Vom Nutzen und Nachteil von Nietzsches Historienkritik
Von Katrin Meyer (Basel/Zürich)
Das intellektuelle Interesse an Friedrich Nietzsche hat seine eigenen Konjunkturen und folgt eigenen, oft vergänglichen, Aufmerksamkeitsökonomien, die durch theoretische und gesellschaftspolitische Strömungen mitbeeinflusst sind. Nach wie vor lohnend erscheint mir aus heutiger Sicht, sich mit dem Geschichtsverständnis und der Geschichtskritik Nietzsches auseinanderzusetzen, auch wenn das Thema auf den ersten Blick viel von seiner Brisanz und Aktualität verloren hat. So sind zentrale Thesen, die Nietzsche in den 1870er und 1880er Jahren formuliert hat, mittlerweile für das Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften Programm und haben ihr aufrührerisches Potential verloren. Dazu gehört insbesondere Nietzsches Diagnose, die Modernität von Gesellschaften und Individuen zeige sich an ihrem nihilistischen Grundzug. Der Nihilismus der Moderne bedeutet demgemäß, dass tradierte Werte und Wahrheiten ihre Geltung verlieren, ja dass die Idee einer überhistorischen Wahrheit überhaupt fraglich wird und es demnach zur Aufgabe der Gegenwart gehört, sich verbindliche Werte und Wahrheiten selbst zu schaffen. Die existenziellen Konsequenzen, die Nietzsche aus dieser historischen Ausgangslage ableitet, sind für das Lebensgefühl und die Alltagspraxis vieler Menschen im 21. Jahrhundert heute selbstverständlich geworden: Individualität, Kreativität und Originalität gelten als primäre Sinnstiftung des persönlichen Lebens und eine kritisch-distanzierte Haltung zu allen tradierten Wahrheiten und Werten erscheint als Bedingung und Voraussetzung der eigenen Gestaltungsmacht. Nietzsches Verknüpfung von Nihilismus und Freiheit ist damit in das Narrativ der (europäischen) Moderne eingegangen.
Allerdings überdeckt diese Lesart Nietzsches einen wichtigen Aspekt seines Geschichts- und Freiheitsverständnisses, den ich im Folgenden ins Zentrum rücken werde. Denn Nietzsche thematisiert auch die Spannungen und Widersprüche seines Ideals der freiheitlichen Werteerschaffung und arbeitet dessen Grenzen heraus. Er zeigt, dass sich die Idee einer von Tradition und Geschichtsbewusstsein losgelösten Freiheit in ihr Gegenteil verkehrt, wenn sie verabsolutiert wird, und dass der kritische Umgang mit Geschichte(n) nicht mit deren Zerstörung gleichgesetzt werden kann. Diese Erkenntnis erscheint wichtig, um allen Selbstüberhöhungen und Selbsttäuschungen sogenannt moderner Gesellschaften gegenüber skeptisch zu bleiben.
Wer diesen Zusammenhang im Detail nachvollziehen will, für den oder die lohnt sich ein Blick in Nietzsches frühe Werke, die er noch in den 1870er Jahren als Professor der klassischen Philologie an der Universität Basel geschrieben und als „unzeitgemäße Betrachtungen“ veröffentlicht hat. Insbesondere die 1874 erschienene zweite Unzeitgemäße mit dem Titel Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Nietzsche 1988)[1] ist eine bis heute anregende und herausfordernde Schrift, weil sich Nietzsche darin – stärker als in den Texten der 1880er Jahre – an den Widersprüchen und Ambivalenzen im existenziellen Umgang mit Geschichte, Geschichtskritik und historischem Bewusstsein abarbeitet.
In der zweiten Unzeitgemäßen beschreibt Nietzsche das historische Bewusstsein, wie es sich in den historisch-kritischen Wissenschaften seiner Zeit spiegelt, als eine ‚Krankheit’, an der die Menschen des 19. Jahrhunderts leiden. In Wissenschaft, Kunst, Politik und Existenz, so konstatiert Nietzsche, dominiere eine Haltung, die jegliches Tun und Denken historisch einordnet, vergleicht, analysiert und zersetzt und so die Kraft und Stärke der eigenen schöpferischen Kreativität abwürgt. Das Gefühl, alles sei schon dagewesen, alles sei schon gedacht und gemacht, führt gemäß Nietzsche zum Verlust schöpferischer Energien, zu Skeptizismus, Selbstzweifel und Melancholie.
Als Antwort auf diese Diagnose eines gesellschaftlichen Nihilismus avant la lettre entwirft Nietzsche in seiner zweiten Unzeitgemäßen drei Weisen, wie sich die Gegenwart zur Geschichte verhalten soll, damit sie zu einem ‚Nutzen für das Leben’ werde. Er entwickelt erstens den Typus der ‚monumentalischen Historie’, die eine selektive Erinnerung an einzelne große und ruhmvolle Taten früherer Generationen wach hält und damit der Gegenwart Ansporn und Vorbild werden soll, um neue erhabene Taten zu vollbringen. Dem zur Seite stellt Nietzsche zweitens den Typus der ‚antiquarischen Historie’, die den Kontinuitäten im Kleinen und Lokalen nachspürt und dem Einzelnen durch diese Einbindung in eine persönliche Geschichte vertrauten Boden und Wurzeln gibt. Und schließlich entwickelt Nietzsche als Drittes den Typus der ‚kritischen Historie’, in der sich die Freiheit des modernen Menschen in ihrer radikalsten Form zeigt. Die kritische Historie geht nicht selektiv mit der Vergangenheit um, wie in den beiden anderen ‚nützlichen’ Geschichtsschreibungen, sondern sie wirft die Last der Geschichte radikal ab: sie zerstört die Pietät von Traditionen, unterbricht die überlieferten Bindungen zu früheren Generationen und ermöglicht damit dem und der Einzelnen, derart befreit, sich eine neue und „zweite Natur“ zu geben (Nietzsche 1988, 269f.). Mit dieser Figur der Selbsterschaffung beschreibt Nietzsche nicht zuletzt sich selbst, den kritischen Philosophen, in seiner selbstermächtigenden und unabhängigen Potenz. Traditionskritik erscheint so als ein Akt radikaler positiver Freiheit: Sie ermöglicht dem Individuum, sich selbst von Grund auf neu zu gestalten und zu formen, und zwar nach Maßgabe existenzieller Kriterien wie Intensität, Unabhängigkeit, Kraft und Mut. Damit hofft Nietzsche, dass auch er selbst als Kritiker des historischen Bewusstseins und als Visionär eines schöpferischen Lebens sich vom Leiden an der ‚historischen Krankheit’ befreien und zu einer ‚starken Persönlichkeit’ werden könne.
Doch mit diesem Anliegen scheitert Nietzsche in der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung grandios. Das Scheitern trifft ihn unvorbereitet. Es bereitet sich quasi hinter seinem Rücken vor und manifestiert sich im Vollzug seiner Niederschrift. So bemerkt Nietzsche im letzten Kapitel seines Essays, dass er fürchte, seine Schrift trage selber „die Spuren jener Leiden“, die er beschrieben habe – die „Unmässigkeit der Kritik“, den „Zynismus“ und die „Skepsis“ (324) – und beweise damit deren „modernen Charakter, den Charakter der schwachen Persönlichkeit“. (ebd.) Nietzsches Fazit lautet darum: „Den Gefahren der Historie nachspürend haben wir allen diesen Gefahren uns am stärksten ausgesetzt befunden.“ (ebd.) Nietzsche hat in der zweiten Unzeitgemässen also mit der historischen Kritik gerungen, ohne seiner eigenen Einschätzung nach den Sieg davon getragen zu haben.
Es ist nun genau dieses Scheitern, das mir für den gegenwärtigen Umgang mit Geschichte und Geschichtskritik besonders wichtig erscheint. Denn das Scheitern sagt weniger aus über Nietzsche selbst als über die dialektische Abhängigkeit, die sich zwischen Kritik und Kritisiertem, zwischen dem unabhängigen Selbst und dem historischen Bewusstsein, eröffnet. So birgt Nietzsches selbstkritischer Kommentar eine wichtige Erkenntnis. Sie besagt, dass das historische Bewusstsein – also das Bewusstsein der eigenen Historizität und Relativität – unhintergehbar ist, auch wenn sich Menschen durch einen Befreiungsschlag im Gestus radikaler Kritik und Tatkraft davon lösen wollen. Denn wie in einer Falle verfängt sich die Kritik des historischen Bewusstseins in dem, was sie zurücklassen will: im Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit und damit verbunden, im Wissen um die Kontingenz, Abhängigkeit und Vergänglichkeit menschlicher Existenz. Dies ist Nietzsches berühmte These, die er zu Beginn der zweiten Unzeitgemässen formuliert: Das Wissen um die Vergangenheit hängt am Menschen wie eine Kette; mag er noch so schnell laufen, wie er will, „die Kette läuft mit“ (248).
Nietzsche weist also darauf hin, dass sich das Wissen um die historische Bedingtheit des Menschen nicht nach Belieben und in kontrollierter Souveränität ein- und ausschalten lässt. Das historische Bewusstsein hängt an uns, wie eine Kette, und wir binden uns an sie gerade auch dann, wenn wir sie abschütteln wollen. Der Einsicht in Kontingenz und Vergänglichkeit entfliehen zu wollen ist nur möglich unter der Voraussetzung, dass diese überhaupt zu Bewusstsein kommen. Nietzsche hat damit als einer der ersten erkannt, dass die nihilistischen Effekte, die aus dem historischen Bewusstsein folgen, unumkehrbar sind und dass sich die damit verbundenen existenziellen Erschütterungen wie Skepsis, Zweifel und Selbstkritik nicht willentlich rückgängig machen lassen.
Weil Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen den Mut hat, sein Scheitern zu beschreiben und im Horizont des historischen Bewusstseins zu analysieren, entlarvt er jede radikale Freiheitsrhetorik als Selbsttäuschung. Kritisch, frei und selbstermächtigt zu leben bedeutet demnach – für eine Gesellschaft und für ein Individuum – nicht, die eigene Historizität zu leugnen, sondern es bedeutet im Gegenteil zu erkennen, wie vielschichtig und komplex das eigene Tun und Denken geschichtlich bedingt sind und sich selbst noch in der Kritik an diesen reproduziert. Die Reflexion auf die historische Bedingtheit von Kritik gehört demnach, so das Fazit mit Nietzsche, unhintergehbar zu ihrem Vollzug.
Katrin
Meyer ist Privatdozentin für Philosophie an der Universität Basel und lehrt
seit 2017 Gender Studies an der Universität Zürich. Sie hat folgende Bücher zu Nietzsche
publiziert: Ästhetik der Historie, Würzburg 1998; Friedrich Nietzsche – Franz
und Ida Overbeck. Briefwechsel (hrsg. zusammen mit Barbara von Reibnitz),
Weimar 2000.
[1] Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München: dtb, de Gruyter 1988, Bd. 1, S. 243-334.