Rawls und die Religion

Von Martin Breul (Erfurt)


Es hat nicht viel gefehlt, und Rawls wäre nicht der bedeutendste Vertreter der Politischen Philosophie im 20. Jahrhundert, sondern Theologe und Pfarrer geworden: Vor seinem Studium und während seines Dienstes im US-Militär im 2. Weltkrieg spielte Rawls – als gläubiger episkopaler Christ – mit dem Gedanken, Priester zu werden; und selbst als er diese Idee aufgrund seiner im Krieg in Frage gestellten Religiosität wieder aufgab, blieb er interessiert an theologischen Fragestellungen. Seine Abschlussarbeit am Philosophy Department der Universität Princeton trug den Titel „Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube“. Auch wenn Rawls keine Karriere in der Theologie verfolgte, ist die Stellung der Religion in der politischen Öffentlichkeit eines liberalen Verfassungsstaats ein Dauerthema seiner späteren Werke. Welches Verhältnis hat Rawls also zur Religion? Welchen Stellenwert hat die Religion in seiner Version des Politischen Liberalismus? Und war Rawls am Ende gar ein religiöser Denker?

Rawls wendet sich der Frage nach der Rolle der Religion im liberalen Verfassungsstaat insbesondere in seinem späten Werk ‚Politischer Liberalismus‘ zu. Während es ihm in der ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ um die Frage ging, wie eine plausible liberale Theorie der Gerechtigkeit beschaffen sein könnte und er seine ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ noch nicht trennscharf von einer ‚Theorie des Guten‘ abgrenzte, sah er später, dass gerade diese Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Guten in einem liberalen Staat zentral ist. Die Kernfrage in seinem zweiten Hauptwerk, dem ‚Politischen Liberalismus‘, ist daher, wie man das ‚Stabilitätsproblem‘ liberaler Gesellschaften lösen kann: Wie ist die friedliche Koexistenz von gesellschaftlichen Gruppen möglich, die stark divergierende religiöse und weltanschauliche Auffassungen haben? Im Rawls’schen O-Ton:

„Wie kann eine gerechte und stabile Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern dauerhaft bestehen, wenn diese durch ihre vernünftigen, religiösen, philosophischen und moralischen Lehren einschneidend voneinander geschieden sind?“[1]

Als Vorschlag zur Lösung des Stabilitätsproblems führt Rawls zwei Instrumente ein, die zentral für die Theoriearchitektonik seines ‚Politischen Liberalismus‘ sind: Das Konzept des überlappenden Konsenses und das Ideal der öffentlichen Vernunft. Das Konzept des überlappenden Konsenses geht davon aus, dass verschiedene religiöse oder nicht-religiöse weltanschauliche Gruppierungen zwar nicht in der Begründung einer politischen Gerechtigkeitskonzeption, wohl aber im Ergebnis konvergieren können: Es handelt sich um einen Konsens, weil sich alle Parteien auf das Endresultat einigen können, und er ist kein vollständiger, sondern lediglich ein überlappender Konsens, weil die verschiedenen partikularen Begründungen für eine Norm sehr unterschiedlich sein können. In der Rechtspraxis wurde dieses Ideal – lange vor seiner Formulierung bei Rawls – vom katholischen Philosophen Jacques Maritain exemplifiziert, der bei der Abfassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mitwirkte und nach ihrer Verkündigung am 10. Dezember 1948 lakonisch festhielt: „Yes, we agree on the rights, but on condition that no one asks us why.“

Zugleich scheint das Konzept des ‚überlappenden Konsenses‘ noch längst nicht alle Probleme zu lösen. Zum einen scheint es auf den seltenen Fall zu setzen, dass sich alle gesellschaftlich relevanten Aktoren wirklich zu einem überlappenden Konsens durchringen können. Und selbst wenn dieses Ziel erreicht wird, stehen zum anderen die erreichten Ergebnisse begründungstheoretisch auf tönernen Füßen, da sie abhängig sind von der stets reversiblen Zustimmung aller partikularen weltanschaulichen und religiösen Gemeinschaften eines Gemeinwesens. Daher begrenzt Rawls das Konzept des übergreifenden Konsenses auch auf die grundlegende Zustimmung zu einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit. Konkrete Debatten zu politischen Normen, die über eine allgemeine politische Gerechtigkeitskonzeption hinausgehen – also eigentlich alle öffentlichen Debatten zu konkreten politischen Fragen – sollen unter Rückgriff auf das zweite zentrale Instrument des ‚Politischen Liberalismus‘ geführt werden: das Ideal der öffentlichen Vernunft.

Das Ideal der öffentlichen Vernunft ist die zentrale Ausführungsbestimmung der vielbeschworenen ‚weltanschaulichen Neutralität‘ des liberalen Verfassungsstaates. Es besagt, dass eine Norm, die für alle gleichermaßen verbindlich sein soll, auch mit solchen Gründen gerechtfertigt werden muss, die für alle Betroffenen gleichermaßen einsehbar und akzeptabel sind. Politische Normen können also genau dann Legitimität beanspruchen, wenn allen Betroffenen eine rationale Zustimmung zur Recht­fertigung dieser Norm möglich ist. In Rawls‘ Worten:

„[U]nsere Ausübung politischer Macht (ist) nur dann völlig angemessen, wenn sie sich in Übereinstimmung mit einer Verfassung vollzieht, deren wesentliche Inhalte vernünftigerweise erwarten lassen, dass alle Bürger ihnen als freie und gleiche im Lichte von Grundsätzen und Idealen zustimmen, die von ihrer gemeinsamen menschlichen Vernunft anerkannt werden.[2]

Wenn man also eine bestimmte, allgemeinverbindliche politische Norm diskutiert, dann lautet Rawls‘ Appell an alle Diskursteilnehmer, nur solche Begründungsformen in Anspruch zu nehmen, die unabhängig von den religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Betroffenen geteilt werden könnten. Auch wenn sich im Binnendiskurs von religiösen Gemeinschaften den einzelnen Mitgliedern viel weitreichendere Vorschriften machen lassen (solange die Mitglieder, Rawls zufolge, stetig die Freiheit haben, die Religionsgemeinschaft aus freien Stücken wieder zu verlassen), kann für die Rechtfertigung allgemeinverbindlicher Normen nur das überzeugen, was den Binnendiskurs einzelner Religionsgemeinschaften übersteigt bzw. unabhängig von umfassenden metaphysischen oder religiösen Auffassungen ist. Wer also bei der Verhandlung kollektiv verbindlicher Normen religiös argumentiert, verletze damit moralische Pflichten, die durch die Erfordernisse der öffentlichen Vernunft begründet werden – demokratische Legitimität schließe es vielmehr aus, religiöse Begründungen im öffentlichen Diskurs anzuführen.

Rawls‘ Bemerkungen zur Religion haben zu einer großen Debatte geführt, inwiefern Religion im liberalen Staat eigentlich zwingend eine Privatsache sein muss und inwiefern Rawls mit seiner Beschränkungsforderung religiösen Gemeinschaften eigentlich gerecht wird. Im christlichen Kontext ist es beispielsweise selbstverständlich, dass die eigene Religion auch eine politische und öffentliche Angelegenheit ist – eine Religion, die lediglich als bürgerliche Religion im eigenen Wohnzimmer von Relevanz ist und keinerlei politische oder öffentliche Dimension für sich beansprucht, ist schlicht nicht kompatibel mit der Grundbotschaft des Christentums. Der Zuspruch der unbedingten Liebe Gottes ist für Christ*innen immer auch als (politischer) Anspruch formuliert, diese Liebe innerweltlich zu realisieren und Strukturen der Ungerechtigkeit, der Diskriminierung und des Hasses zu bekämpfen. Zudem ist es moralisch problematisch, an alle religiösen Bürgerinnen und Bürger eines Staates die Pflicht zu adressieren, ihre Religion als Privatsache zu betrachten – dies würde sie letztlich in eine ethisch fragwürdige und de facto wohl gar nicht durchführbare Spaltung ihrer Identität in einen privaten religiösen und einen öffentlichen säkularen Teil zwingen.

Weiterhin geht auch aus der Perspektive der säkularen Philosophie vielleicht zu viel verloren, wenn es ein moralisches Gebot sein soll, die eigene Religion im politischen Diskurs zu beschränken. Dies ist der tiefere Grund dafür, dass beispielsweise Jürgen Habermas – der das Rawls’sche Ideal der öffentlichen Vernunft im Kern ja teilt – sich nachhaltig den ‚semantischen Potenzialen‘ öffentlich präsenter Religionsgemeinschaften geöffnet hat. Ein ernüchterter öffentlicher Diskurs, der sich bereits im Vorhinein aller religiösen Wortmeldungen entledigt, indem er jegliche religiöse Wortmeldung als inkompatibel mit den moralischen Anforderungen an Staatsbürger*innen brandmarkt, verspielt zentralen Input für die öffentlichen Selbstvergewisserungsdiskurse einer pluralen Gesellschaft. Das heißt nicht, dass religiöse Begründungen nun doch bruchlos zur Rechtfertigung allgemeinverbindlicher Normen herangezogen werden können, aber es heißt, dass sie öffentlich gehört und dann in eine allgemein zugängliche Sprache übersetzt werden sollten.

Um den Gedankengang zusammenzufassen: Ein bleibendes Verdienst der Rawls’schen Philosophie besteht darin, eine tiefsitzende Intuition des liberalen Verfassungsstaats auf den Begriff gebracht zu haben: Politische Normen sind nur dann legitim, wenn sie so gerechtfertigt werden können, dass sie von allen Betroffenen – unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Zugehörigkeit – als sinnvolle Normen anerkannt werden können. Diese Einsicht verbietet es Glaubensgemeinschaften, ihre Normvorstellungen allgemein verbindlich machen zu wollen und sie auch denen vorschreiben zu wollen, die gar nicht Teil der eigenen Glaubensgemeinschaft sind. Diese Einsicht beinhaltet aber gerade nicht eine über die Forderung nach Rechtfertigungsneutralität weit hinausgehende Privatisierungsforderung. Wahrscheinlich wäre ein wechselseitiger Lernprozess angezeigt: Die Politische Philosophie sollte die Potenziale, die eine politisch aktive und öffentliche Religion für den liberalen Staat birgt, begrüßen und nicht lediglich argwöhnisch beäugen. Und eine Neue Politische Theologie sollte ihre Rolle als ein Akteur in einem pluralistischen Kontext stärker berücksichtigen und sich insbesondere der Rawls’schen Philosophie öffnen, um den politischen Status religiöser Überzeugungen zu reflektieren.[3]

Was aber ist nun abschließend zum Verhältnis von Rawls‘ eigenem religiösen Glauben und seinem wissenschaftlichen Werk zu sagen? War Rawls am Ende gar ein Denker, dessen politische Philosophie einen religiösen Tiefenstrom hat? Nun, das wäre wohl etwas viel gesagt. Genauso wenig war Rawls aber ein anti-religiöser Denker. Er hat schlicht nie erkennen lassen, welcher Auffassung des guten Lebens er eigentlich anhängt.  Dies hat sich erst nach seinem Tod geändert: Die posthume Veröffentlichung des kurzen Textes ‚Über meine Religion‘ wirft seit einigen Jahren ein neues Licht auf das Verhältnis von Rawls und seiner Religion. Rawls beschreibt dort seine inneren Kämpfe zwischen den moralischen Einwänden gegen den Glauben an Gott, die viel mit Rawls‘ Erfahrungen als Soldat in der US-amerikanischen Armee im 2. Weltkrieg zu tun haben, und einem Fideismus, der trotz aller philosophischen Schwierigkeiten an der praktischen Gewissheit der Existenz Gottes festhält: „Meine Schwierigkeiten waren immer moralischer Natur, denn mein Fideismus blieb stets fest gegen alle Zweifel an der Existenz Gottes.“[4] Die politisch-philosophische Kernbotschaft dieses kurzen Textes steckt aber bereits in seinem allerersten Satz. Rawls beginnt seinen Text so: „Meine Religion ist allein für mich von Interesse.“[5] Er unterscheidet also strikt zwischen seiner nur für ihn interessanten, gewissermaßen privaten Religiosität und seiner auch für Andere interessanten Existenz als öffentlicher Intellektueller. Es ist bemerkenswert, dass Rawls seine Religiosität so stark privatisiert hat – und es ist eine gleichermaßen spannende wie nicht zu beantwortende Frage, was es eigentlich mit seinem Werk gemacht hätte, wenn er seine Religion als öffentliche und politische verstanden hätte.


Martin Breul, Dr. phil. Dr. theol., vertritt zurzeit die Professur für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt.


Weiterführende Literatur:

Bailey, Tom/ Gentile, Valentina (Hg.), Rawls and Religion, New York 2015.

Breul, Martin, Religion in der politischen Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung, Paderborn 2015.

Rawls, John, Über Sünde, Glaube und Religion, Berlin 2010.


[1] Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt 1998, 35.

[2] Ebd., 223.

[3] Ein erster Vermittlungsversuch findet statt in Wendel, Saskia, Religiös motiviert – autonom legitimiert – politisch engagiert. Zur Zukunftsfähigkeit Politischer Theologie angesichts der Debatte um den öffentlichen Status religiöser Überzeugungen, in: Dies. / Könemann, Judith (Hg.), Religion – Öffentlichkeit – Moderne, Bielefeld 2016, 289-306.

[4] Rawls, John, Über Sünde, Glaube und Religion, Berlin 2010, 305.

[5] Ebd., 303.