Toleranz als Achtung der Menschenwürde
Von Eva Steinherr (München)
Der Idee der Toleranz liegt die der Menschenwürde zugrunde. Beide Ideen tauchen in der Geschichte relativ spät und ziemlich parallel auf, nämlich im Zeitalter der Aufklärung. Sie waren Voraussetzung für das Entstehen demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
- Die Idee der Menschenwürde
Die Ausdifferenzierung der Idee der Menschenwürde ist insbesondere Immanuel Kant zu verdanken, der zwischen (beliebig wählbaren) relativen Zwecken und dem Menschen als absolutem Selbstzweck unterschied. Für relative Zweckegelten hypothetische Imperative (wenn ich x will, dann muss ich y tun…), zur Achtung der Menschenwürde fordert dagegen der kategorische Imperativ auf. Kategorisch heißt, dass es Handlungen gibt, die eindeutig zu tun oder zu unterlassen sind, je nachdem, ob sie im Sinne der Menschenwürde sind oder gegen sie verstoßen.
Basis der Idee der Menschenwürde ist die Erkenntnis der Gleichheit der Menschen. Gleichheit bedeutet erstens, dass jeder Mensch, weil er Mensch ist, Anspruch auf den Schutz seiner Würde hat; diese wird, ebenso wie ihre inhaltliche Ausdeutung, die Menschenrechte, weder verliehen noch vereinbart noch von einer Autorität befohlen oder eingeräumt. Gleichheit bedeutet zweitens, dass jeder Mensch kraft prinzipieller Vernunfteinsicht verstehen kann, was Menschenwürde bedeutet und dass er sie – sowohl bei anderen als auch in seiner Person – schützen muss. Dies meint Kant mit der menschlichen Fähigkeit zur Autonomie.
Doch diese Autonomiefähigkeit hat der Mensch eben nur prinzipiell, nicht automatisch und nicht immer. Individualgeschichtlich muss der Mensch zu ihrer Wahrnehmung erst erzogen werden bzw. sie selbst entwickeln, und auch menschheitsgeschichtlich bildete sich die Idee der Freiheit und Menschenwürde nur allmählich heraus. So gab es zwar im alten Griechenland als Vorform schon das Ideal des freien und gleichen Bürgers, von dieser allgemeinen „Gleichheit“ waren jedoch Sklaven und Frauen ausgeschlossen. Faktisch herrschte in der Antike eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, Freie und Sklaven. Selbst in der Moderne war die Durchsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948 (Art. 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren…)nicht einfach gewesen: Sie ist im Wesentlichen wohl Eleanor Roosevelt, Vorsitzende des Human Rights Committees, zu verdanken, die den allgemeinen Schock über den Nationalsozialismus zu nutzen verstand und die historische Chance einer Einigung erkannte. Vereinzelte Imperialismus-Vorwürfe konnten damals das Vorhaben nicht zum Scheitern bringen. So äußerte die sowjetische Delegation, es handele sich bei der Deklaration um die Aufzwingung bourgeoiser Normen, enthielt sich aber bei der Abstimmung. Wertrelativistische Positionen äußern häufig den Vorwurf, Menschenwürde und Menschenrechte seien ein abendländisches Konstrukt. Dagegen ließen sich viele Argumente anführen, für die der knappe Raum hier keinen Platz bietet. Deshalb nur ein Satz: Diese Sichtweise ist im Sinne des Einsatzes für die Schwachen und Entrechteten auf dieser Welt abzulehnen.
- Die Forderung nach Toleranz
Die Frage nach der Toleranz war zunächst religiöser Natur. Wenn es nur einen Gott gibt, wie können dann verschiedene Anschauungen über ihn bestehen? Im Jahre 1764, genau vierzig Jahre nach Kants Geburt, bringt Voltaire in der Schrift Über die Toleranz seine Erschütterung über den fanatischen Protestantenhass zum Ausdruck, der zu seinen Lebzeiten zu grausamer Folter und Hinrichtung eines Unschuldigen in der Stadt Toulouse führte. Mit Voltaire-Plakaten, versehen mit dem Slogan Je suis Charlie, protestierten noch 250 Jahre später Pariser Demonstranten gegen den islamistisch motivierten Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015. Damit erinnerten sie an das Plädoyer des französischen Aufklärers, wahre Religiosität zeige sich in Friedfertigkeit gegenüber allen Menschen unterschiedlichen Glaubens, gerade im Bewusstsein eigener Irrtumsanfälligkeit und Schwächen.
Der toleranten Haltung liegt ein positives Menschenbild zugrunde: Jedem Menschen wird Autonomiefähigkeit zugetraut, d.h. prinzipielle Vernunftfähigkeit sowie die Gutwilligkeit, das Handeln nach den eigenen Einsichten auszurichten. Somit muss Gedankenfreiheit erlaubt werden, damit ein eigener Standpunkt entwickelt werden kann. Fehler machen zu dürfen, ohne dafür Vorwürfe zu bekommen, gehört zur Atmosphäre der Toleranz. Dabei können diese Fehler, ob aus Irrtum oder bewusstem Egoismus entstanden, anderen Menschen oft erhebliche Schmerzen oder Nachteile verursachen. Nicht umsonst heißt Toleranz – wörtlich übersetzt – Duldung.
Das Gesagte macht deutlich, dass zwischen Toleranz und Akzeptanz ein Unterschied besteht. Dulden kann man nur das, was man aus guten Gründen nicht billigt. Man lässt anderen ihre Freiheit – durchaus mit der Hoffnung, dass sie aus den dadurch ermöglichten Erfahrungen lernen. Toleranz ist eine eher rationale Haltung, aus Respekt nimmt man sich bewusst zurück. Akzeptanz ist affektiver. Den Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz zu kennen, entlastet den Menschen emotional, denn das Denken und Tun anderer muss man nur zulassen, es muss einem nicht gefallen. Zur Rationalität kann man Menschen auffordern („Sei doch etwas toleranter!“), aber nicht zu Gefühlen. Doch die Toleranz zeigt eine eigentümliche Dynamik. Wer tolerant ist, macht einen ersten Schritt auf den anderen Menschen zu, und dieser Schritt geht bereits in Richtung Akzeptanz. Wenn durch intensive Beschäftigung mit dem Gegenüber dessen Beweggründe z.B. plötzlich plausibel werden, kann aus Toleranz Akzeptanz erwachsen. So ist Respekt (schon) eine Form der Liebe, oder: Die der Toleranz eigene Dynamik ist eine Dynamik der Liebe.
Reine Geschmacksfragen sind eigentlich noch keine Frage von Toleranz. Das wäre ein sehr oberflächliches Verständnis. Auf die „Großzügigkeit“, einen anderen Menschen nach dessen Façon glücklich werden zu lassen, braucht sich keiner etwas einzubilden. Sie sollte selbstverständlich sein. Ihre Verweigerung wäre weniger als Intoleranz,eher als Despotie zu bezeichnen.
- Menschenwürde und Toleranz als Basis demokratischer Rechtsstaatlichkeit
Demokratie bedeutet, dass eine Gemeinschaft von Freien und Gleichen ein Korrektiv für Einzelne in ihrer Perspektivgebundenheit und ihren moralischen Schwächen bildet. Es gibt keine Hierarchie– außer sie wurde von allen Mitgliedern mit gleichem Stimmrecht beschlossen. Gewählte, und damit als besonders qualifiziert erachtete Vorsitzende können wieder abgewählt werden, wenn sie den an sie gestellten Anspruch nicht einlösen bzw. die zugestandene Macht missbrauchen.
Die Grundlage einer Demokratie ist also bereits ein rechtsstaatliches Prinzip – nämlich die Freiheit und Gleichheit der Mitglieder. Das heißt, die Demokratie ist nicht nur eine Verfahrensform, sondern sie beruht bereits auf der inhaltlichen Voraussetzung gleicher Menschenwürde. Deshalb sagt schon Kant über die „republikanische Verfassung“, sie sei „die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen [ist]“ (Kant 1795/1993, Zum ewigen Frieden, 11. Band der Werkausgabe W. Weischedels, S. 223). Leider kann jedoch die Demokratie sich selbst und ihre rechtsstaatlichen Grundlagen abschaffen und sich per Wahl in eine Autokratie (oder illiberale Demokratie) verwandeln, wie man z.B. an der heutigen Türkei sieht.
Das führt zur Frage, inwieweit Demokratien verfassungsfeindliche Kräfte tolerieren sollten. Solche Gruppierungen berufen sich oft auf das Toleranzgebot. Es spricht für die Stärke von Demokratien, dass radikale Parteien, solange sie keine fundamentale Bedrohung für die freiheitliche Grundordnung darstellen, häufig sogar toleriert werden können. Von demokratischem Selbstbewusstsein zeugt, intolerantes Verhalten nicht zu schnell und zu hart zu verfolgen. Dahinter steckt auch die pädagogische Idee, die Erfahrung, trotz der eigenen Intoleranz toleriert zu werden, könne für den demokratischen Rechtsstaat einnehmen. Diese Hoffnung äußerte in den 1970er Jahren zumindest der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls. Nach ihm könnten demokratische Rechtsstaaten als politische Form praktizierter Toleranz eine friedliche Anziehungskraft entwickeln, die totalitäre Regimes auf Dauer zusammenbrechen lässt. Leider widersprechen viele politischen Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, insbesondere in den Jahren 2014-2016, dem bisher geglaubten Fortschrittsoptimismus (einige Beispiele: 2014 Ausrufung des islamischen Staates; im Schock-Jahr 2016 demokratische Wahl von Rodrigo Duterte auf den Philippinen, eines Mannes mit Verbindung zu den Todesschwadronen in Davao, der noch am Tage seiner Amtseinführung zur Ermordung von Drogenhändlern und Drogensüchtigen aufrief; Putschversuch in der Türkei mit Folge der Machtverstärkung Erdogans; Brexit-Referendum und die Wahl Trumps).
Da es einer gut ausgeprägten kollektiven Vernunft bedarf, die Selbstwidersprüchlichkeit einer illiberalen Demokratie zu erkennen und das Abgleiten von Demokratien in Autokratien gemeinsam zu bekämpfen, gehört die Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins zu den obersten schulischen Bildungs- und Erziehungszielen. In den Bereich der Bildungsziele gehört etwa die Wissensvermittlung über grundlegende Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates, etwa die Gewaltenteilung, die Artikel der Verfassung etc., in den Bereich der Erziehung die Stärkung der Toleranzbereitschaft.
Dr. Eva Steinherr ist Akademische Oberrätin am Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Fakultät Psychologie und Pädagogik der LMU München. Sie hat Philosophie und Lehramt studiert.
Zum Weiterlesen sei empfohlen:
Vittorio Hösle (2019). Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Horst Köhler. Freiburg/München: Karl Alber.
Steinherr, E. (2017). Werte im Unterricht. Empathie, Gerechtigkeit und Toleranz leben. Stuttgart: Kohlhammer.