16 Nov

Das Alter bekämpfen oder akzeptieren? Eine philosophische Perspektive auf das gute Leben im Alter

Von Nadine Mooren (Münster)


Der Schriftsteller Jean Améry hat den Umgang mit dem Alter einmal auf die folgende Alternative gebracht: Wir könnten dagegen revoltieren oder resignieren. Für Améry ist die Revolte gegen das Alter der einzig sinnvolle Weg. Im Fundus der Philosophiegeschichte lassen sich jedoch auch Philosoph*innen entdecken, die dafür argumentiert haben, dass ein gutes Leben im Alter vor allem mit Gelassenheit und Akzeptanz zu tun hat.

Unser gegenwärtiger Alltag steht eher im Zeichen der Revolte gegen den biologischen Alterungsprozess. Fast täglich stoßen wir auf Produkte und mediale Aufbereitungen, die dafür werben, den Prozess des Alterns nicht vorschnell zu akzeptieren. Moderne Konsument*innen blicken auf eine breite Produktpalette, auf Nahrungsergänzungsmittel, Ratgeber zur Optimierung ihres Lebensstils, Angebote der ästhetischen Chirurgie und digitale Fitnessapps für ältere Menschen. Im Einklang mit solchen Angeboten steht der Wunsch vieler Menschen, so lange wie möglich, jung und gesund zu bleiben. Wir führen, so scheint es, genau dann ein gutes Leben, wenn es uns gelingt, dem Alter ein Schnippchen zu schlagen. Aber nicht ein für alle Mal. Denn auch, wenn manche das glauben, ist die Überwindung der biologischen Alterung bisher nur eine transhumane Utopie. Trotzdem lässt sich das Aufbegehren gegen das Alter vielleicht als eine Daueraufgabe verstehen, die darin bestünde, sich die Folgen des Alterns möglichst lange vom Leib zu halten. Doch inwiefern lohnt es sich, den Kampf gegen das Altern aufzunehmen und Tag für Tag dagegen anzutrainieren? Spricht nicht auch einiges für ein gelassenes Akzeptieren des Alter(n)s? In diesem Beitrag sollen diese beiden Vorschläge etwas genauer betrachtet werden.

Für Jean Améry kommt, wie erwähnt, nur ein Ankämpfen gegen das Alter in Frage. Für ihn ist das Alter vor allem eine Phase des Verlusts. Mal früher, mal später gehe es einher mit dem Schwinden physischer Kraft, mit Einbußen an Gesundheit, Vitalität und Lebenszeit. Beim Blick in den Spiegel werden Spuren des Alters sichtbar, die „das gewohnte Ich in Frage stellen können“[1]. Die Erfahrung des Alters endet jedoch nicht mit dem privaten Blick in den Spiegel. Améry spricht vom „Blick der anderen“, der die Lebenssituation älterer Menschen nicht unwesentlich prägt.[2] In den Augen der anderen seien ältere Menschen vor allem „unfähig erheblicher physischer Leistung, ungeschickt, untauglich zu diesem und jenem, unbelehrbar, unersprießlich, unerwünscht, ungesund, un-jung“[3]. Dazu komme, dass Ältere zunehmend auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Ein selbstbestimmtes Leben ist im Alter nicht mehr so leicht zu haben, wie in früheren Lebensphasen.[4] Wer, wie Améry, davon ausgeht, dass ein gutes oder würdevolles Leben eng mit dem Wert der Autonomie (vielleicht sogar der Autarkie) zusammenhängt, wird das Alter daher eher mit Sorge und Unbehagen herannahen sehen.

Niemand will im Alter Autonomie und Würde verlieren. Das gilt nicht erst heute, sondern auch schon lange vor unserer Zeit. Auch Schopenhauer und Cicero wollten möglichst lange als streitbare Intellektuelle gelten und in der Lage sein, ein selbständiges Leben zu führen. Trotzdem ist die Frage berechtigt, ob wir den Prozess des Alterns ausschließlich als einen natürlichen Widersacher betrachten sollten, den es auszuschalten gilt. Ein Einwand, den man gegen Amérys Überlegungen vorbringen kann, stammt von dem US-amerikanischen Philosophen Steven Luper. Luper hat auf einen einfachen Umstand hingewiesen, den wir im Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens oft vergessen. Häufig übersehen wir, dass die Wahl einer bestimmten Strategie selbst Kosten produziert.[5] So kann zum Beispiel die tägliche Kontrolle der eigenen Ernährung in Stress ausarten. Sowohl für einen selbst als auch für andere. Regelmäßige Behandlungen im Kosmetikinstitut muss man sich leisten können. Und der regelmäßige Gang ins Fitnessstudio mag zwar grundsätzlich eine gute Idee sein. Er kostet aber auch Zeit, die einem dann für andere, möglicherweise wichtigere Dinge fehlt. Plädoyers für eine Revolte gegen das Alter überzeugen daher nur solange, als der Nutzen der Revolte die dabei entstehenden Kosten aufwiegt. Das bedeutet nicht, dass es sich niemals lohnt, etwa mit sportlicher Disziplin gegen Verschleißerscheinungen anzugehen. Es heißt aber, dass es Zeiten im Leben eines Menschen geben kann, in denen es vernünftiger ist, sich mit einem Verlust abzufinden, statt ihn zu bekämpfen.

Es wundert daher nicht, dass es Autor*innen gibt, die von vornherein eine andere Strategie vorgeschlagen haben. Die antiken Stoiker hätten über unseren heutigen Kampf gegen das Alter vermutlich nur milde gelächelt. Für sie ist der Prozess des Alterns zuallererst ein natürlicher Vorgang, der bei Lebewesen, wie wir es sind, nicht weiter überrascht. Anstatt uns an diesem unvermeidlichen Vorgang abzukämpfen, sollen wir daher lernen, das Altern und die Verluste, die damit einhergehen, zu akzeptieren. Stoische Philosophen wie Seneca oder Epiktet haben diese Sichtweise mithilfe einer philosophischen Unterscheidung begründet. Nicht alle Verluste, die wir als Menschen erleiden, verdienen es ihres Erachtens, bedauert und beklagt zu werden. Zu unterscheiden sei vielmehr zwischen solchen, die dies tun und solchen, die dies nicht tun. Die Dinge des Lebens lassen sich in zwei Kategorien einteilen. So gibt es Dinge, die im Bereich unserer Macht und Kontrolle liegen. Aber auch Begebenheiten, die wir nicht kontrollieren können.[6] Frei seien wir in unseren Gedanken und Urteilen. Und in der Entscheidung, ob wir moralisch gut oder schlecht handeln wollen. Doch schon im Bereich des Handelns gibt es Grenzen des Kontrollierbaren: Erfolge, die ausbleiben, überraschende Erkrankungen, die unsere Pläne stören und körperliche Prozesse, wie den Prozess des Alterns, die sich größtenteils ohne unser Zutun ereignen.

Menschliches Handeln ist begrenzt. Das liegt in der Natur menschlicher, also endlicher Wesen. Nicht erst im höheren Alter tun wir daher gut daran, persönliche Grenzen zu akzeptieren. Die körperliche Leistungsfähigkeit von 20-jährigen ist eine andere als die von 85-jährigen. Die eigenen Erwartungen an veränderte körperliche Voraussetzungen anzupassen zeugt von einer gewissen Flexibilität, die uns von überzogenen Erwartungen befreit und uns unnötigen Frust und Enttäuschungen erspart. Das ist die bewahrenswerte Lektion der Stoiker. Doch heißt das, dass wir uns ein Beispiel am stoischen Weisen nehmen sollten? Ich glaube nein. Denn die Stoiker meinten mit der Einübung von Akzeptanz und Gelassenheit weit mehr als eine einigermaßen flexible Lebensführung, die auf wechselnde Anforderungen des Lebens zu reagieren versteht. Der stoische Weise lässt sich von den Widrigkeiten des Lebens nicht erschüttern. Ganz egal, ob es dabei um den Verlust eines Freundes geht, mit dem man den Großteil seines Lebens verbracht hat oder um die Aufgabe lange gehegter sportlicher Aktivitäten, die altersbedingt nicht mehr aufrechterhalten werden können. Klagen und Bedauern gehören nicht ins Repertoire der stoischen Lebenseinstellung.

Man kann zurecht fragen, ob der stoische Rat als unmittelbare Antwort auf persönliche Verluste im Alter wirklich weiterhilft. Gebrechlichkeit, altersbedingte Immobilität und der Tod von Freunden sind schmerzliche Verluste. Und sie bleiben Verluste, solange wir ein gutes Leben als ein Leben verstehen, in dem persönliche Beziehungen und Projekte von zentraler Bedeutung sind. Es scheint daher, dass zum Alter sowohl die Akzeptanz als auch das Bedauern von Verlusten gehört. Das muss kein Widerspruch sein. Das Alter ist in der Regel nicht die erste Phase im Leben eines Menschen, in der die Neujustierung der eigenen Erwartungen der Lebensführung insgesamt zuträglich ist. Anders als die Stoiker meinten, bedeutet das aber nicht, dass es gar nichts gibt, wofür es sich im Alter zu kämpfen lohnt.


Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der in der letzten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie erschienen ist. Der Aufsatz kann kostenlos heruntergeladen werden.


Nadine Mooren ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Philosophie an der Universität Münster. Sie forscht im Bereich der Ethik, der philosophischen Anthropologie und zur Philosophie des Deutschen Idealismus. Ihr Buch „Leben im Alter. Eine philosophische Untersuchung zur Frage nach dem guten Leben“ ist 2023 erschienen.


[1] Jean Améry. Über das Altern. Revolte und Resignation. Stuttgart 1977 (1968). S. 40.

[2] Ebd. S. 63.

[3] Ebd. S. 77.

[4] Vgl. ebd. S. 76.

[5] Vgl. Steven Luper. “Adaptation”. In: The Metaphysics and Ethics of Death. New Essays. Hg. v. James Stacey Taylor. Oxford 2013. S. 100–117. Hier S. 101.

[6] Vgl. etwa Pierre Hadot. Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. Frankfurt am Main 2011. S. 18.

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