das gar nicht leisten können, und einmal von denjenigen, die sich das leisten, das aber nicht auf elegante Weise machen.

Jetzt könnte man natürlich meinen, dass dieser soziale Status nicht besonders wichtig sei und man darauf nicht viel geben sollte. Doch das ist maßlos arrogant. Eigentlich sind es immer diejenigen mit einem besonders hohen Status, die so etwas behaupten. Manchmal sind es auch Menschen, denen klargeworden ist, dass sie ohnehin nie einen sozialen Status erreichen werden, der ihnen gesellschaftliche Anerkennung bringt. Sie ziehen sich dann in Subkulturen zurück und behaupten, ihre Anerkennung nur noch aus den Normen dieser Subkulturen zu gewinnen. Damit haben sie sich allerdings aus dem weiteren Kontext der Gesamtgesellschaft verabschiedet.

Für die meisten Menschen ist soziale Anerkennung aber von zentraler Bedeutung. Sie wollen soziale Akteure sein, einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Sie wollen dafür auch geachtet werden. Es reicht ihnen allerdings nicht, dass ihnen irgendjemand auf die Schultern klopft und nebenbei zunickt. Sie wollen als gleichrangige Gesellschaftsmitglieder geachtet werden. Denn das ist das große Versprechen der Moderne, dem Herzstück unserer Gesellschaften. Die gleiche Würde aller Menschen muss in allen sozialen Strukturen eingelöst werden. Reichtum, der Statuskonsum produziert und die soziale Würde unterwandert, steht im Widerspruch zu diesem modernen Versprechen. Dieser Reichtum führt zu sozialer Unterdrückung.

Die zweite Form der auf Reichtum beruhenden Unterdrückung besteht in ökonomischer Macht. Reiche Akteure bewirken, dass ein Urversprechen liberalen Denkens unerfüllt bleibt. Dieses Urversprechen besteht darin, dass sich alle Menschen als Wirtschaftsbürgerinnen auf Märkten begegnen und gemeinsam das wirtschaftliche Geschehen bestimmen. Sie müssen das nicht zu gleichen Teilen tun. Manche Menschen sind leistungsfähiger als andere und manche haben mehr Erfolg. Aber das liberale Versprechen besteht darin, dass drei Normen der Gerechtigkeit, nämlich Leistung, Erfolg und Bedürfnis in ein richtiges Verhältnis zueinander gesetzt werden sollten.

Das funktioniert praktisch aber überhaupt nicht, weil ein Wirtschaftssystem entstanden ist, dass Erfolg übermäßig belohnt. Es sind reiche, insbesondere reiche korporative Finanzakteure, die ihr Geld nutzen, um solch eine nur erfolgsorientierte Wirtschaftsform zu stärken. Sie investieren ihr Geld dort, wo sie am meisten Rendite erwarten. Oft beruhen diese Erwartungen auf Erwartungserwartungen. Sie versuchen also herauszufinden, was andere glauben, welche Unternehmen, Produkte und Dienstleistung in der Zukunft wichtig sein werden, um dann etwas schneller zu sein als alle anderen. Wenn sie sehr viel Geld haben, dann üben sie mit ihren Entscheidungen erheblichen Einfluss darauf aus, welche Erwartungen sich zu bewahrheiten scheinen. Sie manipulieren Erwartungserwartungen.

Das erinnert stark an die Psychologie des Pokerspiels. Es geht wirklich nur darum, Erfolg zu haben. Wer das Geld braucht oder wer das bessere Blatt hat, das spielt überhaupt keine Rolle. Mit einer Orientierung an Leistung und Bedürfnissen hat dieses von den Finanzakteuren gesteuerte Pokerspiel jedenfalls nichts zu tun. Erfolgsorientierte reiche Akteure verdrängen im Wirtschaftssystem auf diese Weise andere Akteure, die Leistung belohnen und Bedürfnisse berücksichtigen wollen. Ganz salopp gesagt, bekommen diese an Gerechtigkeit orientierten Akteure einfach kein Geld, wenn sie nicht mehr Erfolg in Form von Rendite versprechen als andere. Sie werden in der Wirtschaftswelt unterdrückt.

Die dritte Form der auf Geldmacht beruhenden Unterdrückung betrifft die Politik. Akteure mit sehr viel Geld haben erheblichen Einfluss auf politische Akteure und deren Entscheidungsprozesse. Das funktioniert direkt und indirekt. Ein indirekter Einfluss besteht beispielsweise darin, dass sich politische Akteure überlegen, wie sie ihr Land für Investoren attraktiv machen können. Je mehr Geld ein Investor hat, desto mehr wird ihm von der Politik geschmeichelt. Weniger indirekt ist da schon der so genannte Drehtüren-Lobbyismus. Der Wirtschaft dienliche Politiker und manchmal auch Politikerinnen bekommen im Anschluss lukrative Jobs in der Privatwirtschaft, mit denen sie ihre Gehälter erheblich aufbessern können. Die Hälfte der ehemaligen EU-Kommissare macht das so.

Direkten Einfluss üben reiche Akteure und insbesondere Unternehmen durch Lobbyismus, eine massive Bearbeitung des öffentlichen Diskurses und scheinbar wissenschaftliche Think Tanks sowie Verbände aus. Durch ihren Reichtum können sie sich in deliberativen Prozessen deutlich mehr Zeit und deutlich mehr Gehör verschaffen als andere Akteure. Wenn der Abstand ihres politischen Einfluss zu demjenigen der Durchschnittsbürger allzu groß wird, dann läuft das dem republikanischen Prinzip der politischen Gleichheit entgegen.

Dem republikanischen Demokratieverständnis zufolge, dem Deutschland, Österreich und Schweiz schon allein aufgrund ihrer Staatsbezeichnung anhängen müssen, beschränkt sich Demokratie nicht auf ein gleiches Wahlrecht. Vielmehr sind Republiken und Eidgenossenschaften politische Systeme, in denen die Bürger und Bürgerinnen zu mehr oder weniger gleichen Teilen am politischen System beteiligt sind und sich auf Augenhöhe begegnen können. Die Geldmacht der Reichen unterläuft diesen Republikanismus, weil sie genutzt werden kann, um die Meinung und den politischen Willen der Mehrheitsbevölkerung zu unterdrücken.

Geld ist also nicht einfach nur ein Tausch- Wertaufbewahrungs- und Bewertungsmittel. Es ist reine Ideologie, Geld auf diese unschuldigen Funktionen zu reduzieren. Geld ist auch und vielleicht vor allem ein soziales, wirtschaftliches und politisches Machtmittel. Doch was folgt daraus? Wenn man die Lord Acton zugeschriebene Einsicht beherzigt, dass Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert, dann muss man die Konzentration von Geldmacht verhindern. Dies macht Geld zu einem Unterdrückungsinstrument. Letztlich gibt es nur eine Möglichkeit, dem zu begegnen, nämlich eine allzu große Machtkonzentration durch ein Reichtumsverbot zu verhindern.

Alle denkbaren Alternativen sind aussichtslos. Die erste Alternative, nämlich auf den guten Willen der mächtigen Reichen zu hoffen, ist offensichtlich naiv. Die zweite Alternative besteht darin, auf eine staatliche Kontrolle zu hoffen. Sie hat sich ebenfalls als impraktikabel erwiesen. Geldreiche können durch ihr Geld zu viel Einfluss auf ihre angeblichen Kontrolleure ausüben. Eine dritte Alternative bestünde darin, auf eine wechselseitige Kontrolle der Geldmächtigen selbst zu setzen. Für eine Weile mag das gut gehen, aber nicht auf lange Sicht, wie sich bereits zeigt. Schon jetzt erleben wir eine massive Konzentration von Geldreichtum, bei der sich eine kleine Schicht von supermächtigen Superreichen herausbildet. Knapp dreißig Superreiche besitzen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung, pro Person also mehr als hundert Millionen Menschen.

Das Verbot von Geldmacht müsste also bei den Superreichen ansetzen. Danach kann man sehen, wie viel Macht den Reichen noch bleibt. Superreich sind Menschen mit einem Jahreseinkommen von netto mehr als einer Million Euro und einem Vermögen von mehr als 30 Millionen Euro. Es wäre leicht, diese Machtkonzentration zu verbieten, ohne die liberale Demokratie und die freie Marktwirtschaft selbst unangetastet zu lassen. Um es in einer Analogie auszudrücken: in diesem Ausmaß entspräche das etwas einem Tempolimit von vielleicht 250 oder 300 km/h. Wenn das einmal durchgesetzt ist, dann ist viel erreicht. Denn dann können wir demokratisch überlegen, wie weit runter wir gehen wollen und ob es nicht wirklich viel vernünftiger wäre, bei 130 km/h zu landen.


Christian Neuhäuser ist Professor für Politische Philosophie an der TU Dortmund. Er hat zwei Bücher über Reichtum geschrieben: Reichtum als moralisches Problem (Suhrkamp 2018) und Wie reich darf man sein? (Reclam 2019).