Ein hegelianischer Rawls
Von Hannes Kuch (Frankfurt a.M.)
Rawls wird meist als Kantianer verstanden, doch steht er auch Hegel nahe, viel näher als gemeinhin angenommen wird. Diese Nähe betrifft nicht nur die Interpretation von Rawls, sie hat deutliche Konsequenzen für die Frage nach Alternativen zum Kapitalismus, die Rawls selbst stellt: Anstelle einer Eigentümerdemokratie befürwortet der hegelianische Rawls viel stärker einen liberalen Sozialismus.
Der Gerechtigkeitssinn: gegeben oder gemacht?
In den letzten Jahren hat sich das Bild eines Gegensatzes von Hegel und Rawls nach und nach durch eine stärkere Einsicht in die Gemeinsamkeiten gewandelt. Ich möchte einen spezifischen Berührungspunkt in den Fokus rücken, der das Herz des Rawls’schen Ansatzes betrifft: den Gerechtigkeitssinn.
Bei der Einigung auf allgemeine Gerechtigkeitsprinzipien, so wird Rawls’ konstruktivistische, idealtheoretische Methode typischerweise verstanden, kann und muss ein perfekter Gerechtigkeitssinn vorausgesetzt werden. Genau hierfür wurde Rawls nicht nur aus einer hegelianischen Warte kritisiert, sondern auch von kommunitaristischen, feministischen und poststrukturalistischen Ansätzen: Rawls würde die gesellschaftliche Eingebundenheit und die sozialen Entstehungskontexte des Subjekts ignorieren; er würde vorschnell ein autonomes, vernünftiges Subjekt mit einem vollständig wirksamen Gerechtigkeitssinn voraussetzen, das der Gesellschaft vorhergehe.
Doch der Gerechtigkeitssinn ist für Rawls wesentlich ein Produkt gerechter Institutionen, nicht einfach deren Voraussetzung, und dies ist eine direkte Erbschaft von Hegels Sozialphilosophie.[1] Eine „vernünftige Konzeption der politischen Gerechtigkeit“ muss, so betont Rawls in Gerechtigkeit als Fairness, dazu „imstande sein, ihren eigenen, sie tragenden und hinreichend starken Gerechtigkeitssinn zu erzeugen.“ (GF, §25.5)
Dass Rawls den Gerechtigkeitssinn ebenso als Voraussetzung wie auch als Resultat behandelt, ist nicht unbedingt zirkulär: Denn im ersten Fall handelt sich um eine hypothetische Annahme, die wir als denkende Wesen prinzipiell treffen und verwenden können. Im zweiten Fall geht es um den realen gesellschaftlichen Formierungsprozess, der vor allem die motivationale Bereitschaft zur Gerechtigkeit betrifft, wie eine genaue Lektüre der Theorie der Gerechtigkeit verdeutlicht – also das „Bedürfnis“ (TdG, 66) nach und sogar die „dauerhafte Disposition“ (TdG, 533) zur Gerechtigkeit.
Institutionen der Bildung zur Gerechtigkeit
Grundsätzlich weicht Rawls bereits an einem frühen Punkt von Kant ab, wie er ausgerechnet in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ unterstreicht: Kant gehe vom Einzelnen und dessen implizitem Moralbewusstsein aus; er scheine zu unterstellen, „dass das Verständnis unserer selbst als vollständig autonom schon durch das Faktum der Vernunft gesetzt sei“ (KK, 132). Dies blende die gesellschaftlichen Voraussetzungen dieses Selbstverständnisses aus. Kant würde unterstellen, so macht Rawls geltend, dass der Ausgang von den Individuen am Ende zu einem umfassenden und kohärenten System an Gerechtigkeitsprinzipien führen könne, wenn nur jedes Individuum sein praktisches Handeln ernsthaft und aufrichtig an den Maßstäben des kategorischen Imperativs orientieren würde (KK, 131).
Rawls betont demgegenüber, er gehe „in nahezu umgekehrter Weise vor” (KK, 131). Das Primat liegt auf den grundlegenden Institutionen, die Individuen kommen an zweiter Stelle. Denn die Institutionen können „entscheidende langfristige soziale Auswirkungen haben und den Charakter und die Ziele der Gesellschaftsmitglieder (Personen, die sie sind und die sie sein wollen) nachhaltig prägen.“ (KK, 112) In der Geschichte der Moralphilosophie hebt Rawls die Hegel’sche Idee hervor, dass die Personen „im System der politischen und sozialen Institutionen, in dem sie leben, verwurzelt“ sind und „von diesem System geprägt“ werden (GM, 425). Das verbindet Rawls direkt mit der Idee der Grundstruktur: „Die Theorie der Gerechtigkeit schließt sich in dieser Hinsicht an Hegel an, wenn sie die Grundstruktur der Gesellschaft als vorrangigen Gegenstand der Gerechtigkeit auffaßt.“ (GM, 472)
Die Aufgabe, die Tugend der Gerechtigkeit zu fördern, schreibt Rawls in erster Linie den politischen Institutionen zu. Diese haben für Rawls ausdrücklich eine Bildungsfunktion – eine Idee, bei der sich er wohl am stärksten auf Hegel stützt (GM, 471-473). Die öffentliche politische Kultur versteht Rawls als eine Erziehungsinstanz: Die Bürger:innen müssen, um sich als freie und gleiche anzuerkennen, von den politischen Institutionen „erzogen und zur Einsicht in diese Auffassung ihrer selbst gebracht werden“ (GF, §16.2).
Neben der Bildung in der politischen Kultur geht es Rawls vor allem auch um die Herausbildung eines wirksamen Gerechtigkeitssinns im Verlauf der moralischen Sozialisation. Dies analysiert Rawls im achten Kapitel der Theorie der Gerechtigkeit, wobei er in seinen späteren Werken explizit an dieser Analyse festhält (GF, §59). Auf Basis der empirischen Moralpsychologie fragt Rawls nach der potenziellen moralischen Sozialisation, nicht unter den faktisch vorfindlichen ungerechten Verhältnisse von heute, sondern unter den Bedingungen, wie sie in einer gerechten Gesellschaft möglich wären.
Rawls unterscheidet drei gesellschaftliche Stufen der moralischen Entwicklung (TdG, §§70-75): Sie führt von der Moralität der Autorität innerhalb der Familie über die Moralität von Assoziationen bis hin zur prinzipiengeleiteten Moralität. Für alle drei Stufen der Entwicklung ist die Idee leitend, dass Menschen zu Gegenseitigkeit neigen: Das Wohlwollen, das ihnen entgegengebracht wird, erwidern sie mit Wohlwollen, die manifeste Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen mit der eigenen Befähigung und Bereitschaft zur Gerechtigkeit.
Nicht nur die Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien, sondern auch die Bildung des Gerechtigkeitssinns analysiert und bewertet Rawls mit Hilfe des Urzustandsverfahrens. Er spaltet das Verfahren daher in zwei Teile auf (GF, §§54-55). In einem ersten Durchlauf unterstellen die Personen einander im Urzustand provisorisch einen vollständig wirksamen Gerechtigkeitssinn, um sich auf Gerechtigkeitsprinzipien zu einigen. Im zweiten Teil sollen die Personen im Urzustand gezielt klären, ob Personen, die in gerechten Gesellschaften aufwachsen und leben, tatsächlich einen Gerechtigkeitssinn entwickeln werden, der stark genug ist, um Egoismus, Überheblichkeit, Machtstreben und andere gerechtigkeitswidrige Motivationen zurückzudrängen. Bildung ist folglich für Rawls (wie für Hegel) der gesamte Subjektivierungseffekt eines guten Institutionengefüges, nicht einfach die Wirkung der kognitiven Einsicht in die richtigen Gerechtigkeitsprinzipien.
Ein zentraler Unterschied zwischen Hegel und Rawls
Rawls’ dreistufiges Modell der moralischen Bildung hat eine bemerkenswerte Nähe zu Hegels Sittlichkeitstheorie, in der die Bildung zur Sittlichkeit von der Familie über die bürgerliche Gesellschaft hin zu einem vernünftigen politischen Gemeinwesen führt. Ein wichtiger Unterschied zwischen Hegel und Rawls liegt jedoch in der zweiten Stufe: Während in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft eine sittliche Transformation der Personen vor allem in solidaritätsstiftenden Vereinigungen der Arbeitswelt (den ‚Korporationen‘) vollzogen wird, bezieht sich Rawls auf das moralische Lernen im Gruppenleben in Schulen und Nachbarschaften sowie in der kurzfristigen Kooperation in Sport und Spiel. Das Berufsleben erwähnt er nur beiläufig an einer einzigen Stelle (TdG, 509).
Rawls ist bezüglich der Prägekraft wirtschaftlicher Institutionen unentschieden: An manchen Stellen betont er, dass das Wirtschaftssystem die Selbstverständnisse der Menschen prägt, es „bestimmt zum Teil“, so Rawls, „was für Menschen sie sein wollen und was für Menschen sie sind.“ (TdG, 292) Hegel schreibt der Wirtschaftsphäre einen zentralen formativen Einfluss auf die Subjektbildung zu: Denn kaum eine andere gesellschaftliche Sphäre beinhaltet derart starke Nötigungen zur Teilnahme und derart umfangreiche zeitliche Ansprüche an die Beteiligung der Gesellschaftsmitglieder.
Bei Rawls sind Arbeitsbeziehungen dagegen in weiten Teilen auf verdächtige Weise abwesend. Es gibt keine Auseinandersetzung mit Vereinigungen wie Gewerkschaften oder mit assoziativen Kontexten wie Arbeitsplätzen oder Unternehmen. Auch dissoziative, konfliktbeladene Institutionen wie die Marktkonkurrenz analysiert Rawls nirgends eingehender.
Trotz der Unterschiede ist die Übereinstimmung von Hegel und Rawls weitreichend: Beide unterstreichen, dass gesellschaftlich schon sehr viel passiert sein muss, damit die Subjekte auf der Ebene der politischen Demokratie dazu fähig und bereit sind, sich mit den Prinzipien der Gerechtigkeit auseinanderzusetzen und sich diese zu eigen zu machen. Die gesellschaftliche Prägung in den vorpolitischen Institutionen kann an dieser Anforderung auf folgenreiche Weise scheitern.
Eigentümerdemokratie oder liberaler Sozialismus?
Anders als Hegel geht Rawls nicht genauer auf die interne, bildungsrelevante Struktur und Praxis des Wirtschaftens ein. Muss das ein Problem sein? Rawls kann geltend machen, dass das von ihm bevorzugte Wirtschaftssystem einer Eigentümerdemokratie zu Resultaten führt, die den Gerechtigkeitssinn zumindest nicht unterwandern, vielleicht sogar fördern.
Eine Eigentümerdemokratie ist ein Marktsystem mit weitgehend egalitären Vermögensstrukturen; sie zielt darauf, Macht und Ungleichheit in den Unternehmen sowie zwischen den unterschiedlichen Einkommensgruppen effektiv zu verschleifen (GF, §§41-42). Rawls betont ausdrücklich, dass der kapitalistische Wohlfahrtstaat überhaupt nicht weit genug reicht, um Gerechtigkeit zu verwirklichen.
Doch Rawls’ Hoffnung auf die positiven Effekte einer Eigentümerdemokratie beruht lediglich auf einer äußerlichen Umstrukturierung der Wirtschaftsinstitutionen. Die Eigentümerdemokratie erreicht eine Verschleifung von Macht und Ungleichheit nur durch die Ausweitung des Konkurrenzkampfes (zwischen den Unternehmen und zwischen den Talentierten). Blinde Marktmechanismen sollen für die richtigen Resultate sorgen. Doch ob anonyme Mechanismen tatsächlich helfen, Ausbeutung, despotische Unternehmensstrukturen und starke Ungleichheiten zu verhindern, ist eine fragwürdige empirische Mutmaßung. Es gibt in einer Eigentümerdemokratie keine garantierten institutionellen Verfahren, die hierzu beitragen könnten, wie etwa demokratische Unternehmensstrukturen. Solidarische Beziehungen werden durch intensivierte Konkurrenz sicherlich nicht gefördert, viel eher eine Einzelkämpfermentalität.
Neben der Eigentümerdemokratie kommt für Rawls grundsätzlich auch ein liberaler Sozialismus in Frage, also ein Marktsystem mit Unternehmen im Belegschaftseigentum (GF, §§41-42). Die Entscheidung zwischen den beiden Wirtschaftssystemen ließ er offen. William Edmundson hat in seiner Studie über den ‚zurückhaltenden Sozialisten‘ Rawls jüngst gezielt die „Bildungsrolle“[2] der Wirtschaft betont, also genau jenen Aspekt, den Rawls von Hegel aufnimmt, aber nicht konsequent zu Ende denkt. Der liberale Sozialismus ermöglicht eine robuste demokratische Deliberation über Macht- und Einkommensunterschiede in den Unternehmen, was den Sinn für Gerechtigkeit stärkt und schärft.
Zwar schränkt der liberale Sozialismus gewisse negative Freiheiten ein, etwa die Wahlfreiheit zur Lohnarbeit in kapitalistischen Unternehmen, und er könnte gegenüber der Eigentümerdemokratie leichte Effizienznachteile haben – das heißt, er tangiert Rawls’ ersten Gerechtigkeitsgrundsatz direkt, das Differenzprinzip des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes indirekt. Doch der liberale Sozialismus fördert den Gerechtigkeitssinn deutlich besser als die Eigentümerdemokratie. Müsste dies nicht auch für Rawls Vorrang gegenüber den Forderungen seiner beiden Gerechtigkeitsgrundsätze haben? Denn der Gerechtigkeitssinn bildet die vorgängige Grundlage für die Bereitschaft zur Einigung auf die Gerechtigkeitsgrundsätze und auch für deren dauerhafte, stabile Geltung.
Hannes Kuch promovierte an der FU Berlin und schließt derzeit sein Habilitationsverfahren an der Goethe-Universität Frankfurt am Main ab. Aktuelle Publikationen: Special Issue „Market Socialism“, Review of Social Economy, 79(3), 2021, hrsg. gemeinsam mit Gottfried Schweiger, und From Marx to Hegel and Back: Capitalism, Critique, and Utopia, London: Bloomsbury, 2020, hrsg. gemeinsam mit Victoria Fareld.
[1] Vgl. zum Folgenden Jeffrey Bercuson, John Rawls and the History of Political Thought, London 2016.
[2] Edmundson, William A., John Rawls: Reticent Socialist, Cambridge 2017, S. 155.