Spiritualität in der Krise
Von Olivia Mitscherlich-Schönherr (München)
Die Corona-Krise kann spirituelle Befreiung ermöglichen
Die gegenwärtige Corona-Krise ist auch eine spirituelle Krise. Ihre spirituellen Aspekte sind vielfältiger Natur. Die spirituelle Corona-Krise betrifft die großen Religionsgemeinschaften, aber auch uns in unserer individuellen Existenz. Im Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Aspekte eröffnen sich Chancen zu spiritueller Erneuerung, die auch der pluralen Demokratie guttäte.
Die von der Corona-Pandemie ausgelöste Glaubenskrise stellt sich zunächst als Krise der großen, insbesondere der christlichen Religionsgemeinschaften dar. Diese Krise ist in den ersten Wochen der Corona-Pandemie im Schweigen der Glaubensgemeinschaften in Erscheinung getreten. Die Analyse der Corona-Krise und die Entscheidungen über die Maßstäbe zu ihrer Bewältigung waren den empirischen Wissenschaften, genauer dem naturwissenschaftlich orientierten Medizinsystem überantwortet. Leitprinzipien zum Umgang mit dem ethisch höchst brisanten Problem der Triage wurden vom Ethikrat und den medizinischen Fachgesellschaften erarbeitet. Das generelle Verbot, Gottesdienste zu feiern, wurde nicht infrage gestellt. In der Öffentlichkeit ließen die Vertreter der christlichen Kirchen auch noch die Entscheidung der Bundeskanzlerin unkommentiert, dass Ostern als traditionelles „Fest der Familie“ in diesem Jahr pandemiebedingt „anders ablaufen“ müsse; sie haben nicht einmal nachgefragt, welche Familie die Pfarrerstochter an Ostern eigentlich hätte feiern wollen. Jeder Anschein eines möglichen Konflikts zwischen einer religiösen und einer naturwissenschaftlichen Deutung der gegenwärtigen Krise wurde tunlichst vermieden. Zu Veränderungen kam es erst, als Vertreter muslimischer Glaubensverbände Ende April angesichts des herannahenden Ramadans vor das Bundesverfassungsgericht gezogen sind und höchstrichterliche Zustimmung zu ihrem Antrag bekommen haben: im Sinne der Glaubensfreiheit Gottesdienste unter Wahrung entsprechender Schutzkonzepte abzuhalten. Mit dem Ende des generellen Gottesdienstverbots ist die Pandemie-bedingte Krise innerhalb der katholischen Kirche in ihre zweite Phase eingetreten. Seit Anfang Mai fokussieren sich die grundlegenden Zerwürfnisse in der katholischen Kirche zwischen Pragmatikern und Fundamentalisten auf die Analyse und Bewältigung der Pandemie: Zerwürfnisse, die das spirituelle Leben in der Kirche zu zerreiben drohen. Auf pragmatischer Seite haben Vertreter der deutschen Bischofskonferenz zusammen mit Vertretern anderer großer Glaubensverbände dem Robert Koch-Institut und dem „Corona-Kabinett“ ein Rahmenplan zur Wiederaufnahme von Gottesdiensten vorgelegt. In diesem Rahmenplan übernehmen die Religionsgemeinschaften die virologische Analyse der Pandemie und bei der Ordnung der Gottesdienste die Hygienemaßnahmen, die auch für Museen oder andere kulturelle Einrichtungen vorgesehen sind. Dem treten fundamentalistische Gruppierungen um den Erzbischof Vigano und die Kardinäle Müller und Zen mit ihrem Aufruf „veritas liberabit vos“ entgegen. In ihrem Aufruf bringen sie nicht nur ihr Unbehagen an den vorherrschenden, virologischen Deutungen der Krise und den politischen Einschränkungen vieler demokratischer Freiheitsrechte im Zuge der politischen Pandemiebekämpfung zum Ausdruck, sondern entwerfen auch abenteuerliche Verschwörungstheorien und fordern die uneingeschränkte Autonomie in allen kirchlichen Angelegenheiten sowie die Aufhebung aller Beschränkungen der Gottesdienste. In den grundlegenden Spaltungen innerhalb der katholischen Kirche spiegelt sich nicht nur das Auseinanderdriften wider, das wir unter den Bedingungen der Corona-Krise gesamtgesellschaftlich erfahren. In ihnen tritt auch der spirituelle Verfall der katholischen Kirche nach den Missbrauchsskandalen und dem Ausbleiben grundlegender Reformen hervor: einer Kirche, die so sehr um sich selbst kreist, dass sie in der gegenwärtigen Krise keine spirituellen Erfahrungen eröffnen, kein Gottvertrauen vermitteln und keine ernstzunehmenden Alternativen zu den vorherrschenden Analysen und Gestaltungen der Corona-Krise aufzeigen kann. Die Zerwürfnisse mögen sich in den kommenden Wochen und Monaten noch verschärfen, falls es – nach Frankfurt und Bremerhaven – zu weiteren Infektionsfällen im Rahmen von Gottesdiensten kommen sollte.
Die spirituellen Aspekte der Corona-Krise gehen allerdings nicht in der Verschärfung der Kirchenkrise auf. Mit der gegenwärtigen Corona-Krise erleben wir eine – für die meisten von uns bisher unvorstellbare – Grenzsituation des Lebens (Näher habe ich dies in einem Artikel für die FAZ vom 18.4.2020 ausgeführt). Vieles, was lange selbstverständlich schien, ist binnen kürzester Zeit fraglich geworden: von gewohnten Umgangsformen über die Schulausbildung unserer Kinder, berufliche Existenzen, die Sicherheit unseres Gesundheitssystems, bis zum gesamtgesellschaftlichen Wohlstand, der Stabilität der politischen Ordnung und der Einheit Europas. In ihrer Unübersichtlichkeit birgt die gegenwärtige Krise das Potenzial, uns in existenziell-spirituelle Krisen hineinzuziehen. Wir konnten oder werden in den kommenden Wochen und Monaten Erfahrungen der Entbergung machen: Erfahrungen, fremden, unheimlichen Prozessen ohnmächtig ausgeliefert zu sein, die wir nicht kontrollieren können und für die unser individuelles Wohlergehen nicht zählt. In der Pandemie können wir und uns nahestehende Personen krank werden und sterben, obwohl wir keiner Risikogruppe angehören – und grundsätzliche Sinnfragen aufkommen lassen: warum ich, wir und nicht die Anderen, die mit ihrem Körper schon so lange Schindluder getrieben haben? Erfahrungen der Sinnleere können sich aber auch angesichts des wirtschaftlichen Ruins auftun, in den die politischen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung treiben. Sie können sich an der Vereinsamung unter den Bedingungen des „Social Distancing“ entzünden. Wir können der Sinnleere auch als Langeweile begegnen, die sich in unserem Leben hat ausbreitet können, seitdem wir auf viele seiner schönen, freudvollen Seiten verzichten müssen. Und nicht zuletzt können wir von Fragen der Schuld eingeholt werden: haben wir mit unseren Lebensweisen, mit unseren Formen des globalen Wirtschaftens, des Umgangs mit der Natur zum Aufkommen der Pandemie beigetragen? Werden wir durch unseren Umgang mit der Pandemie – durch den „Lock down“ oder gerade durch seine zu rasche Aufhebung – Anderen oder uns selbst gegenüber schuldig?
Gerade im Ausgeliefert-Sein an Prozesse, die wir nicht beeinflussen können, können wir aber auch ungeahnte Formen des Geborgen-Seins erleben. Neben – parallel zu, zusammen oder im Wechsel mit – den „karfreitäglichen“ Erfahrungen des Sinnentzugs kann die gegenwärtige Corona-Krise „österliche“ Erfahrungen der Sinnfülle eröffnen. Die Ausnahmewochen der Pandemie haben den Alltag entschleunigt und gesunden wie kranken Menschen Augenblicke der Muße beschwert, die nicht langweilig waren. Unerwartet hat sich vielleicht das stille Glück eines ruhigen, abgasfreien Morgens am Fenster oder auf dem Balkon eingestellt. Zwischen all der Doppel- und Dreifachbelastung von Home Office, Home Schooling und Zukunftsängsten können sich in den Familien neue Konfliktlinien auftun; manche unter uns mögen aber auch die Erfahrung gemacht haben, dass sich alte Zerrüttungen angesichts des Ernstes der Lage aufgelöst haben. Das Zerbrechen beruflicher Perspektiven mag uns in seinen beängstigenden Aspekten auch einen neuen, kritischen Blick auf die eigene berufliche Existenz der letzten Jahre mit all deren Enttäuschungen eröffnen. In Momenten der Muße können wir uns fragen: wollen wir so überhaupt leben? Und gerade wenn wir oder unsere Angehörigen in den letzten Wochen schwer erkrankt sind, mögen wir augenblickhaft die Kostbarkeit des Lebens gefühlt haben, das uns miteinander noch verbleibt. Dabei haben viele unter uns in den vergangenen Wochen neue Formen des „werktätigen Glaubens“ hervorgebracht: neuer Formen der Solidarität in der Ausnahmesituation.
Das Zusammentreffen der Kirchenkrise und der existenziell-spirituellen Krisen eröffnet Chancen zu spirituellen Erneuerungen. Gerade da keine fertigen Interpretationsmuster durch kirchliche Autoritäten vorliegen, können all die gegenwärtigen Formen gelebter Spiritualität inmitten der Krise Anfänge für einen erneuerten Glauben bilden. Dies mag nicht nur individuell wichtig sein, indem das eigene Leben in weitere Wirklichkeitszusammenhänge eingerückt werden kann: in Zusammenhänge, in denen es überhaupt erst möglich sein mag, die Sinnleere erlebten Leids zu beklagen. Wir sind vielmehr auch gesamtgesellschaftlich auf Formen der spirituellen Erneuerung angewiesen. Die Neugestaltung der kirchlichen Glaubensgemeinschaften ist seit langem überfällig. Aber auch die plurale Demokratie ist auf neue Formen der Spiritualität angewiesen. Seit Jahren weist Jürgen Habermas auf die Bedeutung von komplementären Lernprozessen zwischen Agnostikern und Gläubigen für den Fortbestand der liberalen Demokratie hin (vgl. Habermas 2005a; b). Innerhalb solcher geteilten Lernprozesse hätten die Gläubigen in der Gegenwart insbesondere als Instanz der Kritik zu fungieren. Ihnen käme die Aufgabe zu, die vorherrschenden, einseitig naturwissenschaftlichen Analysen der gegenwärtigen Krise auf ihre Wahrheit zu befragen und vergessene Aspekte an der Krise in den Blick zu rücken. Und sie hätten die politischen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in Bezug auf die Gewalt zu überprüfen, die diese anderen Menschen, anderen Lebewesen und der Erde antun. Auf diese Weise würden wir uns mit unseren spirituellen Erneuerungen nebenbei auch solidarisch mit den kommenden Generationen verhalten, über deren Welt wir in unserer gegenwärtigen Krisengestaltung mitentscheiden.
Olivia Mitscherlich-Schönherr lehrt Philosophische Anthropologie mit Schwerpunkt auf Grenzfragen des Lebens an der Hochschule für Philosophie in München.
Referenzen:
Habermas, Jürgen (2005a): Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? In: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. Main, 106-118.
Ders. (2005b): Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ religiöser und säkularer Bürger, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, a.a.O., 119-154.