Zwischen Interpretation und Adaption: Rawls im Dialog mit Kant

Von Jakob Huber (Frankfurt)


John Rawls habe die normative politische Philosophie im und für das 20. Jahrhundert wiederbelebt, so eine weiterverbreitetes (wenngleich zunehmend kritisiertes) Narrativ. Während sich sein Rang in der Ahnengalerie der Gerechtigkeitstheorie 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung seines Hauptwerkes weiter festigt, werden Rawls‘ eigene Arbeiten zur Geschichte der Philosophie weiterhin kaum beachtet. Wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte, stehen diese Rawls‘ eigenem Theoriekonstrukt sicherlich in ihrer Originalität, weniger jedoch in ihrer Wirkmächtigkeit nach. Insbesondere Rawls‘ Kantinterpretation hat sich – zum Guten oder zum Schlechten – gerade im angloamerikanischen Kontext als einflussreich entpuppt. Begünstigt durch Rawls‘ häufig undurchsichtige Kombination aus Interpretation, Adaption und Modifikation sowie vermittelt durch eine Reihe Kant-affiner Schüler:innen lässt sich ein Bild eines wechselseitiges Verhältnis Rawlsscher und Kant’scher Ideen zeichnen.

Der Kant’sche Rawls

Dass Rawls‘ eigenes Denken von Kant zutiefst beeinflusst war, lässt sich schwer bestreiten. In der Theorie der Gerechtigkeit finden sich prominente Bezüge zu Kant auf inhaltlicher wie rechtfertigungstheoretischer Ebene. Einerseits argumentiert Rawls, der substantielle Kern seiner Theorie,d.h. das Argument für die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit, sei als eine Version der Kantischen Selbstzweckformel – also des Gebots, Personen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich zu behandeln – zu verstehen (TdG, 205-210). Die zugrunde liegende kantische Konzeption moralischer Personen als freie und gleiche Vernunftwesen spielt eine prominente Rolle vor allem in Rawls Utilitarismuskritik. Der Utilitarismus, so Rawls, verletze dieses kantische Prinzip, indem er die Würde einzelner gegen den größtmöglichen Nutzen abzuwägen erlaube. Rawls artikuliert diese Kritik von Beginn an mit den Begriffen des Urzustands: die Parteien würden das Nützlichkeitsprinzip nicht wählen, so Rawls, da sie nicht wüssten, ob sie Teil einer Minderheit sein würden, deren Interessen denen der Mehrheit geopfert werden.

Wie die spezifischen Beschränkungen des Urzustands selbst zu verstehen sind, erläutert Rawls in der „kantischen Interpretation“ von Gerechtigkeit als Fairness in Abschnitt 40 der Theorie der Gerechtigkeit. Der Urzustand, so Rawls, lasse sich als „verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des kategorischen Imperativs im Rahmen einer empirischen Theorie“ (TdG, 289) auffassen. Die Bestimmung des Urzustands sei ein Versuch, die Vorstellung „selbstgegebener“ moralischer Gesetze zu konkretisieren bzw. auf das Gerechtigkeitsproblem anzuwenden. Den Menschen im Urzustand fehlen auf Grund des Schleiers des Nichtwissens jene Kenntnisse, die es ihnen ermöglichen würden, heteronome Grundsätze zu wählen. Sie kommen daher zu einer gemeinsamen Entscheidung als freie und gleiche Vernunftwesen, die nur diejenigen Umstände kennen, die Gerechtigkeitsgrundsätze überhaupt nötig machen.

Spätestens ab den 1980ern ist bei Rawls eine zunehmend kritischere Bezugnahme zu Kant zu beobachten. In den Dewey Lectures „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ bekennt er sich zunächst noch zum Konstruktivismus ganz allgemein als eine Methode, gültige Normen als Ergebnis eines Konstruktionsverfahrens, in das bestimmte Vorannahmen eingehen, zu begründen. Spezifisch kantisch sei sein Konstruktivismus auf Grund einer Konzeption der moralischen Person als freie und gleiche, die Ausganspunkt und wichtigstes Element der Gedankenfigur (dem Urzustand) darstellt. Allerdings grenzt sich Rawls bereits deutlich von einem metaethischen Kantianismus hinsichtlich moralischer Aussagen schlechthin ab. Gerechtigkeit als Fairness zielt nicht darauf ab, das Wesen der praktischen Vernunft schlechthin zu bestimmen, sondern eine Lösung für das Problem, dass es in modernen Gesellschaften Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich moralischer Fragen gibt, zu finden.

In der Folge ist Rawls zunehmend besorgt über die Möglichkeit einer auf allgemeiner Zustimmung basierender Stabilität unter Bedingungen eines Pluralismus der Weltanschauungen. Er geht davon aus, dass moderne Gesellschaften unweigerlich (das heißt, alleine auf Grund der Bürden des Urteilens im Vernunftgebrauch jeder Einzelnen) von einem „vernünftigen Pluralismus“ von Konzeption des Guten geprägt sind. Das zentrale Argument des Politischen Liberalismus von 1993 ist nun einerseits, dass ein Konsensus über Fragen des Guten ausgeschlossen ist, so dass wir in dieser Hinsicht neutral bleiben müssen. Dies heißt andererseits aber nicht, dass wir unsere Hoffnung auf eine Einigung hinsichtlich allgemein akzeptierter Gerechtigkeitsprinzipien aufgeben müssen – so lange wir dem Faktum des „vernünftigen Pluralismus“ dabei Rechnung tragen. Gerechtigkeit als Fairness wird nun im Rahmen eines Politischen Liberalismus verteidigt, das heißt, auf Basis rein politischer Gründe.  Der kantische Konstruktivismus hingegen ist als metaphysisch kontroverse, umfassende Lehre ungeeignet, so Rawls, in einer pluralistischen Gesellschaft einen übergreifenden Konsens herzustellen

Der Rawlssche Kant

Rawls‘ Bezugnahme auf Kant ist also komplex und unterliegt im Lauf seines Werkes Veränderungen, die wichtige Entwicklungen in Rawls eigenen Gedanken spiegeln. Dabei stellt Rawls meist klar, dass seine Ideen kantisch sind aber nicht Kants. Weit fließender sind diese Grenzen jedoch in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Moralphilosophie (GM), in denen Rawls unter anderem eine detaillierte Exegese von Kants praktischer Philosophie vorlegt. Während er darauf besteht, den Geist von Kants Ideen zu bewahren, wenn er diese mit seinem eigenen begrifflichen Instrumentarium verwebt, werfen ihm Kritiker:innen vor, sie dabei in entscheidender und fataler Weise zu verändern.

Interessant ist, dass Rawls selbst noch in der seinen Vorlesungen vorangestellten Einleitung darauf hinweist, Interpretation und Adaption bzw. Aktualisierung seien streng zu trennen. Man dürfe nicht das eigene Problemverständnis zur Grundlage der Lektüre und Bewertung tradierter Texte machen, sondern müsse diese in ihrer philosophischen Eigenständigkeit sowie historischer Situiertheit ernstnehmen. Dieser Mahnung zum Trotz ist seine Annäherung an Kant jedoch geprägt von einer grundlegenden Skepsis gegenüber dessen praktischer Metaphysik und deren angebliche „Dualismen“. Aus einer (von Kants hegelianischen Kritiker:innen bekannte) Sorge über Kants „leere und unfruchtbaren Formalien“ entscheidet er sich, „die Rolle des Apriori und Formalen herunter[zu] spielen“ (GM, 360) und diese durch empirische Elemente zu ergänzen. In der Interpretation des kategorischen Imperativs äußert sich dies dahingehend, dass das moralische Gesetz durch ein (offensichtlich nach dem Urzustand modellierten) „Entscheidungsverfahren“ auf spezifisch menschliche Bedürfnisse angewendet werden müsse. Moralische Deliberation gleiche einer rationalen Entscheidungsprozedur, in der sich Akteure fragen, ob sie wollen können, dass ihre jeweiligen Handlungsmaxime als allgemeines Gesetz in einer „angeglichenen sozialen Welt“ gelte. Moralisches Handeln wird so als durch Rationalität eingeschränkte Zweckverfolgung konzipiert.

Diese Lesart hat sich in der Folge – nicht zuletzt durch Rawls-Schüler:innen wie Christine Korsgaard, Andrews Reath oder Barbara Herman – zu einer weit verbreiteten Position gerade in der anglophonen Kantforschung entwickelt. Ihren Anhänger:innen zufolge erlaubt das „KI-Verfahren“ es Akteuren, ihre individuellen Zwecke als Gut zu verstehen; das Gute existiert im Umkehrschluss nur als Eigenschaft von Maximen rational Handelnder. Kritiker:innen weisen jedoch darauf hin, dass diese Interpretation Kants grundlegende Unterscheidung zwischen instrumenteller und reiner praktischer Vernunft auflöst und damit letztlich außer Stande ist, der Unbedingtheit moralischen Sollens gerecht zu werden. Um (ganz in Sinne Rawls‘), die praktische Relevanz von Kants Moralphilosophie zu bewahren, werden angeblich kontroverse metaphysische „Abstraktionen“ mit anthropologischen Annahmen über die soziale Welt zurück auf den Boden der empirischen Tatsachen geholt. Dies bestätigt letztlich von Beginn an den Verdacht der Gegner:innen von Kant, die bestreiten, kategorischen Imperative könne in seiner Formalität jemals handlungsanleitend sein.

Darüber hinaus beklagen gerade Interpret:innen von Kants politischer Philosophie, Rawls‘ semi-politische Lesart des kategorischen Imperativs verschleiere die Unterscheidung zwischen Kants Ethik und seiner politischen Philosophie. So seien Prinzipien des Rechts im Gegensatz zum Moralgesetz gerade nicht selbstgegeben, sondern entspringen der Autorität eines öffentlichen Gesetzgebers. Für Kant haben Freiheitsgesetze (einschließlich Grundsätze der Gerechtigkeit) nicht Geltung, da wir ihnen zustimmen, sondern wir stimmen ihnen (autonom) zu, da sie a priori (vernunftbasiert) Geltung beanspruchen. In der Idee einer Republik der Mitgesetzgeber scheint Rawls einen Rousseau‘schen Voluntarismus auf Kant zu projizieren.

Der empirisierte Kantianismus, der sich von Rawls ausgehend und in der Folge vermittelt durch seine Schüler:innen  zu einer prominenten Interpretationsschule entwickelt hat, riskiert also, ganz grundlegende Aspekte von Kants praktischer Philosophie aus dem Auge zu verlieren. Rawls reflektiert die theoretische Anlage und Ambition seines eigenen Theorieprojekts auf Kant zurück. Gerade indem er der Kritik des „leeren Formalismus“ als Ausgangspunkt akzeptiert, schwächt er Kants Position von Beginn an. Zumindest mit Blick auf die Kantforschung erscheint Rawls‘ Erbe bis zum heutigen Tage zumindest als problematisch – und bestätigt den häufig zitierten Verdacht, die originellsten Denker:innen seien häufig nicht die wohlwollendsten und präzisesten Leser:innen ihrer philosophischen Ahnen.


Jakob Huber ist Postdoc am Forschungsverbund Normative Ordnungen der Goethe Universität Frankfurt. Ab Juni 2021 wird er am Institut für Philosophie der FU Berlin eine von der VW-Stiftung finanzierte Nachwuchsforschergruppe aufbauen, welche die Rolle und Bedeutung der Hoffnung in demokratischen Gesellschaften erforscht.