Ist es möglich, gemeinsam zu fühlen? Wie kollektive Emotionen in zwischenleiblicher Resonanz entstehen

Von Gerhard Thonhauser (Darmstadt)


Es scheint selbstverständlich, dass man nur seine eigenen Emotionen fühlen kann. Denn Emotionen sind an den Körper und an das Bewusstsein gebunden: Emotionen beruhen auf Prozessen, die in meinem Körper ablaufen, und sind Erfahrungen, die in meinem Bewusstsein erlebt werden. Daher können mir die Emotionen anderer niemals unmittelbar gegeben sein, denn ich habe keinen Zugang zu deren Bewusstsein und auch deren Körper kann ich nicht von innen erleben. Unmittelbar gegeben sind mir nur die Außenansichten der Körper der anderen, sodass ich anhand meiner Beobachtung ihrer Körper zu ergründen versuchen muss, was diese wohl Denken und Fühlen mögen. Doch in letzter Konsequenz werden mir die Anderen immer ein Rätsel bleiben, da ich mir nie sicher sein kann, ob diese wirklich Denken und Fühlen, was ich anhand meiner Deutung ihres Verhaltens von ihnen annehme. Entsprechend kann es auch kein echtes Miteinanderfühlen geben. Wir mögen uns zwar manchmal mit anderen so verbunden fühlen, dass wir annehmen, dasselbe zu fühlen; doch dies kann niemals wirklich der Fall sein, weil jede von uns letztlich immer nur ihre eigenen Emotionen fühlen kann. So etwas wie kollektive Emotionen gibt es nur in einem metaphorischen Sinn: Es mag zwar üblich sein, davon zu sprechen, dass wir uns freuen, aber das kann bei näherer Betrachtung nicht bedeuten, dass die Freude tatsächlich unsere Freude ist, sondern nur, dass unsere individuellen Emotionen der Freude irgendwie aufeinander bezogen sind.

Diese gängige Sichtweise lässt sich in zwei Thesen zusammenfassen: der Unzugänglichkeitsthese, wonach ich nur meine eigenen Emotionen unmittelbar erfahren kann, während die Emotionen anderer meiner Wahrnehmung unzugänglich sind; und der Unteilbarkeitsthese, wonach es ist nicht wirklich möglich ist, Emotionen mit anderen gemeinsam zu fühlen, weil jede von uns je nur ihre eigenen Emotionen fühlen kann. Doch ist die beschriebene Sichtweise die einzig möglich, um Emotionen zu bestimmen? Und ist diese Bestimmung tatsächlich so plausibel, wie sie auf den ersten Blick scheint?

Eine alternative Sichtweise

Eine Alternative findet sich im Werk des französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty. Zentrales Anliegen von Merleau-Pontys Philosophie ist die Überwindung des Dualismus von Geist und Körper, der für das moderne Denken seit Descartes charakteristisch ist und zu den vielfältigen Varianten des sogenannten Leib-Seele Problems führte (also der Frage nach dem Verhältnis von mentalen und physischen Zuständen). In der Emotionsforschung manifestiert sich diese dualistische Orientierung in der Gegenüberstellung von physiologischen und kognitiven Emotionstheorien. Es handelt sich dabei um die beiden entgegengesetzten Varianten, mit dem Dualismus umzugehen, indem einer der beiden Seiten der Vorrang eingeräumt wird. Die physiologische Lösung versteht Emotionen als Begleit- oder Folgeerscheinungen von körperlichen Prozessen, die ohne geistige Vermittlung direkt durch die Wahrnehmung von Emotionsauslösern bewirkt werden. Die kognitive Lösung besagt umgekehrt, dass es zunächst die geistige Evaluation einer Situation ist, durch die eine Emotion ausgelöst wird. In der einen Theorie hängen die Emotionen also maßgeblich von einem physiologischen, in der anderen maßgeblich von einem geistigen Vorgang ab, während die jeweils andere Seite des Dualismus als nachgelagert aufgefasst wird.

Merleau-Ponty nimmt hingegen ein Verständnis des Leibes zum Ausgangspunkt, das einer Unterscheidung von Körper und Geist vorgelagert ist. Er beginnt also nicht mit einem Dualismus, der einem nur die eben skizzierte Alternative zwischen physiologischen und kognitiven Lösungen lässt, sondern nimmt zum Ausgangspunkt, dass es primär unser Leib ist, der mit der Welt in Kontakt steht und für unsere Wahrnehmung und unser Handeln das Medium bildet. Für das Verständnis von Emotionen bedeutet dies, dass wir diese als leibliche Evaluationen fassen können, welche ein gesamtheitliches Geschehen aus intentionalen Bewertungen, neurophysiologischen Veränderungen, Ausdrucksverhalten und Handlungstendenzen darstellen. Es mag möglich und in wissenschaftlichen Untersuchungen sinnvoll sein, diese Komponenten analytischen zu trennen. Doch für das Verständnis von Emotionen ist es entscheidend, diese als gesamtheitliches Phänomen in den Blick zu bekommen. Ein entsprechender Ansatz findet sich in den Arbeiten des Philosophen und Mediziners Thomas Fuchs, der Merleau-Pontys Grundgedanken weiterentwickelte. Für diesen Ansatz ist das Phänomen leiblicher Resonanz zentral. Leibliche Resonanz umfasst verschiedenste Arten von Empfindungen und Aktivierungen des autonomen Nervensystems und der Skelettmuskulatur, die sich unter anderem in typischen Ausdrucksverhalten und Handlungsmustern manifestieren. Ein Beispiel ist die Fluchttendenz in der Furcht, die mit einer Erhöhung von Atmung, Kreislauf und des Muskeltonus und Empfindungen wie Zittern einhergeht. Auch die Bewertung kann von der leiblichen Resonanz nicht getrennt werden. Es ist das Gesamtphänomen, das als leibliche Resonanz bezeichnet wird, das mir die jeweilige Situation erschließt, zum Beispiel die Bedrohung in der Furcht. Emotionen sind dabei keine objektiven Bewertungen einer Situation, sondern immer darauf bezogen, wie ich von dieser Situation betroffen bin. So kann zum Beispiel nur ein Wesen, das bedroht werden kann, Furcht haben; und die Furcht erschließt nie nur etwas als bedrohlich, sondern immer auch mich oder etwas, das mir wertvoll ist, als bedroht. Emotionen vereinen eine welt- und eine selbsterschließende Funktion; und der Leib ist das Medium, das mir sowohl die Welt als auch meine Situierung in dieser erschließt.

Emotionen im zwischenleiblichen Raum

Wenn sich Emotionen immer in solchen Prozessen leiblicher Resonanz vollziehen, dann ist es naheliegend, dass dieselben Resonanzvorgänge, die meine Emotionen für mich ausmachen, auch dafür verantwortlich sind, dass meine Emotionen für andere wahrnehmbar sind. Wie der Phänomenologe Max Scheler schreibt, sehen wir im Lächeln unmittelbar die Freude, in den Tränen das Leid oder im Erröten die Scham. Die für eine Emotion typischen Körperhaltungen, Bewegungsmuster und Formen des mimischen und gestischen Ausdrucks machen diese zugleich für andere zugänglich, ohne dass wir sie dafür bewusst beobachten und nachdenkend einordnen müssen. Wenn dies zutrifft, dann ist die These, wonach mir die Emotionen anderer in der Wahrnehmung prinzipiell unzugänglich sind, nicht länger haltbar. Es wäre vielmehr naheliegend, dass sich Emotionen primär in einem zwischenleiblichen Raum abspielen, in dem ich die Emotionen anderer nicht nur wahrnehmen kann, sondern auch ständig von diesen beeinflusst bin. Fuchs bezeichnet dieses Phänomen als zwischenleibliche Resonanz. Mit diesem Begriff soll beschrieben werden, dass unsere Körper immer im Austausch miteinander stehen, sobald wir uns in hinreichender Nähe zueinander befinden, auch wenn sich dies unserer Aufmerksamkeit häufig entzieht. Zahlreiche Koordinations- und Kommunikationsprozesse vollziehen sich fast vollständig auf der Ebene leiblicher Intentionalität, wie etwa die Wahl des angemessenen Abstands in einem Gespräch. Für den Bereich der Emotionen bedeutet dies, dass das unmittelbare Erfassen der Emotionen anderer und die oft unbemerkte Beeinflussung durch diese allgegenwärtig sind. Zwar kommt es immer wieder vor, dass sich mir die emotionale Verfasstheit anderer nicht erschließt und mir diese zum Rätsel werden. Doch scheint dies nicht die Regel darzustellen, sondern eine Ausnahme, die vor allem dann eintritt, wenn Prozesse zwischenleiblicher Resonanz ins Stocken geraten und ich deswegen beginne, aktiv darüber nachzudenken, was es mit diesem konkreten Anderen wohl auf sich haben möge.

Das Phänomen zwischenleiblicher Resonanz legt es ebenso nahe, dass es Situationen geben kann, in denen die Resonanz so stark wird, dass mehrere Individuen tatsächlich dasselbe fühlen. Das ist dann der Fall, wenn die wechselseitige Beeinflussung so intensiv wird, dass die Emotionen der Beteiligten für eine gewissen Zeitspanne miteinander synchronisiert werden. Die für die Emotionen konstitutive Resonanz ist dann in einem zwischenleiblichen Resonanzraum angesiedelt, der die Resonanzräume der einzelnen Beteiligten übersteigt. In solchen Situationen ist die Freude tatsächlich unsere Freude oder die Trauer tatsächlich unsere Trauer. Wenn wir kollektive Emotionen auf der Basis von zwischenleiblicher Resonanz verstehen, wird deutlich, dass es keine kollektive Entität als Trägerin der kollektiven Emotion braucht (sei es ein Gruppenkörper oder ein Gruppengeist). Kollektive Emotionen werden in intensiven Formen zwischenleiblicher Resonanz konstituiert und sind in diesem Sinn buchstäblich unsere gemeinsamen Emotionen. Anhand von zwischenleiblicher Resonanz lässt sich also sowohl die Wahrnehmbarkeit der Emotionen anderer als auch die Möglichkeit kollektiver Emotionen verständlich machen – zwei Sachverhalte, die einer dualistischen Sichtweise ein Rätsel bleiben oder von dieser gar für Unsinn gehalten werden müssen.

Sozio-materielle Rahmenbedingungen

Die Stärke des skizzierten Ansatzes besteht also darin, dass er die Wahrnehmbarkeit und die Teilbarkeit von Emotionen auf eine konzeptuell plausible und empirisch überprüfbare Weise erklären kann. Sein volles Potenzial entfaltet der Ansatz aber erst, wenn er mit der Frage verknüpft wird, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um intensive Formen zwischenleiblicher Resonanz zu ermöglichen. Das erlaubt uns im Detail zu untersuchen, welche Rolle die Wahrnehmung fremder Emotionen und die Erfahrung kollektiver Emotionen in soziale Gemeinschaften spielen. Die Möglichkeiten gemeinsamen Fühlens nicht dem Bereich des Mythischen oder Romantische zu überlassen oder für denkunmöglich zu halten, sondern plausibel erklären und weiterführenden Untersuchungen zugänglich machen zu können, leistet also einen wichtigen Beitrag für unser Verständnis des Sozialen. Es geht dabei vor allem darum zu untersuchen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit intensive Formen zwischenleiblicher Resonanz und die darin entstehenden Formen gemeinsamen Fühlens möglich sind, und welche Bedingungen sie im Gegensatz erschweren oder verunmöglichen.

Abschließend sollen zwei entsprechende Forschungsfelder skizziert werden. Erstens ist es wichtig, die sozio-materiellen Kontexte zu untersuchen, die das Miteinanderfühlen von Emotionen ermöglichen. Kollektive Emotionen scheinen besonders häufig in solchen Kontexten anzutreffen zu sein, die besonders intensive Formen zwischenleiblicher Resonanz ermöglichen. Hierbei kommen Konzerte, Clubbings, Sportveranstaltungen, politische Events oder religiöse Zeremonien in den Sinn; aber auch Familienfeiern oder das Feierabendbier unter Kolleg*innen. Jan Slaby und Kollegen haben den Begriff des affektiven Arrangements vorgeschlagen, um die Gesamtheit der Elemente und Prozesse zu erfassen, welche jene Orte ausmachen, in denen intensive Formen zwischenleiblicher Resonanz besonders wahrscheinlich sind – und entsprechend auch die Genese kollektiver Emotionen. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass zwischenmenschliche Interaktionen auf vielfältigen Habitualisierungen beruhen, die uns eine fluide Navigation in verschiedenen sozialen Situationen erlauben. Um einen weiteren Begriff Merleau-Pontys aufzugreifen, kann dies auch so formuliert werden, dass nicht nur Individuen, sondern auch Gruppen und ganze soziale Milieus ihren charakteristischen Ausdrucksstil haben. Zwischenleibliche Resonanz funktioniert dann besonders reibungslos, wenn die Beteiligten ähnliche leibliche Habitualisierungen durchlaufen haben. Daher setzt die Wahrnehmung der Emotionen anderer voraus, dass ich mit deren Stil hinreichend vertraut bin. Ebenso erfordert die Entstehung kollektive Emotionen, dass die Ausdrucksverhalten der Beteiligten kompatibel genug sind, um eine hinreichende Synchronisierung zu ermöglichen. Die kritische bzw. queere Phänomenologin Sara Ahmed weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diejenigen, die bereits in größerer Nähe zueinander leben und häufiger in zwischenleiblicher Resonanz stehen, dadurch auch ähnlichere Habitualitäten entwickeln, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, in zwischenleibliche Resonanz zu geraten – ein sozialer Segmentierungsmechanismus.

Zu zwischenleiblicher Resonanz kann es aber auch in unerwarteten Situationen kommen, die dazu beitragen, neue Habitualisierungsprozesse in Gang zu setzen. Doch gerade solche Begegnungen werden durch die fortwährende Covid-19-Pandemie erheblich erschwert. Es gibt zwar mittlerweile zahlreiche digitale Technologien, die uns in die Lage versetzen, auch in physischer Distanzierung in Echtzeit zu kommunizieren. Doch mangelt es dabei an spontanen, unerwarteten Begegnungen, in denen wir uns für neues, noch unbekanntes öffnen. Vollends beeinträchtigt sind jene intensiven Formen zwischenleiblicher Resonanz, die auf entsprechende Orte angewiesen sind, in denen sie allererst ermöglicht werden. Gerade im aktuellen Entzug zeigt sich die zentrale Rolle diese Orte und der in ihnen ermöglichten kollektiven Emotionen für unser Zusammenleben.


Literaturhinweise

Ahmed, Sara: The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2014.

Fuchs, Thomas: „The Phenomenology of Affectivity“, in The Oxford Handbook of Philosophy and Psychiatry, Oxford: Oxford UP, 2013, 612–631.

Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter, 1966.

Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie, Bonn: Cohen, 1923.

Slaby, Jan / Mühlhoff, Rainer / Wüschner, Philipp: „Affective Arrangement“, Emotion Review, 11 (1), 2017, 3-12.

Thonhauser, Gerhard: „A Multifaceted Approach to Emotional Sharing“, Journal of Consciousness Studies, 27 (9-10), 202-227.
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Gerhard Thonhauser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt und assoziiertes Mitglied des Sonderforschungsbereichs 1171 Affective Societies.