Alter, Literatur und die Gender-Frage
von Marlene Kuch (Würzburg)
Je älter wir werden, desto mehr verlieren wir, und die Frauen verlieren mehr als die Männer, schreibt (frei übersetzt) die Marquise de Lambert, eine französische Schriftstellerin des 18. Jahrhunderts (Traité de la vieillesse, posthum 1747). Umso schlimmer, dass die Frauen, so die Marquise, von den Philosophen vernachlässigt und allein gelassen werden. Sie selbst sieht sich in der Lage, sich mit ihrem eigenen Denkvermögen zu behelfen, aber wehe den „galanten“ Frauen, die ihr Selbstwertgefühl allein aus der Wirkung ihrer weiblichen Reize schöpfen! Sie wird das Alter besonders hart treffen, denn nichts ziemt sich weniger, als seiner Umgebung „un visage sans grâces“, ein Gesicht ohne Reize, zuzumuten. Wenn man (als alternde Frau) öffentliche Orte nicht mehr „schmücken“ könne, solle man sie meiden. Was bleibt dann noch? Loslassen, wie wir heute sagen würden, Rückzug aus der Gesellschaft, Besinnung auf die inneren, die wahren Werte, Hinwendung zu Gott. Madame de Lambert stützt sich auf die einschlägigen (männlichen) Autoren (Cicero, Seneca, Montaigne, Pascal u.a.), um ihren Geschlechtsgenossinnen philosophischen Trost im Alter zu spenden. Dies ist gut gemeint, aber waren ihre Betrachtungen wirklich tröstlich in einer Welt, in der die meisten Frauen gelernt hatten, wie wichtig körperliche Reize sind?
Das Alter ist „die Hölle der Frauen“, lautet eine Sentenz des französischen Moralisten La Rochefoucauld (1613-1680). Das Bild der alten Frau, das in der älteren, von männlichen Autoren dominierten französischen Literatur entworfen wird, ist in der Tat deprimierend. Alte Frauen erscheinen als Haupt- oder Nebenfiguren in sogenannten niederen Gattungen und sind Gegenstand satirischer, manchmal schlüpfriger, derber oder gar verächtlicher Darstellungen. Es ist vor allem der alternde weibliche Körper, auf den sich die Dichter fokussieren und der sie bisweilen zu grotesken Übertreibungen inspiriert. Da werden zum Beispiel Brüste beschrieben, die so sehr hängen, dass ihre Besitzerin ihren Kopf darauf betten kann. Das ist natürlich keine realistische Darstellung, sondern ein gattungsspezifisches literarisches Spiel, die Verkehrung der literarischen Frauenidealisierung in ihr krasses Gegenteil. Dennoch ist das nicht gerade eine erbauliche Lektüre.
Der welkende weibliche Körper, viel mehr als der männliche, dient in Kunst und Literatur zur Veranschaulichung der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit allen Fleisches. „Das ist der Menschen Schönheit Ende“, lässt der spätmittelalterliche Dichter François Villon seine „schöne Helmschmiedin“ resümieren, nachdem sie den Verlust ihrer Schönheit in allen Einzelheiten beklagt hat. Die Ballade ist berühmt, verewigt nicht zuletzt durch den Bildhauer Auguste Rodin, der noch im späten 19. Jahrhundert eine Bronzeskulptur nach ihr benennt (Celle qui fut la belle heaulmière, 1885; vgl. https://www.metmuseum.org/art/collection/search/191805). Und der mit Rodin befreundete Schriftsteller Octave Mirbeau hatte möglicherweise wiederum diese Skulptur im Auge, oder die alte Frau, die dafür Modell gestanden hat, als er in einer Kurzgeschichte einen Atelierbesucher bei ihrem Anblick in eine tiefe Schwermut versinken lässt, in „jene stechende Schwermut, die einen angesichts des Verfalls der Menschen und des Todes aller Dinge ergreift“.
Die schöne Helmschmiedin betrachtet ihren alternden Körper mit den „feindseligen Augen des männlichen Geschlechts“, schreibt dazu Simone de Beauvoir in Le deuxième sexe. Die Klage der Helmschmiedin wird der Figur von Villon in den Mund gelegt, und in Mirbeaus Text schämt sich die aufgrund einer Zwangssituation nackt posierende alte Frau ihres Körpers, weil der Autor das so will. AlsBetrachterin der Rodin-Skulptur und als Leserin der erwähnten (und vieler ähnlicher) Texte bin auch ich in Gefahr, in Schwermut zu verfallen. Was demoralisiert mich dabei mehr, der Gegenstand der Betrachtung, das Alter und der Verfall, oder der „feindselige“ männliche Blick? Mache ich mir diesen zu eigen, wenn auch ich den alten Körper unattraktiv finde?
Ich sollte an dieser Stelle nicht verschweigen, dass es bereits in der älteren französischen Literatur auch positive Bilder vom weiblichen Alter gibt. Im Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, zum Beispiel bei Marivaux und bei Balzac, wird die Darstellung alternder und alter Frauen dezenter und facettenreicher. Und schon im 17. Jahrhundert besingt der Dichter François Maynard in seiner Ode „La belle Vieille“ („Die schöne Alte“) ein jahrzehntelanges unerfülltes Liebeswerben um eine Frau, die dem ebenfalls gealterten Verehrer auch mit ergrautem Haar unverändert begehrenswert erscheint. Das bleibt jedoch eine Rarität. Als glückliche Liebesgeschichte zwischen alten Menschen fällt mir spontan nur ein Roman aus dem Jahr 1997 ein, geschrieben von einer Frau: „La femme coquelicot“ („Die Klatschmohnfrau“) von Noëlle Châtelet: Die 70jährige Marthe verliebt sich in den 80jährigen Félix, eine vielleicht etwas zu rosige Boy meets Girl-Geschichte. Die alte Frau wird darin vom Objekt zum Subjekt der Betrachtung. Auch Marthe sitzt für Félix, den männlichen Künstler, Modell. Im Gegensatz zu der alten Frau bei Octave Mirbeau ist sie dabei aber vollständig bekleidet, und der Blick richtet sich nicht mehr einseitig vom männlichen Betrachter auf den weiblichen Körper, sondern wandert auch in die umgekehrte Richtung: „Marthe betrachtet Félix, wie er sie betrachtet“. Seinen taktvollen und zärtlichen Blick empfindet sie als „Lust“.
Diese Umkehrung der Blickrichtung zählt auch zu den Vorzügen eines Buches, das ich kürzlich mit großem Vergnügen gelesen habe: „Die Alte“ (2019) von Hannelore Cayre, im französischen Original nicht etwa „La Vieille“, sondern „La Daronne“ (2017), was ein vulgärsprachlicher Ausdruck für „Mutter“ ist. Mit 53 Jahren ist die Titelfigur und Ich-Erzählerin Patience Portefeux noch nicht wirklich alt, aber eben auch nicht mehr jung. Den Beinamen „la Daronne“ erwirbt sie sich in ihrer Rolle als Drogenhändlerin. Das Buch ist vordergründig ein Kriminalroman, dessen Plot sich wie folgt zusammenfassen lässt: Patience Portefeux übersetzt für das Drogendezernat der Polizei unter anderem abgehörte Telefonate aus dem Arabischen. Eines Tages erfährt sie aus direkter Quelle, dass eine riesige Lieferung erstklassigen Haschischs unterwegs nach Frankreich ist. Es gelingt ihr, diese Lieferung beiseite zu schaffen und für viel Geld auf eigene Rechnung zu verkaufen, getarnt mit Hidschab und falscher Chanel-Sonnenbrille, unter den Augen der düpierten professionellen Konkurrenz. Dabei macht sie sich auch ihre Kontakte zur Mutter des marokkanischen Kuriers zunutze, die als Altenpflegerin in dem Heim arbeitet, in dem Patience ihre Mutter untergebracht hat.
Patience Portefeux denkt mehr über ihr Leben als über ihr Alter nach. Das Alter ist – scheinbar – nur ein Nebenaspekt dieser Geschichte, es geht um andere Themen, um die französische (Post)Kolonialgeschichte etwa, und um Kapitalismus- und Gesellschaftskritik: „Es ist der Skrupelloseste, der sich Respekt verschafft“. Mit dieser Erkenntnis wird Patience von einer Verliererin zu einer Gewinnerin des Systems. Diese Mittfünfzigerin blickt mit gnadenlosen Augen auf eine gnadenlose Welt. Aber sie lamentiert nicht, sie handelt. Dabei profitiert sie von den herrschenden Vorurteilen: Wer traut einer Frau wie ihr schon einen solchen Coup zu? Sie hat aufgehört, ihre langen weißen Haare zu färben, weil sie keine Lust mehr hat, ständig den weiß nachwachsenden Ansatz zu kontrollieren. Als sie ihre Haare unter einem Kopftuch verbirgt, tut sie das nicht etwa, um ihr Alter zu kaschieren, sondern weil diese weiße Mähne ein allzu augenfälliges Erkennungsmerkmal bei ihren Drogengeschäften wäre. Sie hat schwierige Zeiten hinter sich. Bereits nach wenigen Jahren Ehe starb ihr Mann und ließ sie mittellos mit zwei Töchtern zurück. Letztere sind inzwischen erwachsen, aber jetzt muss sie sich um ihre alte, schwerstpflegebedürftige Mutter kümmern. In ihrem Job als Übersetzerin für die Polizei ist sie prekär beschäftigt, ohne Sozial- und Altersversicherung. Die horrenden Kosten des Pflegeheims bringen sie an den Rand ihrer finanziellen Möglichkeiten.
Spätestens an dieser Stelle ist das Alter eben doch ein bestimmendes Thema des Romans, und zwar auf einer sehr handfesten, sozial-realistischen Ebene, jenseits aller kosmetischen Probleme. Die letzte Etappe des Lebens ist nicht nur niederschmetternd traurig, so erlebt es die Heldin jedenfalls am Beispiel ihrer Mutter, Altwerden ist auch kostspielig, und Patience muss sich fragen, was ohne soziale und finanzielle Absicherung aus ihr selbst einmal werden soll. Sie erkennt und ergreift ihre Chance zur Selbsthilfe und kann damit ihre Aussichten ganz erheblich verbessern. Und die Autorin lässt sie damit durchkommen. So funktioniert das natürlich nur in Büchern. Dennoch ist es erfrischend und erhebend, das zu lesen. Endlich eine ältere Frau als Identifikationsfigur! (Zum Glück gibt es inzwischen mehr solche Figuren.) Das Buch ist ein Beispiel dafür, dass sich das Bild der alternden und alten Frau in der Literatur ändert (um es neutral zu formulieren), je mehr schreibende Frauen es gibt.
Das Alter ist kein Problem, das man lösen kann. Man muss damit umgehen, nicht nur, aber nicht zuletzt auf individueller Ebene, jeder und jede für sich ganz persönlich. Lesen kann dabei helfen. Es kommt aber darauf an, welche Bücher bzw. Texte ich auswähle, manche deprimieren oder empören mich, aber ich finde zunehmend solche, die mir Mut machen. Und besser noch: Je nach Wahl meiner Lektüre kann ich mich in die Erfahrungswelt einer 80jährigen Frau versetzen, aber auch in die eines 14jährigen Jungen, ich kann beim Lesen Frau oder Mann sein (und alles dazwischen), jung, alt oder alterslos, ich kann in die Vergangenheit oder in die Zukunft schauen. Das verschafft mir ein Stück innere Freiheit, die – wenngleich mit anderer Zielrichtung – auch unsere eingangs erwähnte Selfmade-Philosophin aus dem 18. Jahrhundert, Madame de Lambert, als hohes Gut und großen Vorteil des Alters betrachtet. Ein besserer Trost fällt momentan nicht ein.
Marlene Kuch, Romanistin und Übersetzerin, inzwischen Verwaltungsangestellte der Universität Würzburg, zuständig für eine Institutsbibliothek. Promoviert mit einer Dissertation mit dem Thema „L’enfer des femmes. Zum Bild der alternden Frau in der französischen Literatur“, Frankfurt/Main 1998.