Solidarität im philosophischen Wissenschaftsbetrieb? Ein Kommentar zur Stellungnahme von SWIP Germany
Von Gottfried Schweiger (Salzburg)
Es ist ein Verdienst von SWIP Germany (Society for Women in Philosophy), dass sie sich der Frage der ungleich verteilten Belastungen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs in Zeiten der COVID-19 Pandemie in einer Stellungnahme angenommen hat. Obwohl ich die Stellungnahme inhaltlich fast vollständig teile und diese Textsorte immer gewisse Unzulänglichkeiten mit sich bringt, bleibt doch der Eindruck, dass hier ein stärkeres Signal gesendet hätte werden können. So bleibt der Aufruf für mich etwas zu sehr im Vagen hängen.
Die Beobachtung der Autorinnen, dass die COVID-19 Pandemie die Menschen im Wissenschaftsbetrieb sehr unterschiedlich betrifft, ist sicherlich richtig. Einige haben dadurch mehr Zeit, andere sehr viel weniger. Einigen fällt der Umstieg auf E-Learning und Home Office leichter, andere haben weder das technische Equipment noch die Räumlichkeiten oder sind aus anderen Gründen überfordert. Das sichtbar zu machen ist nötig und sinnvoll, ohne es als individuelles Versagen zu missdeuten. Eine etwas genauere Benennung der Belastungen und der Faktoren, warum sie ungleich verteilt sind, wäre sinnvoll, weil sonst bleibt die Kritik vage. Manche kommen zwar zu weniger, sind jedoch mit unbefristeten Stellen abgesichert, während andere nun händeringend keine Zeit für Publikationen oder Projektanträge haben, die sie in der Konkurrenz um die wenigen Stellen dringend benötigen. Klar ist wohl, und die Forderungen in der Stellungnahme von SWIP zielen implizit darauf ab, dass Jobs und Einkommensverluste dringlicher sind als ein paar Monate professoraler Stress mit dem E-Learning, weil man sich mit digitalen Dingen schwertut. Auch kleine Sorgen sind Sorgen, aber sie sollten nicht den Blick auf die schwächsten Gruppen im System verstellen. (Und ich höre schon jetzt imaginiert in meinem Kopf ein paar ältere KollegInnen auf Professuren, die sich über alles und vor allem ihre Belastung beschweren werden, ohne auch nur kurz daran zu denken, wie ungleich schwieriger und teils existenziell belastend es für alle war, die von einer gut bezahlten Dauerstelle nur träumen können.)
Eine dringlichere Leerstelle in der Stellungnahme ist die konkrete Benennung von Verantwortlichkeiten. Manche ergeben sich explizit aus den Forderungen nach Verlängerung der Stellen und Stipendien um mindestens ein Semester oder die Lehrdeputatsreduktion für Personen, die Sorgearbeit leisten. Hier sind die Universitäten und Fördergeber angesprochen; letztlich aber auch diejenigen Stellen, die diese finanzieren. Sicherlich ist den Verfasserinnen der Stellungnahme bewusst, dass eine kurze Verlängerung zwar einigen helfen kann, das strukturelle Problem prekärer Dienstverhältnisse aber nicht wesentlich tangiert. Die SWIP hat ja vor nicht langer Zeit auch ein schönes Positionspapier zu nachhaltigen Nachwuchsförderung vorgelegt. Man hätte es dennoch nochmals explizit erwähnen können und sollen, dass die COVID-19 Pandemie vor allem bereits bestehende Ungleichheiten verstärkt und daher vor allem Anlass für nachhaltige Reformen sein sollte. Man weiß ja nicht, wie lange diese Krise dauern wird oder in Wellen wiederkommt oder welche neuen Krisen in den nächsten Jahren warten. Nebenfolgen sollten auch bedacht werden. Wenn nun Stellen oder Stipendien verlängert werden würden, bedeutet das für diejenigen, die gerade welche suchen, dass sie vielleicht zusätzliche sechs Monate arbeitslos bleiben müssen. Oder es muss wo anders im System gespart werden, weil die Gelder nicht erhöht, sondern nur umgeschichtet werden. Das will man natürlich nicht. Eine ganz radikale Idee wäre es, wenn die gut verdienenden KollegInnen – die gibt es ja auch – konkrete Formen der finanziellen Hilfe initiieren würden. Zum Beispiel ein Gehaltsverzicht von zehn oder fünfzehn Prozent, um befristete Stellen kostenneutral zu verlängern. Man wird ja noch von konkreter Solidarität träumen dürfen.
Wenn die Stellungnahme dazu aufruft, dass es jetzt nicht um „business as usual“ im Philosophiebetrieb gehen kann, dann hätte das aber auch die Möglichkeit eröffnet, ein bisschen kreativer zu sein als nur Mahnungen an die – in allen möglichen Belangen zu kritisierenden und oft kritisierten – Institutionen und Strukturen vorzubringen. Das „busines as usual“ erzeugen wir – also alle im philosophischen Wissenschaftsbetrieb tätigen – ja vor allem selbst. Daher sind es auch „wir“, die Möglichkeiten haben, es zumindest in einigen Aspekten zu durchbrechen oder gar zu verändern und über die Pandemie hinaus zu denken. Ich habe bislang noch nichts darüber gehört, wie viele KollegInnen, die gut durch die Pandemie kommen, nun ihren stärker belasteten KollegInnen angeboten hätten, ihnen Lasten abzunehmen – manches wird rechtlich nicht gehen (können Lehrveranstaltungen einfach übernommen werden?) und viele kleine Akte der Solidarität werden sicherlich wie selbstverständlich gesetzt. Es geht hier aber auch um Politiken innerhalb der Institute, das Handeln von ProfessorInnen und LeiterInnen, die ihren MitarbeiterInnen entgegenkommen können – oder eben auch nicht.
Das bloße Aufschieben von Tätigkeiten alleine wird nicht reichen – weil manche dann kurz-, mittel- und langfristige Nachteile zu erwarten haben. Falls es auch in der Philosophie zutrifft, dass während der Pandemie viel weniger Frauen Aufsätze bei Zeitschriften oder Projekte einreichen, während viele Männer Zeit und Muße haben, das zu tun, dann sollten wir darüber nachdenken, welche kollektiven und individuellen Pflichten aus solcher Ungleichheit folgen könnten. Vielleicht wäre ein Aufruf, dass nun alle, die die Krise für ihre Karriere und ihren wissenschaftlichen Output gut nutzen können, solidarisch handeln und auf Einreichungen etc. verzichten sollten, angebracht. Oder die HerausgeberInnen von Zeitschriften könnten sich dazu entschließen, während der Pandemie keine Aufsätze von Männern mehr in Begutachtung zu nehmen. Es sind die Möglichkeiten, Verantwortung zu übernehmen und Handlungen der Solidarität für benachteiligte KollegInnen zu setzen, im philosophischen Wissenschaftsbetrieb ziemlich ungleich verteilt.
Die Pandemie schafft auch neue Möglichkeiten. Es gibt ein neues „hot topic“ mit Publikations- und vor allem Fördermöglichkeiten (etwa bei der DFG, dem SNF oder dem FWF). Philosophische Expertise zu einigen Fragen ist gerade auch in den Medien gefragt. Neue Möglichkeiten schaffen (fast) immer auch neue Ungleichheiten. Manche können diese Möglichkeiten nämlich sehr gut für sich nutzen – was auf mich selbst partiell auch zutrifft – entweder weil sie im entsprechenden Feld arbeiten (Medizinethik, Grundrechtsfragen etc.), weil sie Zeit dafür haben, gut vernetzt sind oder gute Kontakte zu Medien haben oder von diesen nun verstärkt angefragt werden. Sicher – es ist wichtig, dass „die Philosophie“ hier aktiv wird, die vielen ethischen Fragen, die mit der COVID-19 Pandemie zusammenhängen, stellt und öffentlich präsent ist. In diesem Spiel gibt es aber eben auch VerliererInnen, die gerade keine Zeit haben oder zu etwas anderem arbeiten, und weil sich die Ressourcen (Fördermittel, Aufmerksamkeit, Räume in den Medien etc.) nicht gleichmäßig erweitern, sondern umgeschichtet werden. Das sollte man bedenken, auch wenn unklar ist, wie man hier gegensteuern und ausgleichend wirken könnte. Eben weil im Hintergrund auch strukturelle Probleme liegen. Wie kann es gelingen, dass die Verteilung der Gelder, die nun für Pandemie-bezogene Forschung ausgeschüttet werden, innerhalb der Philosophie nicht durch Ungleichheiten in Status, Macht oder Zeit verzerrt wird? Wie können wir benachteiligte und nun besonders belastete KollegInnen in der anrollenden Publikationsschwemme zur Pandemie mitnehmen? Wie kann die mediale Aufmerksamkeit für (bestimmte) philosophische Fragen im Zusammenhang mit der Pandemie dafür genutzt werden, nicht nur die Reputation und das Profil einzelner Personen zu pushen, sondern gerade jenen zu Gute kommt, die durch diese Krise benachteiligt werden? Gibt es eine Verantwortung, manche Anfragen (von Medien) abzulehnen und stattdessen darauf hin zu wirken, dass andere „Stimmen“ auch einmal zu Wort kommen?
Ich habe auf viele dieser Fragen keine Antworten. Vielleicht haben andere gute Ideen, dann sollten sie vorgebracht und gehört werden. Vielleicht war das auch in den Köpfen der Verfasserinnen der Stellungnahme der SWIP. Meine Überlegungen sollten daher auch eher als ein Weiterdenken, denn als eine Kritik verstanden. Wenn manche KollegInnen die Zeit der Pandemie und der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen gut für ihre philosophische Forschung nutzen können, gibt es wohl sogar eine schwache Pflicht, einen Teil dieser Zeit und Energie dafür aufzuwenden, über die Probleme in der Disziplin und darüber, wie solidarisches Handeln hier möglich sein könnte, nachzudenken. Das Grübeln über schwierige Probleme gehört ja zu unserem Kerngeschäft.
Gottfried Schweiger arbeit am Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg. Dort forscht er hauptsächlich im Bereich der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Er hat einige Texte zur COVID-19 Pandemie für Blogs und Zeitungen verfasst. Gottfried ist Ko-Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Praktische Philosophie, der Buchreihe Philosophy and Poverty bei Springer, der Buchreihe Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven bei J.B. Metzler. Seit 2013 organisiert er gemeinsam mit Michael Zichy, und Martina Schmidhuber an der Universität Salzburg die Tagung für Praktische Philosophie. Mit Johannes Drerup koordiniert er das Netzwerk Philosophie der Kindheit und hat das Handbuch Philosophie der Kindheit bei J.B. Metzler herausgegeben.