Was taugen philosophische Gedankenexperimente? Zur Ethik des Kontrafaktischen

Von Florian Arnold (Stuttgart)


Wer sich in seinem Leben länger an philosophischen Instituten aufgehalten hat, dem dürfte die Situation schon einmal untergekommen sein, dass im Zuge einer Seminarübung, ausgestattet mit einem oder mehreren Texten und befeuert durch den didaktischen Übermut des Dozierenden, die Welt in Gedanken kurzerhand auch einmal vernichtet werden kann – wenn auch in der erklärten Absicht, sie wieder aufzubauen. Wer zudem noch im Heidelberg der Nullerjahre die Gelegenheit hatte, den Gedankengängen eines äußerst jungen, begeisternden Dozenten zu folgen, die nicht selten in einem skeptischen Szenario eines totalen Verblendungszusammenhangs mündeten, der mag sich seinerseits heute nicht mehr wundern, dass es die Welt nicht geben soll und der Geist zu einer Fiktion par excellence geworden ist. – Aber kann man das so einfach: Szenarien im Kopf entwerfen, daraus Konsequenzen entwickeln und zu guter Letzt behaupten, der Wahrheit näher gekommen zu sein? Klingt das nicht zu sehr nach dem Wunsch, die Differenz von Wunsch und Wirklichkeit zu verwischen? Und überhaupt, spricht hieraus nicht die berühmt-berüchtigte Weltfremdheit einer ewig alten Philosophenzunft: Kopfgeburten zur Welt zu bringen und bei Komplikationen eher die Existenzberechtigung der Welt in Zweifel zu ziehen? Kann man eine solche Weltverweigerungshaltung mit absolutem Wahrheitsanspruch heute noch ernst nehmen?

Die Antwort könnte gerade heute eindeutiger nicht ausfallen: Ja, man muss es sogar, will man unsere neuen medialen Wirklichkeiten nicht aus den Augen verlieren. Mit Blick auf die digitale Aufrüstung und Zurichtung unserer Lebenswelt ist nicht von ungefähr der Eindruck entstanden, dass derartige Annahmen und Überlegungen, die klassischen Gedankenexperimente der Philosophie, längst den Weg aus dem akademischen Elfenbeinturm in die Siliziumwüsten unserer virtuellen Gegenwart samt ihren Fata Morganas gefunden haben. Denken sich Philosophinnen und Philosophen Gedankenexperiment also nicht bloß aus, sondern leben wir heute schon in einem andauernden Gedankenexperiment, das sie umgekehrt nur auslegen? Leben wir etwa in einer High (Resolution) Fantasy, deren Wirklichkeitskontakt lediglich noch durch den verdutzten Anstoß hergestellt wird, den sie bei unbeteiligten Beobachtern verursacht?

Mit gewissem Staunen über die Maskeraden bzw. das Cosplay des Zeitgeistes muss man sich fragen: Was ist heute selbstverständlicher als unser alltäglicher Umgang mit Simulationen und Suggestionen, als unser Vertrauen auf das Sein des Scheins? Schauen wir auf die Fiktionen der Welt, erleben und leben wir einen neuen Realismus altehrwürdiger Ideen, gerade angesichts einer Welt, die es, wenn überhaupt noch, im Modus des Als-ob zu geben scheint. Man könnte meinen, keine Zeit wäre zugleich skeptischer und spekulativer als die unsere, und man ginge wohl nicht fehl in der Annahme, dass dem gar nicht anders sein kann, wenn heute alles möglich sein soll.

Doch wie kam es dazu, dass wir die Möglichkeit derart schätzen gelernt haben, dass wir ihr bereitwillig ein Existenzrecht  in der Wirklichkeit zubilligen, ja, bisweilen mehr noch, umgekehrt, „die Wirklichkeit“ lediglich als einen flüchtigen Sonderfall unter angestammten Möglichkeiten behandeln, indem wir auch sie in den Plural setzen? Bohrt man hier noch etwas tiefer, stößt man auf die Frage: Wie ist ein solcher Dauerausnahmezustand notwendiger Kontingenz seinerseits möglich geworden? Und was sagt uns das gerade über die Bedeutung ausgeklügelter Gedankenexperimente?

Genies und Ingenieure

Hält man Rückschau auf die Geschichte der Moderne, dann fällt auf, dass einer der wesentlichen Faktoren für die Herausbildung unserer Gegenwart in einer erfolgreich betriebenen „Ästhetisierung der Lebenswelt“ (Rüdiger Bubner) zu sehen ist. Seit Baumgartens Inauguration der Ästhetik als Fachdisziplin, über Schillers ästhetische Erziehung und Nietzsches Geburt des Ästhetizismus aus dem Geist des Wagnerischen Gesamtkunstwerks, vertieft noch durch Heideggers dichterische Wohngemeinschaft und verbreitet letztlich durch Foucaults Ästhetik der Existenz (um nur ein paar Stationen zu nennen) – mithin seit Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich ein Weg nachvollziehen, der seit der Jahrtausendwende in einer allgemeinen Kreativwirtschaft der Singularitäten und des Eventmanagements münden sollte, die auf die prekäre Selbsterfahrung heutiger Subjektivität zugeschnitten ist. Stellt man dazu in Rechnung, dass dieser Prozess (post-)bürgerlicher Selbstfindung unverkennbar parallel verläuft zu den industriellen Revolutionen, deren vierte, die digitale, wir heute angeblich gewärtigen, dann ließe sich dieser Prozess auch treffend als existenzielle Synthese von Form und Funktion, als Agenda eines modernen Selbst- und Weltentwurfs oder kurz: als Design des Daseins begreifen. Gehen wir diesen Weg noch ein Stück weiter, zeichnet sich vor unserem inneren Auge ein markanter Wandel ab, der unsere Zukunft in einem anderen Licht erscheinen lässt. Von der modernen Ideengeschichte der Ästhetik seinen Ausgang nehmend gibt sich die sogenannte Gamifizierung als das jüngstgeborene Lieblingskind einer informatischen Matrix und eines umfassenden Gestaltungswillens zur Macht zu erkennen – quasi als Verkörperung eines analog/digitalen Spieltriebs aus einem Stoff- und einem Formtrieb, wenn man das Kind mit Schiller beim Namen nennen möchte.

So scheint heute gewissermaßen unser ganzes Leben bereits die Form eines Gedankenexperiments angenommen zu haben, macht man sich klar, dass im Zuge des Strukturwandels eines „Kreativitätsdispositvs“ (Andreas Reckwitz) aus dem ästhetischen Spiel mit sich selbst, gedeckt vom Autonomiepostulat der Kunst, alsbald ein neuer Ernst der spielerischen Selbstausbeutung werden sollte, der sich offen den Heteronomien des Selbstdesigns wie seinem Schicksal überantwortet hat – nicht zuletzt um sein finanzielles Glück zu machen. Neben einer Re-Analogisierung der in den unterschiedlichsten Game-Environments gemachten Lebenserfahrung gehört dazu auch die Grundannahme einer konstitutiven Manipulierbarkeit tendenziell aller Weltereignisse mithilfe der Medien, Mittel und Methoden des jeweiligen technischen Standards.

Was Heidegger noch etwas mythisch das „Gestell“, die Bestellung aller Dinge in den Bestand einer totalen Disponibilität genannte hatte (und heute als „Amazonisierung“ von allem und jedem bezeichnet werden könnte), ergibt sich seinerseits aus einem Entwurfsdenken und seinen realisierten Denkentwürfen, die seit der Neuzeit die Erfolgs- und Folgengeschichte des sogenannten Fortschritts geschrieben haben. Die Grenzen zwischen Gedanke und Gestalt sind dort bloß durchlässiger geworden, wo die Materie als Datenmasse ihren eigensinnigen Widerstand zusehends aufzugeben scheint. Was in Leonardos Ingenium noch ungetrennt war, Kunst und Wissenschaft, ist es erneut – freilich mit dem Unterschied, dass an die Stelle der analogen Werkstatt der digitale Workshop getreten ist und die Erlernung der erforderlichen Gestaltungstechniken heute weniger ortsansässige Tutoren als Tutorials in Anspruch nehmen. Wo die Gamifizierung dergestalt zum Alltagsphänomen wird (auch in dem Sinne, dass die artifiziellen Erscheinungen des Alltäglichen einem digital hochgerüsteten Spieltrieb entstammen), scheint sich das Gedankenexperiment der Neuzeit schlechthin: die konzeptuelle Durchdringung und technische Umgestaltung der Natur, schon in einem Maße vollendet zu haben, dass die Konzentration auf Gedankenexperimente, insbesondere philosophische, lediglich in der Theorie explizit macht, was bereits seit längerem erprobte Praxis ist. Die herausgehobene Bedeutung von Gedankenexperimenten, ihrerseits als Phänomen betrachtet, ist Ausdruck eines bestimmten Welt- und Selbstdesigns, da sich gleichermaßen in unserem „mindset“ niedergeschlagen hat – einer „künstlichen Intelligenz“ von Genies und Ingenieuren.

Angenommen also, jeder Gedanke wäre demnach schon ein Experiment, was taugte dann die Rede von Gedankenexperimenten als einer besonderen, philosophischen Methode?

Proto-, Kontra-, Postfaktizität

Was ist das dann aber – ein philosophisches Gedankenexperiment? Stellen wir uns der Frage aus dieser Perspektive, verspricht die Antwort zugleich mehr als eine Erklärung bloß spezieller Anwendungsbereiche, etwa der „praktischen Philosophie“. Vielmehr ist zu erwarten, dass gerade heute wieder grassierende Bereiche wie die philosophische Ethik lediglich einen Bruchteil einer allgemeineren praktischen Philosophie ausmachen, die nicht allein alltägliche Handlungsnormen moralisiert, sondern sie tagtäglich in teilweise schlagender Unverantwortlichkeit selbst hervorbringt und zwar ausgehend von einem Weltentwurf, der die Welt überhaupt als etwas zu entwerfendes (statt zu behütendes, zu züchtendes, zu erhaltendes oder auch bloß zu heiligendes) versteht. Manchmal heißt zu denken, bereits zu gestalten – und nicht allein mit Gedanken zu experimentieren.

Folgt man zunächst repräsentativen Darstellungen wie der Georg Bertrams zeichnen sich speziell philosophische Gedankenexperimente durch einen dreistufigen Aufbau aus: „(1) Einleitung durch philosophische Fragestellung(en), (2) Kontrafaktisches Szenario, (3) Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung(en).“[1] – (1) und (2) bilden hierbei lediglich einen Rahmen, in dessen Mitte das kontrafaktische Szenario den Ort einnimmt, an dem sich das Entscheidende ereignet, indem hier nämlich Faktoren ins Spiele kommen, die gemeinhin nicht zu den Kandidaten eines logon didonai zählen, da ihnen zumeist ein eklatanter Mangel an rationaler Ausweisbarkeit nachgesagt wird. Die Rede ist von Fiktionen im Dienst logischer Argumentationen, von kontrafaktischen Fiktionen, die das eigentliche Medium der an sich schon paradoxen Struktur eines rein gedanklichen Experimentierens ausmachen sollen.

Neben anderen Besonderheiten liegt hier also schon die Problematik von Gedankenexperimenten offen zu Tage: Was durch sie bewiesen, vielleicht auch nur erwiesen werden soll, sind in den seltensten Fällen tatsächliche, namhafte Erfahrungen, die etwa zur Falsifikation der eigenen Annahme führten. Stattdessen handelt es sich oft um äußerliche Illustrationen gemachter Prämissen, deren inferentieller Ertrag letztlich auf eine Tautologie hinauskommt. Mag in diesen Fällen das kontrafaktische Szenario zwar zunächst die Erwartung schüren, mit Unerwartetem konfrontiert zu werden, so erweist sich diese Unerwartbarkeit selbst doch als kalkulierte. – Diese Fälle, um es kurz zu machen, taugen nichts.

Ein anderer Fall ist es hingegen (und die Wirkungsgeschichte klassischer Gedankenexperimente zeugt bereits davon), wenn die Fiktionalisierung der logischen Prämissen einen gewissen Spielraum eröffnet, ja besser noch: wenn die Fiktion selbst – wie in dem wohl größten Gedankenexperimente der Philosophiegeschichte, in der platonischen Politeia – eine inhärente Logik entwickelt, die ihre Voraussetzungen retroaktiv entwickelt und dabei Kettenschlüsse ermöglicht, die in wesentlicher Hinsicht über die Ausgangssituation hinausführen. Das muss freilich nicht der utopische Entwurf eines ganzen Staates sein, auch schon die Dystopie eines „brain in the vat“ genügt, um das charakteristisch Fiktive dieser Formen innerhalb der Gedankenentwicklung herauszustellen. Manche würden sogar eher zögern, Platons monumentalen Entwurf als Gedankenexperiment gelten zu lassen, scheinen die Grenzen zwischen einer philosophischen Theoriebildung im Staatsformat und einem imaginären Versuchsaufbau im Dachstübchen dadurch bereits verwischt. Doch wer wollte etwa die zentralen Gleichnisse, darunter das Höhlengleichnis, ausnehmen, um die der Text der Politeia gleichsam wie das Fruchtfleisch um den Kern gelagert ist, ohne das wir die philosophische Saat weniger bereitwillig schlucken würden…  

Aber wie dem auch sei, ein wichtiges Charakteristikum philosophischer Gedankenexperimente wird immer wieder hervorgehoben, das der Prägnanz. Darunter ist zweierlei zu verstehen: Vordergründig ist damit eine reizende Kürze gemeint, die selbst nicht schon zu viele Vorannahmen explizit ins Spiel bringt, geht es hintergründig doch eher um eine implizite Prägnanz und zwar durchaus im Wortsinn eines „Schwangergehens“. Nun war es lange Zeit nicht nur für Philosophen ein wundersames Rätsel, wie Gedankendinge zur Welt kommen, erkennbare Züge ihrer Erzeuger aufweisen und doch unverkennbar andere, eigenständige Züge ausbilden. Und wir wissen bereits seit Sokratesʼ mäeutischen Künsten, dass meist Philosophen zur Stelle sind, wenn es um Kopfgeburten geht. Die eigentlich interessante Frage in Sachen Gedankenexperimenten scheint dabei jedoch die zu sein, wie sie sich überhaupt ausbilden können, auch wenn sie sich am Ende als ‚bloße Windeier‘ herausstellen sollten. Diese Frage wiederum führt uns in das Reich der Phantasie, genauer auf den Zusammenhang von heuristischen Fiktionen, Schematisierungen von Handlungsabläufen und Zukunftsprospekten. Bertrams Resümee:

„Kontrafaktische Szenarien in Gedankenexperimenten bestimmen Aspekte eines Möglichkeitsraums, innerhalb dessen Menschen die für sie grundlegenden Begriffe entwickeln, also Philosophie betreiben. Die in Auseinandersetzung mit philosophischen Gedankenexperimenten geschärften und veränderten Begriffe artikulieren die Auseinandersetzung mit der Welt, mit anderen und mit sich selbst. […] Dies geschieht nicht empirisch, sondern dadurch, dass der Möglichkeitsraum solcher Verständnisse begrifflich neu absteckt wird. Die kontrafaktischen Szenarien philosophischer Gedankenexperimente entwickeln auf diese Weise Imaginäres, um eine zukunftsorientierte Weiterentwicklung von Grundbegriffen des menschlichen Weltverhältnisses anzustoßen.“[2]

So treffend diese Begriffsbestimmung eines Gedankenexperiments auch ist, man wird den Eindruck nicht los, dass sich in ihr eine Denkweise artikuliert, die sich in letzter Instanz kaum von philosophischen Gedankengängen per se (nicht: bloßen formallogischen Argumenten) unterscheiden lässt. Das übersieht auch Bertram nicht, wenn er ein solches imaginäres Durchspielen von kontrafaktischen Szenarien zum Zweck der Begriffsklärung oder gar Begriffsbildung zu guter Letzt auf den Einzelfall verpflichtet:

„Die einzelnen kontrafaktischen Szenarien, die von Philosophinnen und Philosophen entworfen worden sind, lassen sich sehr wohl auf ihre Plausibilität und auf ihren Erkenntniswert hin kritisieren. Die Kritik wird damit zu einer Sache des Einzelfalls. Sie stellt sich in Form der Frage, ob ein bestimmtes Gedankenexperiment gut oder nicht gut, produktiv oder nicht produktiv ist, etc.“[3]

Bestünde die Prägnanz brauchbarer philosophischer Gedankenexperimente also darin, philosophische Probleme in einem doppeldeutigen Sinne zu „verdichten“? Wären Gedankenexperimente demzufolge etwas wie eine selbst- und weltaufklärerische Miniaturarbeit am Mythos als gleichzeitige Arbeit am Begriff? Klar scheint zumindest, dass, wo kontrafaktische Szenarien als „narrative Prototypen“[4] ins Spiel kommen, unsere Einbildungskraft jene Konkretisierungsleistung allererst zu erbringen hat, die unserer Urteilskraft sodann erlaubt, eine Sache auf den Begriff zu bringen. In anderen Worten: Die Prägnanz von Gedankenexperimenten besteht in ihrer (kantischen) Schematisierungs- und Symbolisierungsfunktion, die den Möglichkeitsraum nicht eröffnet, ohne ihn zugleich in den wesentlichen Zügen, will sagen: in einer einzelnen bestimmt-unbestimmten Hinsicht auszugestalten. Die benannte Kontrafaktizität scheint so bereits eine protofaktische, stellt man in Rechnung, dass die Einbildungskraft auch hier nicht gänzlich aus dem Nichts erschafft, jedoch zugleich eigenen (transzendentalen) Regeln folgt. Und wendet man sich den Einzelfällen, den konkreten Gedankenexperimenten selbst, zu, läuft sie aufgrund ihrer vorgängigen Fiktionalität nicht selten Gefahr, zugleich zu einer postfaktischen zu werden.

Bestes Beispiel für Letzteres ist das systematische Vorgehen, den Möglichkeitsraum politischer Faktenlagen in einer Weise zu bespielen, die geradezu virtuos lediglich die beste aller möglichen Welten für die eigene policy ausklügelt, um sie als gleichrangige Alternative und denkbar dankbare Interpretation medial geltend zu machen. Das geschieht durch gezielte Schematisierungen und Symbolisierungen narrativer Prototypen, die mit Blick auf die kollektive Imagination lanciert werden. Der Clou besteht also gewissermaßen darin, die potentiellen Opfer zu einem Gedankenexperiment einzuladen, dass vor ihrem inneren Auge die Welt neu entwirft, um diese Blaupause sodann der Wirklichkeit zugrunde zu legen. Je weniger Kontaktpunkte dieses Bild mit der Wirklichkeit aufweist, desto weniger Reibungspunkte ergeben sich auch für das postfaktische Fortspinnen der eigenwilligen Narration im eigenen Interesse, ohne jedoch den Anschein einer inneren Inkonsistenz verursachen zu müssen. Lediglich ein Mangel an ausreichenden Wirklichkeitskontakten mag skeptisch stimmen, lässt sich aber leicht in einen Zweifel am Zweifel überführen, wo „die Wirklichkeit“ sich schon längst in ein Spektrum von Wirklichkeiten zersprengt sieht, sprich: etwa in den disparaten Möglichkeitsräumen sozialer Medien.

Das wirft umgekehrt ein anderes Licht auf philosophische Gedankenexperimente als (kritische) Heuristika. Etwas polemisch gewendet: Erleichtert nicht gerade ein anhaltendes Pochen auf einer imaginären Kontrafaktizität unter Umständen eben jene Wirklichkeit der Kontrafaktizität, die sich intrikat als abgründige Deutungsfreiheit, als „alternativlose“ Postfaktizität gegen ihre Kritiker zu verteidigen sucht? Unter den heutigen Umständen der Gamifizierung samt deren Nischen und Netzen dürften Gedankenexperimente aus den angeführten Gründen ihre aufklärerische oder gar kritische Spitze eher verloren haben, als geschärft finden. Darüber noch hinaus meint man heute nicht mehr nur zum Zuschauer eines politischen Meta-Gedankenexperiments zu werden, das den spielerischen Ernst moderner Selbstentwürfe auf eine neue Spitze treibt: Wir scheinen selbst täglich ein Gedankenexperiment mit der Zumutbarkeit von eigennützigen Deutungsunschärfen zu durchlaufen. Das muss nicht allein daran liegen, dass dafür von entsprechender Stelle und mit den entsprechenden Machtmitteln Sorge getragen wird, sondern bewegt sich von vorneherein im kultivierten Möglichkeitsraum allgegenwärtiger What-If-Szenarien, die insbesondere durch philosophische Spekulationen auf unvordenkliche Ereignisse scheunentürweit offengehalten werden. Die Frage ist dabei nur, wer die Ernte einfährt.

Damit soll freilich nicht behauptet werden, dass der Entwurf von Gedankenexperimenten zum Zweck der (Auf-)Klärung von Begriffslagen zwangsläufig zu seinem Missbrauch und unserer Unterwerfung gegenüber beliebigen Deutungsoptionen führen muss. Und dennoch zeigt sich hieran lediglich bis zur Deutlichkeit verzerrt, dass die eigentliche Crux von Gedankenexperimenten nicht allein in ihrer Methode liegt, sondern in ihrer Ethik. Damit ist nun weniger die heutige Vorliebe für Gedankenexperimente im Bereich der Ethik gemeint als eine Ethik der Gedankenexperimente selbst, die gewissermaßen präfaktisch, beim Prototyping unserer Entwürfe anzusetzen hätte. Vergegenwärtigen wir uns diesen Zusammenhang abschließend an zwei Einzelfällen, an zwei der berühmtesten Gedankenexperimenten in der philosophischen Ethik: dem Trolley-Problem und Ferdinand von Schirachs Terror-Dilemma

Das Dilemma des Einzelfalls

Es sei vorausgeschickt, dass es seinerseits geradezu verantwortungslos wäre, für diese „Einzelfälle“ und deren Interpretationen, die sich zu einem regelrechten Genre von Varianten ausgewachsen haben, kurzerhand eine Lösung vorschlagen zu wollen. Im Gegenteil kann es bei diesen Prototypen der Gedankenexperimentsprosa höchstens um deren Problematisierung gehen und zwar im Hinblick auf ein jeweiliges narratives Prototyping. Das kann hier wiederum nur schematisch erfolgen, mag aber vielleicht darauf hinwirken, das narrative prototyping in der philosophischen Ethik selbst in einem kritischeren Licht erscheinen zu lassen, wo es sich mit Vorliebe auf Dilemmata kapriziert.

Beginnend mit dem Gedankenexperiment eines Trolley, der nur die Alternative offenlässt, eine von zwei wie auch immer gearteten Personen oder Gruppen durch die Entscheidung einer Weichenstellung womöglich tödlich zu gefährden, heißt, das Dilemma als solches zu problematisieren, zunächst seinen Aufbau in Frage zu stellen: Egal, wie man sich mit welchen Präferenzen und unter welchen Kriterien auch immer entscheiden mag, die Entscheidung als solche wird keine direkt moralische sein können, sofern das Dilemma als Dilemma konsistent konstruiert ist. Denn es handelt sich der Anlage nach um einen moralisch indifferenten Automatismus (Trolley auf Gleis), der gewissermaßen mit einer Art moralischem Automatismus der Entscheidungsfindung (beim Fahrer) gekoppelt ist, bei dem am Ende als Entscheidungs-„Intuition“ nur zum Vorschein kommt, was als Kriterien und Präferenzen schon vorausgesetzt wurde.

Nun könnte man einwenden, dass es darum im Grunde gar nicht ginge, und der Ertrag dieses Gedankenexperiments vielmehr darin bestünde, sich gewissermaßen zweiter Ordnung über die eigenen Wertannahmen bewusst zu werden und sie zur Diskussion zu stellen. Das soll hier auch gar nicht in Abrede gestellt werden. Der Punkt ist dagegen der, dass sich diese Diskussion ebenso gut bei unendlich vielen anderen möglichen und wirklichen Einzelfällen führen ließe. Warum also gerade an diesem Trolley-Dilemma, das per definitionem, als ein veritables Dilemma, nicht nur keine endgültige, sondern auch keine verallgemeinerbare Lösung erwarten lässt. Oder warum sollte gerade dieses dilemmatische Schema – neben allen anderen denkbaren – eine paradigmatische Funktion für alle anderen denkbaren besitzen?

Der Einwand ist folgender: Es lohnt sich schlicht nicht (und wirft umgekehrt ein fragliches Licht auf den ethischen Anspruch), dass man sich auf eine detailliert ausgearbeitete Fiktion einschießt, um sodann, im eigentlich ausgeschlossenen Bestfall, eine Lösung zu erwarten, die sich als eine Art moralische Patentlösung ohne nennenswerte Verluste auf alle ähnlichen, wirklichen Fälle anwenden ließe. Schon Ähnlichkeit ist bei Moralfragen nicht per se ein rechtes und insbesondere kein billiges Maß, sondern fordert am Ende dazu auf, jeden Einzelfall trotzdem für sich zu beurteilen und konkret zu entscheiden, was gut oder schlecht ist. Das schließt freilich nicht aus, dass man sich für einen deduktiven Moralansatz entscheiden kann (wie wir in unserem zweiten Beispiel sehen werden), lässt aber ein induktives Vorgehen, das an Einzelfällen allgemeine Normen ableiten will, dann fraglich werden, wenn eine vorsorgliche Kodifizierung von Handlungsnormen an dezidiert fiktiven Einzelfällen erfolgen soll. Denn ausdenken lassen sich alle möglichen Szenarien, von denen jedoch erst zu prüfen wäre, ob sie protofaktische oder bloß „postfaktische“ Wahrheit besitzen, was freilich die Aufgabe des Richters allein in einem wirklichen Fall sein kann und soll, um rechtlich-moralisch verbindlich zu sein. Beruft man sich also auf ein induktives Vorgehen, wie es nicht zufällig für den angloamerikanischen Raum in Rechts- aber auch moralphilosophischen Fragen bezeichnend ist, dann bleibt die Faktizität eines Einzelfalls, sein tatsächliches Stattgehabthaben, entscheidendes Kriterium für die Logik des Normgedankens, ja für die Legitimität selbst der faktischen Gesetzesbildung aus der Geschichte bisheriger Urteilsfindungen. Denn allein so lässt sich die Entwicklung des Rechtsystems seinerseits allererst faktisch abbilden sowie andererseits überhaupt legitimieren gegenüber einer drohenden phantastischen Willkür.

So bezeugen bereits die unendlichen Varianten des Trolley-Problems, dass sich die Versuchsreihe nicht mit einem einzigen, verbindlichen Ergebnis abschließen lässt. Und dies einfach darum, weil jede Variation bereits einen gravierenden Eingriff bedeutet, der im Unterschied zu tatsächlichen Fällen, weniger einen Wirklichkeitsaspekt herauspräpariert, als eine weitere imaginäre Möglichkeit ins Spiel bringt. Wirkliche Dilemmata dagegen „lösen“ sich in der Wirklichkeit am Schluss wirklich auf die eine oder andere Weise (auch wenn „lösen“ hier etwas euphemistisch klingt), wohingegen Gedankenexperimente über die Raum- und Zeitschwelle einer epoché unendlicher eidetischer Variationen nicht hinauskommen (müssen). Warum also sich überhaupt mit bestimmten konsistenten Dilemmata beschäftigen, wenn das Ziel nur darin bestehen kann, eine Lösung zu finden, die es gerade als falsches Dilemma ausweisen würde? Und sollte es selbst gelingen, was wäre angesichts seiner Unübertragbarkeit gewonnen statt an Zeit für andere vielleicht lösbare, jedenfalls unausweichlich wirkliche Problem verloren? – Oder glaubte man etwa zuletzt, moralische Normen ließen sich, sofern sie sich als Lösungen erwiesen haben, nicht nur selbstfahrenden Autos einprogrammieren…?

Ich breche hier ab, um mich dem anderen Fall, dem Terror-Dilemma von Schirachs zuzuwenden, das die Debatte um die unter Schröder verabschiedeten und vom Bundesverfassungsgericht gekippten Luftschutzgesetze zum Thema hatte und pointierte: Darf man 164 Menschen eines gekaperten Passagierflugzeugs per Kampfflugzeugeinsatz gezielt töten, um 70 000 anderen am Boden das Leben zu retten? Die damalige Bundesregierung meinte Ja, das Bundesverfassungsgericht Nein. Von Schirach verschärfte die Entscheidungssituation dadurch, dass er den fiktiven Ernstfall dramatisierte: Ein Kampfpilot hat sich für den Abschuss entschieden und steht vor Gericht.

Auch hierbei möchte ich mich nur auf ein bestimmtes Moment konzentrieren, gewissermaßen das entgegengesetzte deduktive Moment im Prototyping von ethischen Gedankenexperimenten, das Aufmerksamkeit verdient. War beim Trolley-Dilemma der inhärente Mechanismus, eine automatische Katastrophe, der eigentliche Grund, warum seine ethische Lösung trivialerweise keine befriedigende sein kann (aber auch keine juristisch zu verantwortende sein muss?), so zeigt sich hier umgekehrt die Zuspitzung einer ausschließlich menschlichen Handlungssituation als Auslöser anhaltender Debatten, die massenwirksam zuletzt um das TV-Experiment, der ARD-Verfilmung „Terror“, geführt wurden, bei dem den Zuschauern die Möglichkeit gegeben wurde, live mitabzustimmen. Sie kreisen um den Punkt, dass Verantwortung in diesem Fall vorbehaltlos zuschreibbar ist und lediglich der Ermessensspielraum der eigenen und anderen „Intuitionen“ streitbar ist.

Man könnte sagen, erst bei solchen Beispielen wie dem von Schirach-Dilemma zeigt sich, dass es letztlich nicht das Dilemma, sondern der Grad der Bereitwilligkeit ist, gradezustehen für die eigene Entscheidung. Man könnte sogar so weit gehen, in Abrede zu stellen, dass es sich darum wirklich um ein Dilemma im strikten Sinne handelt, weil Lösungen jederzeit zur Hand sind, allein deren Konsequenzen einen Rattenschwanz an moralischen Fragen mit sich führen. Vergegenwärtig man sich die Situation etwa aus der Perspektive eines strengen Kantianers, die der Begründung des Bundesverfassungsgericht nahe kommt: Menschenleben dürften nicht gegen Menschenleben aufgewogen werden, die Würde des Menschen sei unantastbar, dann löst sich das vermeintliche Dilemma dahingehend auf, dass es moralisch verwerflicher scheint, zu töten, als Töten zuzulassen. Dazu kommt, dass es in der jeweiligen Situation gerade nicht ausgeschlossen ist und zwar aufgrund der primär menschlichen Entscheidungsfaktoren, dass der vermeintliche „Mechanismus“ einer Tötung der dritten Person durch das gegnerische Gegenüber nicht greift:

Denn einmal von eher sophistischen Annahmen abgesehen (Versagen der Technik an Bord des Passagierflugzeugs, Schlaganfall der Terroristen etc. – Annahmen, die die Logik des Trolley-Dilemmas dagegen gänzlich aushebeln würden), ist auch eine Entwicklung der Situation denkbar, bei der die feindlichen Aggressoren gerade dadurch zur Umkehr bewegt werden, dass sie einen Nichtabschuss als eine aktive, ostentative Unterlassung von Gewalt zu deuten verstehen, darin ihre eigene Würde gewahrt sehen und sich ebenfalls eines Besseren – oder des einzig Guten nach Kant, eines guten Willens – besinnen. Mag dieser Fall auch äußerst unwahrscheinlich anmuten, so bewegt er sich gleichwohl im Rahmen des kontrafaktischen Szenarios und dürfte aus kantischer Sicht die einzig akzeptabel Lösung sein, weil sie zugleich von einem moralischen Fortschritt im Allgemeinen zeugte, statt bloß von einer konsequentialistischen Findigkeit, ein Problem zu beseitigen.

Die eigentliche Konsequenz, die sich wiederum aus diesem Dilemma ziehen lässt, scheint zum einen die, dass es keines ist, und zum anderen, dass sich auch diese tatsächliche Lösung kaum verallgemeinern ließe, es sei denn um den Preis, den konkreten Einzelfall und somit auch das spezielle Gedankenexperiment für irrelevant zu erachten. Denn die Lehre, die sich für den strengen Kantianer hieraus gewinnen lässt, besteht am Schluss darin, dass es letztlich nicht darum gehen darf, Einzelfälle als solche zu erwägen, sondern darum gehen muss, vielmehr das vernünftige Allgemeine in ihnen aufzusuchen, um vor allem das Sittengesetz ohne falsche Eingeständnisse gegenüber der Kontingenz der Wirklichkeit zu behaupten.

Man kann diese Einstellung für eine Zumutung halten, jedoch schwerlich für moralisch verwerflich. Was man an diesem vermeintlichen Dilemma also lernt, ist, dass man nichts daraus lernt, außer die potentielle Anwendbarkeit des Sittengesetztes auf alle denkbaren Maximen – also im Grunde nichts, das sich nicht auch hier an abertausend anderen Einzelfällen und Gedankenexperimenten zeigen ließe und zeigen lassen müsste. Für diesen deduktiven Ansatz bleibt es entsprechend gleichgültig, ob es sich um proto- oder postfaktische Szenarien handelt – ginge es ihm denn darum.

Warum geht es aber überhaupt in Fragen von ethischen Gedankenexperimenten? Etwa darum mögliche Wirklichkeiten zu antizipieren, um sich im Vorfeld moralisch zu rüsten? Das scheint angesichts unendlich denkbarer Fälle letztlich vergeblich und erweist sich für strenger Kantianer zudem als müßig. Wollen wir anhand von einzelnen Gedankenexperimenten dagegen unsere Begriffe klären? Und haben wir das nicht gerade selbst getan? Angesichts ethischer (Pseudo-)Dilemmata bleibt es zumeist doch bei diffusen Intuitionen, ist man dagegen nicht willens, umgekehrt ein ganzes System vorzulegen bzw. vorauszusetzen, in dessen Rahmen sich die kontingenten Einzelfälle bereits einsortiert finden (und sei es auch als nicht vorherbestimmbare – womit man wieder auf die eigenen Intuitionen zurückfiele). Was taugen sie also abseits oder jenseits all jener wirklichen Entscheidungssituationen?  

Offen gestanden: Ich weiß es nicht. Vielleicht taugen sie als Studienfälle einer (ideologiekritischen) Gesellschaftsanalyse, die deutlich werden lässt, weniger wie gehandelt werden soll, als wie gehandelt werden will – im Rahmen unserer prototypischen, protofaktischen oder auch postfaktischen Annahmen? Geht es dann aber noch um genuin ethische Fragestellungen, die sich allein an diesen Einzelfällen, wenn schon nicht klären, so doch aufweisen ließen? Who knows? Who cares? – Cui bono?


[1] Georg Bertram: Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Reclam 2012, S. 17.

[2] Ebd., 66f.

[3] Ebd., S. 69.

[4] Ebd. 56 f.: „Es [das kontrafaktische Szenario, Anm. FA] ist nämlich prägnant auf die von ihm exemplifizierten begrifflichen Zusammenhänge ausgearbeitet. Es ist aus diesem Grund aufschlussreich, für das erzählerische Element eines philosophischen Gedankenexperiments den Begriff des narrativen Prototyen einzuführen. […] Ein narrativer Prototyp ist ein erzählerischer Zusammenhang, der in seiner Struktur auf bestimmte Begriffe bzw. begriffliche Zusammenhänge verweist. […] Dabei müssen die besagten Begriffe nicht bereits verfügbar sein. Ein narrativer Prototyp kann vielmehr dazu beitragen, dass man bestimmte Begriffe überhaupt erst findet oder begriffliche Zusammenhänge in neuer Weise fasst.“


Florian Arnold studierte Philosophie und Germanistik in Heidelberg und Paris. Nach einer Promotion in Philosophie an der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg und einer zweiten Promotion in Design an der HfG Offenbach lehrt er derzeit an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart als akademischer Mitarbeiter. Nebenbei ist er als Redakteur der „Philosophischen Rundschau“ und als wissenschaftlicher Berater der Graphical Search Engine „DIVERSUS“ tätig. Im Herbst erscheint: „Die Architektur der Lebenswelt. Entwürfe nach der philosophischen Anthropologie Hans Blumenbergs“ bei Vittorio Klostermann.