25 Jun

Automatische Moralisierung des Menschengeschlechts?

Von Viktoria Bachmann (Kiel)

In den geschichtsphilosophischen Schriften blickt Kant vom Gipfel seiner kritischen Philosophie hinunter in die Niederungen der menschlichen Geschichte. Da die Vernunft ständig neue Zwecke setze, komme der Einzelne mit der Vervollkommnung seiner Anlagen nicht hinterher. Als Gattung hätten wir aber eine Chance: die ungesellige Geselligkeit (IaG, AA 08: 20f.). Dieser natürliche Antrieb erweckt in uns „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen“ (ebd. 21). Bei einer geschickten politischen Nutzung dieser egoistischen Motive erhofft sich Kant langfristig eine moralische Besserung. Denn wenn „[…] die Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnisse gegen einander [sind], dass keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne gegen die andern an Macht und Einfluß zu verlieren“ (ebd. 27), dann könnte aus einer Ansammlung von Egoisten quasi automatisch eine moralische Menschheit hervorgehen.

Diese Idee einer automatischen Moralisierung durch Legalität halte ich ethisch und anthropologisch für fragwürdig und angesichts des jüngsten Scheiterns einer Russlandpolitik des ‚Friedens durch Handel‘ auch politisch für gefährlich. Ein äußerlich eingedämmter Egoismus bleibt ein Egoismus. Sobald es vorteilhaft erscheint, entgrenzt er sich wieder. Die Illusion einer äußerlich induzierbaren Moral führt letztlich zu einer Vernachlässigung der ethischen Bildung der Individuen.

06 Feb

Warum (schon lange) tote Philosophen lesen?

Von Achim Vesper (Frankfurt am Main)

Philosophie hat es mit Problemen zu tun, die wir mit unseren Zeitgenossen teilen. Was sollte dagegen sprechen, die Probleme in einer Sprache zu beschreiben und nach Standards zu untersuchen, mit denen auch unseren Zeitgenossen bekannt sind? Philosophiehistoriker mögen dagegen einwenden, dass die Grenzen der Zeitgenossenschaft in der Philosophie besonders weit gezogen sind, da die meisten Probleme, mit denen sich Philosophen beschäftigen, keine neuen, sondern alte Probleme sind – es sind die gleichen Probleme, mit denen sich Philosophen auch in der Vergangenheit beschäftigt haben.

Weiterlesen
09 Jan

Vom Nutzen und Nachteil von Nietzsches Historienkritik

Von Katrin Meyer (Basel/Zürich)


Das intellektuelle Interesse an Friedrich Nietzsche hat seine eigenen Konjunkturen und folgt eigenen, oft vergänglichen, Aufmerksamkeitsökonomien, die durch theoretische und gesellschaftspolitische Strömungen mitbeeinflusst sind. Nach wie vor lohnend erscheint mir aus heutiger Sicht, sich mit dem Geschichtsverständnis und der Geschichtskritik Nietzsches auseinanderzusetzen, auch wenn das Thema auf den ersten Blick viel von seiner Brisanz und Aktualität verloren hat. So sind zentrale Thesen, die Nietzsche in den 1870er und 1880er Jahren formuliert hat, mittlerweile für das Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften Programm und haben ihr aufrührerisches Potential verloren. Dazu gehört insbesondere Nietzsches Diagnose, die Modernität von Gesellschaften und Individuen zeige sich an ihrem nihilistischen Grundzug. Der Nihilismus der Moderne bedeutet demgemäß, dass tradierte Werte und Wahrheiten ihre Geltung verlieren, ja dass die Idee einer überhistorischen Wahrheit überhaupt fraglich wird und es demnach zur Aufgabe der Gegenwart gehört, sich verbindliche Werte und Wahrheiten selbst zu schaffen. Die existenziellen Konsequenzen, die Nietzsche aus dieser historischen Ausgangslage ableitet, sind für das Lebensgefühl und die Alltagspraxis vieler Menschen im 21. Jahrhundert heute selbstverständlich geworden: Individualität, Kreativität und Originalität gelten als primäre Sinnstiftung des persönlichen Lebens und eine kritisch-distanzierte Haltung zu allen tradierten Wahrheiten und Werten erscheint als Bedingung und Voraussetzung der eigenen Gestaltungsmacht. Nietzsches Verknüpfung von Nihilismus und Freiheit ist damit in das Narrativ der (europäischen) Moderne eingegangen.

Weiterlesen