Der Zahn der Zeit. Altern als Indikator der Endlichkeit
Von Michael Fuchs (Linz)
Was ist Altern?
Wein altert. Häuser altern. Kunstwerke altern. Bäume, Hunde und Menschen altern. Wenn das durchschnittliche Alter in einer Gesellschaft zunimmt, sprechen wir von einer alternden Gesellschaft. Altern bezeichnet, wenn es auf Individuen oder individuelle Dinge bezogen ist, das Verstreichen der Zeit und die Veränderungen, die mit der Zeit erfolgen. Dies können Prozesse der Reifung und des Wachstums oder Vorgänge der Schrumpfung und des Verfalls sein. Auch unter den Lebewesen laufen die Prozesse der Alterung verschieden ab und werden unterschiedlich konzeptualisiert. In der Botanik steht Altern nicht für abnehmende Lebenskraft, sondern für alle zeitabhängigen Prozesse (vgl. Krupinska2021). In der Zoologie und der biologischen Anthropologie ist die Identifikation des biologischen Alterns mit der Seneszenz hingegen weitverbreitet. Was aber ist mit „Altern“ gemeint, wenn Psychologen oder Ratgeber von einem „erfolgreichen Altern“ sprechen? Hier scheint es nicht um einen Prozess zu gehen, der am Subjekt abläuft, sondern der durch das Subjekt gesteuert wird. In verschiedenen Darstellungen einer existentiellen Sicht auf das Altern und das Alter, Sebastian Knell spricht geradezu von einem „existentiellen Altern“ (Knell 2017, 109-110), wird deutlich, dass die Einsicht in die Endlichkeit bzw. in das Illusionäre der Unendlichkeit gerade durch Erfahrungen der Gebrechlichkeit und der Irreversibilität von Verlusten geprägt ist und dass die Erfahrung der Zeit kaum ohne Erfahrungen in der Zeit beschrieben werden kann.
Prävention des Alterns
In der aktuellen Diskussion um die normative Bedeutung der Unterscheidung zwischen Krankheitsbehandlung (also Diagnose, Prävention und Therapie) und Verbesserung nicht krankheitsbezogener Merkmale (dem sog. Enhancement) bereitet die Option einer möglichen Verlangsamung des Alterns besondere Schwierigkeiten. Da viele Krankheiten durch den Alterungsprozess zumindest gefördert werden, ließe sich seine Verlangsamung auch als eine Art Krankheitsprävention darstellen. Zudem ist die Identifikation als Enhancement nicht zwingend ein normativ hinreichendes Ausschlusskriterium für einen gewünschten Eingriff, zumal es nichttherapeutische Eingriffe gibt, die viele zu den akzeptierten ärztlichen Handlungen zählen. Medizin solle sich nicht ausschließlich an der Behandlung von Krankheit orientieren, sondern allgemein eine Verbesserung der Lebensqualität erstreben. Eine erhebliche Erweiterung der natürlichen Lebenserwartung, so ist man sich weithin einig, würde jedoch gravierende soziale Schwierigkeiten und sozialstaatliche Konflikte heraufbeschwören. Spekuliert wird auch darüber, ob die erweiterte Lebensspanne den Verlust gesellschaftlichen Innovationspotentials implizieren würde.
Nach wie vor erscheint die Debatte eigentümlich polarisiert. Offenbar führt eine intuitiv positive oder skeptische Haltung dazu, dass häufig im Stile eines Wettkampfs die Argumente der Gegenseite nacheinander entkräftet werden, ohne dass ein Bemühen sichtbar wird, den beachtenswerten Kern des Arguments zu ergründen. So argumentieren Befürworter von radikalen Langlebigkeitsszenarien, dass sozialethische Argumente einer Überbevölkerung, schwindender Innovationsfähigkeit und individualethische Argumente drohender Langeweile die Assimilationsfähigkeit von Gesellschaften und die Kreativität der Individuen unterschätzen. Da die tatsächliche individuelle und kollektive Phantasie durch Analogien schwer zu ermitteln ist, bleibt der Streit empirisch offen und damit ungelöst.
Will man die Debatte aus dieser Polarisierung befreien, so kann man verschiedene Topoi unterscheiden, an denen sich der Widerstreit festmacht. Ich will mich indes auf einen noch nicht aufgeführten Aspekt konzentrieren, indem der Austausch der Argumente, eine echte Auseinandersetzung mit den Gründen der anderen Seite, aussteht, nämlich die Frage, ob zeitliche Endlichkeit als ein Gut anzusehen ist.
Endlichkeit als Gut?
Auch wenn der Gedanke der Endlichkeit im antiken Denken gelegentlich mit der Möglichkeit der Vollendbarkeit assoziiert wird, so ist die Sterblichkeit doch vielfach als eine Einschränkung wahrgenommen worden, auch wenn man Möglichkeiten suchte, sich gegen den Schmerz dieser Einschränkung zu immunisieren. Spätestens jedoch mit Augustinus wird die Sterblichkeit zum Indikator der Endlichkeit und diese wiederum zum malum metaphysicum. Es liegt daher ganz in der augustinischen Linie, wenn Descartes uns in der dritten Meditation davor warnt, zum Opfer unserer eigenen Sprache zu werden und in der Unendlichkeit eine Negation zu erkennen: In Wirklichkeit sei die Endlichkeit die Negation. Der Gedanke, dass Endlichkeit ein Gut ist, dieser Gedanke, der im Kern der Lebensverlängerungsskepsis steckt, ist daher zumindest historisch keineswegs trivial. Wo stecken seine Wurzeln?
Martha Nussbaum bezieht sich auf Aristoteles (EN X, 8), der ein rein Denkendes Dasein als das höchste ausweist und dabei die Frage stellt, ob Göttern ethische Tugenden zugesprochen werden können. Sie folgert aus der Verneinung nicht, dass sich aus spezifischen Anforderungen auch spezifische Tugenden als notwendig ergeben, sondern spricht den Unsterblichen bestimmte Weisen der Exzellenz ab. Aus der Zerbrechlichkeit des menschlichen Gutes entwickelt sie so einen Hinweis auf die Güte des Zerbrechlichen: „Immortality closes the god from intensity of mortal courage, the beauty of just or generous action.“ (Nussbaum 2001, 342) Faktisch lässt sich der Nikomachischen Ethik eine entsprechende Kritik des Dauerhaften und Beständigen nicht entnehmen. Der Wert in der Endlichkeit wird jedenfalls bei Aristoteles nicht zum Wert der Endlichkeit.
Tatsächlich zerfällt der Hinweis auf den Wert der Endlichkeit in eine Reihe von Argumenten. Zunächst wird in verschiedenen Verbesserungsambitionen im Sinne des Enhancement eine Selbsttäuschung über die wahre Rolle des Körpers und seine Verletzlichkeit gesehen. Wenn wir unsere eigene Verletzlichkeit verdrängen, so kann uns dies von wahren Tugendzielen abhalten; unsere Fähigkeit zum Mitleid etwa kann schwinden. Unser Anerkennen der Endlichkeit erhält insofern Wert, einen instrumentellen Wert für die sittliche Qualität unseres Lebensentwurfs.
Sodann kann Alterung als Indikator geistiger Endlichkeit betrachtet werden, deren Nichtbeachtung negative Folgen für unsere praktischen Ratschlüsse hat. Hans Jonas‘ Argument für die Beachtung der Gebürtlichkeit, die Wertschätzung des Immer-wieder-neu-Anfangens ist insofern auch ein Argument für den heuristischen Wert der Anerkenntnis von Endlichkeit.
Bernard Williams Hinweis auf die unüberwindliche Gefahr der Langeweile bedient sich, wie Hans-Jörg Ehni treffend herausgearbeitet hat (Ehni 2009), ebenfalls eines Endlichkeitsarguments. In einem zeitlich unbegrenzten oder unbegrenzt erscheinenden Leben bestünden nur zwei Alternativen: entweder die eigenen Lebensprojekte immer weiter und in immer neuen Anläufen zu verfolgen und damit der Langeweile zu verfallen oder aber wirklich Neues zu beginnen und dadurch den eigenen Charakter zu sprengen. Dies wäre ein Argument gegen die Langlebigkeit, welches auf ein Konzept der personalen Identität rekurriert. Wir verfallen der Langeweile, weil wir die längere Dauer von Projekten nicht ertragen, unser Elan und unsere Planung sind auf Endlichkeit angelegt. Mit dem Sprung in etwas Neues würden wir aus uns selbst herausspringen. Indes fragt sich, ob dies Szenario nicht zu skeptisch ist, was die Langfristigkeit menschlicher Projekte angeht. So könnten Freundschaft oder Partnerschaft auf Unbegrenztheit angelegt sein. Auch stellen verschiedene theoretische Wissenschaften ein unabschließbares Projekt und damit ein adäquates Mittel gegen Langeweile dar. Und andererseits könnte eine Erneuerung durchaus als Charakterreform verstanden werden, der Übergang wäre dann nicht abrupt. Dennoch ist der Hinweis auf die Endlichkeit des Charakters ein Argument dafür, dass nicht nur die richtige Erkenntnis des Endlichen als Endlichem sondern auch das Endliche selbst und seine Bewahrung einen Wert haben könnten.
Für den Wert der Endlichkeit ist weiter eine ökonomische Betrachtung angeführt worden. In Hans Jonas‘ Aufsatz „Last und Segen der Sterblichkeit“ wird die Frage nach dem Wert des Begrenzten als Begrenzten durch einen Eventualis beantwortet: „Was jeden von uns betrifft, so könnte das Wissen, daß wir hier nur kurz weilen und daß unserer zu erwartenden Zeit eine unverhandelbare Grenze gesetzt ist, sogar nötig sein als Antrieb dafür, unsere Tage zu zählen und sie so zu leben, daß sie durch sich selbst zählen.“ (Jonas 1994, 100) Schon Sören Kierkegaard hatte unter diesem Aspekt die Betrachtungsweise des Kaufmanns zur Erläuterung herangezogen und erklärt, dass der Tod selbst erwirke, dass die Zeit teure Zeit für den Sterbenden werde.
Die ökonomische Betrachtungsweise hat freilich etwas Unbefriedigendes. Zwar mag es auf ideelle Güter übertragbar sein, dass knappe Güter kostbar sind, doch könnte dieser Wert stets durch die Vermehrung der weniger kostbaren Güter ausgeglichen werden. In einem potentiell unsterblichen Leben, so könnte man argumentieren, würde irgendwann dieser Ausgleich erfolgen.
In Kierkegaards „Rede am Grab“ hat ein Stichwort leitmotivische Funktion: der Ernst. Der Tod wird für Kierkegaard Lehrmeister des Ernstes, weil durch die Erwartung seiner möglichen Nähe mein Leben als eine Ganzheit in den Blick gerät. Es ist kein offenes Reich von Projekten, sondern etwas, das ich als eine bestimmte Individualität beschreiben kann. Habe ich gelebt, wie ich gelebt haben sollte? Habe ich als der gelebt, der ich sein sollte? Der Tod und auch seine Erwartung macht das Leben als Individualität fassbar und setzt es einem möglichen Urteil aus. Reicht dies aber aus, den Tod als Segen zu betrachten? Kierkegaard warnt uns vor allen Verharmlosungen. Der Ernst verlangt, sich nicht durch Metaphysiken des Alterns und des Todes in eine mutige Stimmung zu reden.
Differenzierungen und offene Fragen
Ein Blick auf die Demographie und auf die experimentelle Biogerontologie würde zeigen, dass wir weder verlässlich eine speziesinvariante maximale Lebenserwartung annehmen müssen noch langfristig davon ausgehen können, dass eine solche maximale Lebensspanne nicht durch technische Intervention erweiterbar wäre. Unbestritten bleibt lediglich, dass der Mensch insofern sterblich ist, als er durch äußere Gewalt ums Leben gebracht werden kann.
Sterblichkeit ist indes nur eine Facette der Endlichkeit. Auch eine Akzeptanz der Endlichkeit, verlangt kein Sich-Abfinden mit der Sterblichkeit. Beim Wertschätzen der Endlichkeit auch im Sinne der Sterblichkeit muss zwischen jenen Argumenten unterschieden werden, die die Endlichkeit als gegeben ansehen und daher ihr Verdrängen kritisieren. Diese Argumente aber sind teilweise hinfällig, wenn wir die biogerontologischen Szenarien zugrunde legen. Es wurden aber drei Argumente unterschieden, die die Endlichkeit des Lebens zum Wert erklären und die Sterblichkeit als zentrales Element nehmen. Da eines davon nur in Verknüpfung mit dem Argument der zu meidenden Langeweile funktioniert, bleiben das ökonomische Argument und das Argument der Individualität. Beide verdienen vertiefende Betrachtung.
Sicher wird man fragen können und müssen, ob sich im Streben nach immer längerem Leben nicht etwas ausdrückt, was durch das längere Leben nicht befriedigt werden kann. So sagt etwa Leon Kass, wir strebten nach Ganzheit, die wir nicht haben und erwarten sie durch ein Mehr von dem, was wir haben. Die Biogerontologie ist deshalb wohl weder eine adäquate Antwort auf unsere Todesfurcht noch eine Antwort, die uns Ganzheit oder Vollkommenheit verspricht. Zweifel sind geboten, ob sie überhaupt einen Wandel zum Besseren implizieren würde. Sie ist aber als Programm der Verlängerung der Lebensspanne nicht eo ipso die Reduktion von Werthaftem. Vielmehr ist nicht auszuschließen, dass durch sie gerade auch wertvolle Projekte ermöglicht würden, ebenso wie werthafte Projekte nivelliert werden können.
Michael Fuchs, Philosoph, ist Vorstand des Instituts für Praktische Philosophie/Ethik der KU Linz und Modulsprecher für „Medizin und Ethik“ der JKU Linz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Allgemeine Ethik, Bioethik und Philosophie des lateinischen Mittelalters. Im Bereich der Bioethik hat er sich vor allem mit Enhancementtechniken, Forschung am Menschen und Fragen der kollektiven Urteilsbildung befasst
Literatur
Ehni, Hans-Jörg: Kann man sich Elina Makropoulos als glücklichen Menschen vorstellen? In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 14 (2009), 47-70.
Hans Jonas, Last und Segen der Sterblichkeit, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994, 81-100.
Knell, Sebastian: Philosophische und ethische Aspekte des Alterns. In: Dieter Sturma/Dirk Lanzerath (Hg.) Altern. Biologische, psychologische und ethische Aspekte. Freiburg/München 2017, 106-162.
Krupinska, Karin: Alter und Altern bei Pflanzen, in: Fuchs, Michael (Hg.): Handbuch Alter und Altern. Anthropologie – Kultur – Ethik. Heidelberg 2021 (in Vorbereitung)
Nussbaum, Martha: The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, revised ed., Cambridge 2001