Was bleibt vom späten Rawls?

Von Fabian Wendt (Chapel Hill)


In den 1980er Jahren beginnt John Rawls, die Idee einer „freistehenden“, rein politischen Gerechtigkeitskonzeption zu entwickeln, einer Gerechtigkeitskonzeption, die sich aus allen umstrittenen moralischen, religiösen und sonstigen weltanschaulichen Fragen heraushält. Eine solche Konzeption, so Rawls, könnte sich wie ein Modul in die unterschiedlichsten sogenannten „umfassenden Lehren“ einfügen, die in einer liberalen Gesellschaft nebeneinanderher bestehen, und somit eine geeinte und stabile pluralistische Gesellschaft ermöglichen.

Die Gerechtigkeitskonzeption namens „Justice as Fairness“, die der frühe Rawls in A Theory of Justice (1971) entwickelt hatte, soll, so der späte Rawls, als eine solche freistehende, politische Gerechtigkeitskonzeption verstanden werden. Er betont allerdings – und dies wird oft übersehen –, dass es neben „Justice as Fairness“ auch andere politische Gerechtigkeitskonzeptionen gibt, und dass es weder das theoretische noch praktische Ziel der politischen Philosophie sein kann, die Konkurrenz verschiedener politischer Gerechtigkeitskonzeptionen zu beenden.[1] Was nach Rawls alle politischen Gerechtigkeitskonzeptionen gemeinsam haben, ist, dass sie in der einen oder anderen Weise die Idee der Gesellschaft als ein System fairer Kooperation zwischen Freien und Gleichen ausbuchstabieren.

Rawls schlägt jedoch ein inhaltliches Prinzip vor, das jenseits der Konkurrenz politischer Gerechtigkeitskonzeptionen fixiert werden soll. Dies ist das sogenannte „Liberal Principle of Legitimacy“, im Folgenden LPL genannt. Vereinfacht gesagt besagt das LPL, dass die Grundstruktur der Gesellschaft „öffentlich rechtfertigbar“ sein muss.[2] Das Ziel öffentlicher Rechtfertigung ist nicht Wahrheit oder Korrektheit – dafür müssten alle relevanten moralischen und empirischen Fakten zur Kenntnis genommen werden, auch wenn sie zwischen „umfassenden Lehren“ umstritten sind. Ziel ist vielmehr die Rechtfertigbarkeit relativ zu den unterschiedlichen Überzeugungssystemen der Bürgerinnen und Bürger. Um öffentlich rechtfertigbar zu sein, muss die Grundstruktur zwar nicht einer bestimmten politischen Gerechtigkeitskonzeption entsprechen, aber kontroverse moralische, religiöse und weltanschauliche Fragen müssen für ihre öffentliche Rechtfertigbarkeit ebenso ausgeschlossen werden wie bei der Ausarbeitung einer politischen Gerechtigkeitskonzeption.

Das LPL ist in der einen oder anderen Variante und unter verschiedenen Namen der Markenkern des „Public Reason“-Liberalismus geworden. Ausgehend von den Arbeiten von Rawls, Charles Larmore, Jerry Gaus und anderen ist dieser zu einer der einflussreichsten Strömungen in der politischen Philosophie geworden, auch wenn sein Stern momentan möglicherweise wieder etwas im Sinken begriffen ist.

Bei Rawls fügen sich das Projekt einer freistehenden Gerechtigkeitskonzeption und das LPL recht natürlich zusammen. Wenn Gerechtigkeit unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Pluralismus freistehend, ohne Bezug auf umstrittene religiöse und moralische Fragen theoretisiert werden soll, es aber verschiedene plausible freistehende Gerechtigkeitstheorien gibt, dann ist die weitgehendste normative Forderung, die man erheben kann, dass die Grundstruktur der Gesellschaft öffentlich rechtfertigbar sein muss.

Umgekehrt scheint es naheliegend, dass Gegner des „Public Reason“-Liberalismus sowohl das Projekt einer freistehenden Gerechtigkeitskonzeption als auch das LPL ablehnen werden. Sie werden über Gerechtigkeit nach bestem Wissen und Gewissen im Lichte aller relevanten moralischen und empirischen Fakten nachdenken wollen, und sie werden entsprechend auch nicht sagen wollen, dass eine legitime gesellschaftliche Grundstruktur öffentlich rechtfertigbar sein muss. Warum denjenigen ein Veto geben, die ihre Augen vor relevanten moralischen und empirischen Fakten verschließen?

In der hier gebotenen Kürze möchte ich dagegen skizzieren, warum mir eine hybride Position nicht nur möglich, sondern auch plausibel erscheint.[3] Man kann mit den Gegnern von Rawls über Gerechtigkeit nach bestem Wissen und Gewissen im Lichte aller relevanten moralischen und empirischen Fakten nachdenken wollen, aber mit Rawls ein Prinzip öffentlicher Rechtfertigung akzeptieren. Man wird letzteres dann allerdings nicht zu einer notwendigen Bedingung für die Legitimität der gesellschaftlichen Grundstruktur machen wollen, sondern öffentliche Rechtfertigbarkeit schlicht als eine wichtige Dimension zur moralischen Evaluation der Grundstruktur neben Gerechtigkeit und anderen Werten begreifen. 

Um diese hybride Position zu motivieren, hilft es, sich zu fragen, warum man nach Rawls eigentlich das LPL akzeptieren sollte. Es gibt bei Rawls selbst und bei „Public Reason“-Liberalen allgemein verschiedene Antworten auf diese Frage, aber am prominentesten bei Rawls ist der Hinweis auf Stabilität. Wegen der von Rawls so genannten „Bürden der Vernunft“ ist Uneinigkeit in moralischen, religiösen und sonstigen weltanschaulichen Fragen in einer liberalen Gesellschaft nicht zu beklagen, sondern als Hintergrundannahme schlicht zu akzeptieren und zu respektieren. Unter diesen Bedingungen, so die Idee, wird ein übergreifender Konsens zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen über das LPL für Stabilität sorgen.

Eine interpretatorische Anmerkung: Rawls sagt zwar in Political Liberalism wiederholt, dass der übergreifende Konsens eine politische Gerechtigkeitskonzeption betreffen soll, aber dies widerspricht seiner späteren Klarstellung, dass stets eine Pluralität politischer Gerechtigkeitskonzeptionen zu erwarten ist. Gegenstand des übergreifenden Konsenses kann somit keine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption sein, sondern nur das Legitimitätsprinzip LPL.

Stabilität in einer pluralistischen Gesellschaft kann zwar nach Rawls auch durch einen „Modus Vivendi“ – ein strategisch akzeptiertes Gleichgewicht der Kräfte – erreicht werden, aber dies wäre keine Stabilität „aus den richtigen Gründen“. Stabilität aus den richtigen Gründen ist nach Rawls erst erreicht, wenn alle die gesellschaftliche Grundordnung als legitim akzeptieren. Warum sind dies die „richtigen“ Gründe? Rawls suggeriert zum einen, dass ein Modus Vivendi schlicht weniger stabil ist, weil ein Modus Vivendi stets in Frage gestellt wird, wenn die Machtverhältnisse sich ändern. Zum anderen konstituiert ein übergreifender Konsens auch eine Art Gemeinschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, was wohl ebenfalls stabilitätssteigernd sein soll, aber auch als ein zusätzliches Argument – jenseits von Stabilitätserwägungen – für das LPL begriffen werden kann.

Was ist von Rawls` Stabilitäts-Argument zu halten? Es ist sicherlich plausibel, dass ein übergreifender Konsens darüber, dass die Grundstruktur der Gesellschaft legitim ist, stabilisierend wirkt. Es ist ebenfalls plausibel, dass die öffentliche Rechtfertigbarkeit der gesellschaftlichen Grundstruktur es wahrscheinlicher macht, dass sie als legitim akzeptiert wird. Es ist deswegen auch schwer zu bestreiten, dass die öffentliche Rechtfertigbarkeit der gesellschaftlichen Grundstruktur (oder auch einzelner Institutionen und Gesetze) etwas Wertvolles ist.

Andererseits scheinen solche Stabilitätsüberlegungen nicht zwingend genug, um die öffentliche Rechtfertigbarkeit der gesellschaftlichen Grundstruktur (oder einzelner Institutionen und Gesetze) zu einer notwendigen Bedingung für ihre Legitimität zu machen. Stabilität ist sicherlich nicht das Einzige, was in einer Gesellschaft wichtig ist. Wenn ein Gesetz zwar nicht öffentlich rechtfertigbar, aber im Lichte aller relevanten moralischen und empirischen Fakten moralisch geboten erscheint, dann fungiert öffentliche Rechtfertigbarkeit nicht notwendigerweise als Trumpf, nur weil sie stabilisierend wirkt. Es scheint schlicht übertrieben, aus Stabilitätserwägungen heraus jeder gesellschaftlichen Gruppe eine Art Veto zu geben.

Rawlsianer mögen entgegnen, dass natürlich nur „vernünftige“ Gruppen für eine öffentliche Rechtfertigung relevant sind, aber diese Entgegnung bringt ihre eigenen Probleme mit sich. Zum einen ist nicht klar, warum öffentliche Rechtfertigbarkeit dann besonders stabilisierend sein soll, schließlich dürften es doch vor allem die Aktivitäten von „Unvernünftigen“ sein, die destabilisierend wirken. Zum anderen dürfte es auch innerhalb der Vernünftigen noch hinreichend gravierende Meinungsverschiedenheiten geben, so dass manchmal das, was öffentlich rechtfertigbar, nicht dasselbe ist wie das, was im Lichte aller moralischen und empirischen Fakten rechtfertigbar erscheint.

Dazu kommt, dass die stabilisierende Wirkung öffentlicher Rechtfertigbarkeit nicht überschätzt werden sollte. Es gibt es zu viele andere Faktoren – eine florierende Wirtschaft, eine Kultur der Toleranz, gesunde politische Institutionen – die zur Stabilität einer Gesellschaft beitragen, auch wenn nicht alles gegenüber allen rechtfertigbar ist.

Stabilitätserwägungen sprechen somit zwar für ein Prinzip öffentlicher Rechtfertigung, aber nicht für ein Prinzip öffentlicher Rechtfertigung als striktes Legitimitätsprinzip. Obwohl ich dies hier nicht zeigen kann, gilt Selbiges auch für Argumente, die eine Verbindung zwischen öffentlicher Rechtfertigbarkeit auf der einen Seite und Gemeinschaftsbindungen oder Respekt vor Personen auf der anderen Seite herstellen. Auch sie mögen die Bedeutung öffentlicher Rechtfertigbarkeit aufzeigen, aber sie werden nicht motivieren können, öffentliche Rechtfertigbarkeit zu einem strikten Legitimitätsprinzip zu machen und somit das, was im Lichte der moralischen und empirischen Fakten als rechtfertigbar erscheint, für irrelevant zu erklären.

Manche werden vielleicht denken, dass in Wirklichkeit ein skeptisches Argument sowohl das LPL als Legitimitätsprinzip als auch das Projekt einer freistehenden Gerechtigkeitstheorie motiviert. Wir haben schlicht keinen Zugriff auf „moralische Fakten“; deswegen kann man Gerechtigkeit nicht unter Bezugnahme auf moralische Fakten konzeptualisieren, und deswegen kann öffentliche Rechtfertigbarkeit auch nicht gegen das, was im Lichte vermeintlicher moralischer Fakten rechtfertigbar erscheint, abgewogen werden. Es ist dann allerdings schwer zu erklären, wieso dieser Skeptizismus nicht auch das LPL betreffen soll. Wenn wir nicht wissen können, was moralisch richtig und falsch ist, wie können wir dann wissen, dass die Grundstruktur der Gesellschaft öffentlich rechtfertigbar sein muss, um legitim zu sein?

Es ist übrigens ein Missverständnis, dass der Versuch, herauszufinden, was im Lichte der relevanten moralischen und empirischen Fakten rechtfertigbar ist, paternalistisch oder anderweitig autoritär enden muss. Wie man mit Uneinigkeit und Pluralismus umzugehen hat, ist selbst eine moralische Frage, über die man nicht „freistehend“ nachdenken muss, um zu liberalen Schlussfolgerungen zu gelangen.

Zusammenfassend: Eine der wirkmächtigsten Ideen des späten Rawls ist die Idee öffentlicher Rechtfertigung. Ich habe zu zeigen versucht, dass Rawls` Stabilitätsargument zwar die Relevanz öffentlicher Rechtfertigbarkeit beweist, dass man dies jedoch anerkennen kann, ohne öffentliche Rechtfertigbarkeit zu einem Legitimitätsprinzip zu machen, und ohne sich Rawls` Projekt einer politischen Gerechtigkeitskonzeption zu eigen zu machen. Die Idee öffentlicher Rechtfertigung kann in einen „umfassenden Liberalismus“ integriert werden.


Fabian Wendt ist Assistant Professor am Department of Philosophy und im PPE Program der University of North Carolina at Chapel Hill, ab August 2021 ist er Assistant Professor am Kellogg Center for Philosophy, Politics, and Economics und Department of Political Science der Virginia Tech.


[1]      „Political liberalism, then, does not try to fix public reason once and for all in the form of one favored political conception of justice. That would not be a sensible approach. For instance, political liberalism […] admits Habermas’s discourse conception of legitimacy […] as well as Catholic views of the common good and solidarity when they are expressed in terms of political values.“ (John Rawls, „The Idea of Public Reason Revisited”, The University of Chicago Law Review 64, 1997, S. 774-5). Siehe auch John Rawls, Political Liberalism, New York 1996: Columbia University Press, S. xlviii, xlix, 223, 226, „The Idea of Public Reason Revisited”, a.a.O., S. 770, 774.

[2]      Siehe Rawls, Political Liberalism, a.a.O., S. 224. Für die „offizielle“ Formulierung vgl. ebd. S. 137-138, „The Idea of Public Reason Revisited”, a.a.O., S. 767.

[3]      Vgl. auch Fabian Wendt, Compromise, Peace and Public Justification: Political Morality beyond Justice, London 2016: Routledge, Kap. 10-13, sowie Fabian Wendt, „Rescuing Public Justification from Public Reason Liberalism”, Oxford Studies in Political Philosophy 5.