Objektiver Idealismus. Fragen an Vittorio Hösle

Der an der University of Notre Dame lehrende Philosoph Vittorio Hösle ist ein profilierter Vertreter eines objektiven Idealismus. Seine zahlreichen Publikationen umfassen u.a. «Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon» (1984), «Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität» (1987), «Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert» (1997), «Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften» (2018), «Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart» (2019). Das Interview führte Gregor Schäfer, Doktorand in Philosophie an der Universität Basel. 2018 / 19 war er visiting researcher an der University of Notre Dame. 

Gregor Schäfer: Wie würden Sie – in aller Kürze – die philosophische Position eines «objektiven Idealismus» definieren?

Vittorio Hösle: Der objektive Idealismus nimmt erstens an, dass es neben Physischem und Mentalem Ideales gibt, dass zweitens innerhalb dieser idealen Strukturen Werte eine Sonderstellung haben und dafür verantwortlich sind, dass die Welt so ist, wie sie ist, drittens, dass die Erkennbarkeit der idealen Welt durch den endlichen Geist kein kontingentes Faktum ist, sondern aus diesen Werten folgt. Die Erkenntnis der idealen Welt ist nicht empirischer Natur, aber dennoch gültige Erkenntnis.

Gregor Schäfer: Was spricht in Ihrer Sicht am meisten für diese Position?

Vittorio Hösle: Jeder Philosoph, auch der Skeptiker, beansprucht Wahrheit. Eine philosophische Theorie muss diesen prinzipiellen Wahrheitsanspruch einholen (der nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass wir alle fehlbar sind). Die Welt muss in einer bestimmten Weise strukturiert sein, um erkennbar zu sein, und der menschliche Geist muss bestimmte Leistungen vollbringen, um das eigene Philosophieren überhaupt ernst nehmen zu können. Viele Philosophien vernichten dagegen ihren eigenen Wahrheitsanspruch oder deklassieren ihn zu einem kontingenten Ereignis, wie etwa im Rahmen einer naturalistischen evolutionären Erkenntnistheorie.

        Ferner kann nur der objektive Idealismus nicht nur die Geltung von Werten, sondern auch deren Wirken in der Welt plausibel machen.

Gregor Schäfer: Welches sind die bedeutsamsten Vertreter eines objektiven Idealismus in der Philosophiegeschichte, welches die bedeutsamsten im 20. Jahrhundert?

Vittorio Hösle: Die ersten rudimentären Formen des objektiven Idealismus finden sich bei Heraklit und Parmenides; aber eine ausgearbeitete, fast alle Disziplinen umfassende objektiv-idealistische Philosophie hat erst Platon vorgelegt. Auch Aristoteles ist im weiteren Sinne objektiver Idealist, auch wenn er viele spezifisch Platonische Ideen, etwa zum eigenen Seinsstatus der Idee des Guten oder der mathematischen Gebilde verwirft. Schon bald wendeten sich die zweite und die dritte Akademie, also Platons Nachfolger in der Leitung seiner Schule, vom objektiven Idealismus ab, aber mit dem Mittel- und besonders dem Neuplatonismus kehrte das System wieder. Mit Augustinus vereinte es sich mit dem Christentum. Im Mittelalter ist es daher stark präsent, allerdings in einer nicht immer förderlichen Vereinigung mit einer Theologie, die sich auf Offenbarung stützt. Mich faszinieren am meisten die rationalistischen philosophischen Theologen, etwa Eriugena, Anselm, Nikolaus von Kues. In der Neuzeit ist natürlich der Deutsche Idealismus der Höhepunkt dieser Tradition, auch wenn sich schon bei Leiniz viele Ideen finden. Im 20. Jahrhundert ist Edmund Husserl (vor den «Ideen») der größte objektive Idealist, innerhalb der angelsächsischen Welt vermutlich der späte Charles Sanders Peirce und Alfred North Whitehead.

Gregor Schäfer: Wie sind Sie zum objektiven Idealisten geworden? Welches waren für Sie die wichtigsten philosophischen – doch vielleicht auch außerphilosophischen – Inspirationen?

Vittorio Hösle: Philosophisch waren die Inspirationen teils negativer Art: Weder der Naturalismus noch der Konstruktivismus, die in meiner Jugend weitverbreitet waren, überzeugten mich, ja, sie schienen mir sogar inkonsistent. Positiv faszinierte mich am objektiven Idealismus, dass er die Einseitigkeiten ausglich, die ich in den anderen Philosophien vorfand, dass er der Fülle des Seienden gerecht wurde, dass er, bei allen Unterbrechungen, auf eine fast 2500 Jahre alte Geschichte zurückblicken kann. Existenziell stiessen mich alle Philosophien ab, die das Irrationale, Hässliche und Böse in der Welt hervorheben, ja zelebrieren und damit noch vermehren.

Gregor Schäfer: Worin unterscheidet sich Ihre Fassung eines objektiven Idealismus von früheren Fassungen am deutlichsten? Inwiefern sind diese früheren Fassungen für Sie heute revisionsbedürftig?

Vittorio Hösle: Früh faszinierte mich die These Karl-Otto Apels und Jürgen Habermas’ von der Notwendigkeit einer intersubjektivitätstheoretischen Transformation der Philosophie. Meine Arbeiten zum objektiven Idealismus gehen in eine ähnliche Richtung, wenn auch auf anderer Grundlage. In der «Kritik der verstehenden Venunft» etwa versuche ich herauszuarbeiten, wie die Welt und endliche Geister beschaffen sein müssen, damit gültiges Verstehen überhaupt zustande kommen kann.

Gregor Schäfer: Welche Fragen sind für einen objektiven Idealismus besonders schwierig zu beantworten?

Vittorio Hösle: Warum gibt es soviel Unvernunft? Woher kommt das Böse? Aber ich ziehe eine Philosophie vor, die mit diesen Fragen Schwierigkeiten hat, gegenüber einer solchen, die gar nicht mehr erklären kann, was Vernunft ist und warum das Gute das Seiende mitgestaltet.

Gregor Schäfer: Wieso ist der objektive Idealismus heute die Position einer Minderheit?

Vittorio Hösle: Ein Blick auf die Philosophiegeschichte belehrt uns, dass der objektive Idealismus zyklisch wiederkehrt; er ist zu anspruchsvoll, um lange von einer grossen Zahl Menschen festgehalten zu werden. Heute kommen als weitere Probleme folgende hinzu: Der enorme Fortschritt der Einzelwissenschaften macht es erstens sehr schwierig, auch nur die Grundlagen mehrerer zu überblicken, daher sind die meisten Philosophen reduktionistisch. Naturwissenschaftlich ausgebildete Philosophen tendieren zum Naturalismus, auch wenn dieser dem Eigenleben des Mentalen und der Natur moralischer Normen nicht gerecht wird, sozialwissenschaftlich ausgebildete zum sozialen Konstruktivismus, auch wenn dieser letztlich nicht einmal den Wahrheitsanspruch der Sozialwissenschaften zu begreifen gestattet. Zweitens löst die Nähe zu religiösen Traditionen heute heftige Abwehrreaktionen aus, weil die Religion als freiheitsbegrenzend erfahren wurde. Und drittens wird der normative Anspruch des objektiven Idealismus unsinnigerweise als Gefahr für eine liberale Demokratie gedeutet.

Gregor Schäfer: Von welcher anderen heute verbreiteten philosophischen Position kann der objektive Idealismus am meisten lernen? Von welcher unterscheidet er sich am tiefsten?

Vittorio Hösle: Methodisch soll der objektive Idealismus so viel als möglich von der analytischen Philosophie lernen, sachlich von allen Richtungen, die Phänomene kraftvoll wiederzugeben vermögen. Ich denke, dass er sich am meisten vom Dekonstruktionismus und dem ganzen Reigen skeptischer oder relativistischer Richtungen unterscheidet.

Gregor Schäfer: Im Blick auf welche globalen Probleme und Herausforderungen ist der objektive Idealismus besonders wichtig und aktuell? Gibt es eine «politische Agenda» des objektiven Idealismus?

Vittorio Hösle: Der Erfolg meiner inzwischen in acht Sprachen übersetzten «Philosophie der ökologischen Krise» von 1991 deutet darauf hin, dass beim Durchdenken des Umweltproblems die Notwendigkeit einer Verbindung einer objektiv gültigen Ethik mit der Anerkennung des Eigenseins und der intrinsischen Werthaftigkeit der Natur besonders einleuchtet. Mein Buch «Moral und Politik» von 1997 versuchte, die alte Naturrechtslehre so umzugestalten, dass sie das Umweltproblem besser in den Griff bekommt.

Gregor Schäfer: Sind Sie als objektiver Idealist optimistisch oder pessimistisch, was die Gegenwart und die Zukunft der Menschheit betrifft?

Vittorio Hösle: Ich bin pessimistisch, was das 21. Jahrhundert angeht, aber langfristig wird die Vernunft sich durchsetzen – ob erst im 24. oder schon im 22. Jahrhundert, weiss ich nicht.

Gregor Schäfer: Sie leben in den USA. Welche allgemeinen Einsichten kann der objektive Idealismus aus dem Phänomen Trump gewinnen?

Vittorio Hösle: Dass das Aufgeben des Glaubens an objektive Wahrheiten zu Werten und gar zu Fakten desaströse politische Folgen hat. Trotz der Abwahl Trumps: Wir stehen weltweit erst am Anfang postfaktischer Politik.

Gregor Schäfer: Gibt es eine spezifisch objektiv-idealistische Sicht auf unsere aktuelle Situation einer Pandemie?

Vittorio Hösle: Dass vielleicht ein Segen darin besteht, dass wir 2020 so viel weniger Energie verbraucht und erkannt haben, wie gut sich auch mit reduziertem Konsum leben lässt.

Gregor Schäfer: Muss ein objektiver Idealist / eine objektive Idealistin an Gott glauben?

Vittorio Hösle: Es gibt einen Theismus ohne objektiven Idealismus, etwa voluntaristischer Natur; ich halte ihn für falsch. Der objektive Idealismus ist m.E. auch ohne einen Gottesbegriff begründbar; aber es finden sich gute, wenn auch schwächere Argumente für eine theistische Ergänzung des objektiven Idealismus.