Triage-Gesetz: Hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber vor eine unerfüllbare Aufgabe gestellt?

Von Tim Reiß (Berlin)


Warum das Urteil des Verfassungsgerichts enttäuschend, das Kriterium der Erfolgsaussicht mehrdeutig und die Möglichkeit einer grundgesetzverträglichen nicht-utilitaristischen Begründung weiterhin fraglich ist.

Die mediale und politische Öffentlichkeit hat die Verfassungsgerichtsentscheidung zur Triage weithin als Erfolg der Verfassungsbeschwerde wahrgenommen. Mitunter wurde das Urteil sogar als wegweisend im Kampf gegen eine Benachteiligung von Menschen mit/in Behinderung beim Zugang zu medizinischer Versorgung eingeschätzt und begrüßt. Diese Einschätzung trifft das Urteil allerdings nur oberflächlich. Denn der Beschluss verengt das Diskriminierungsproblem im Zusammenhang mit einer auf Erfolgsaussicht fokussierten Triage, weil er die verfassungsrechtliche und rechtsethische Akzeptabilität des Kriteriums kurzfristiger klinischer Erfolgsprognose einfach voraussetzt (vgl. so auch Huster 2021, Merkel 2022, Walter 2022). Das Kriterium ‚klinischer Erfolgsaussicht‘ hat sich mittlerweile im Diskurs der medizinischen Fachgesellschaften als Priorisierungskriterium fest etabliert. In der verfassungsrechtlichen Diskussion ist seine Kompatibilität mit dem individualrechtlich-deontologischen Verfassungskern des Grundgesetzes jedoch kontrovers. Ich möchte in diesem Beitrag den rechtsethisch-philosophischen Hintergrund dieser Debatte beleuchten: Der normative Individualismus einer grundrechtsgewährleistenden Verfassungsordnung verpflichtet auf den Prüfstein der Denkbarkeit einer kontraktualistischen Normenbegründung. Das heißt, dass Normen und allgemeine Regelungen – jedenfalls dann, wenn sie grundlegende Fragen betreffen – aus der Perspektive jeder einzelnen Person zustimmungsfähig sein müssen. Doch ist eine kontraktualistische Begründung des Erfolgsaussichtskriteriums möglich? Zwei alternative Argumentationsstrategien sollen das angeblich zeigen. Beide sind aber zweifelhaft.  

Verengung der Diskriminierungsproblematik

Der Beschluss erkennt an, dass derzeit die Gefahr besteht, wegen oder aufgrund einer Behinderung bei der Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt zu werden – und verpflichtet den Gesetzgeber dazu, hinreichende Vorkehrungen zu treffen, um dieser Gefahr zu begegnen. Aber welche Diskriminierungsformen nimmt der Beschluss in den Blick? Vorweg: Völlig unstrittig ist, dass es eine unzulässige Diskriminierung darstellte, würden behinderte Menschen absichtlich und allein aufgrund ihrer Behinderung in der Zuteilung knapper Behandlungsressourcen benachteiligt. Es gibt darüber hinaus aber – worauf die Kläger*innen verwiesen haben – die Gefahr einer weniger offenkundigen Diskriminierung, die mit dem nur scheinbar ‚neutralen‘ Kriterium der Erfolgsaussicht verbunden ist. Diese Gefahr thematisiert der Beschluss in drei Hinsichten: (1) Das Kriterium der Erfolgsaussicht wird extensiv ausgelegt und so verstanden, dass darunter nicht nur die unmittelbare Überlebenswahrscheinlichkeit, sondern auch die „längerfristig erwartbare Überlebensdauer“ (Rn 117, 119) fällt. (2) In das Kriterium der Erfolgsaussicht fließt eine Bewertung der prognostizierten Lebensqualität ein. (3) Stereotypisierungen führen dazu, dass Behinderungen pauschal mit Komorbiditäten und schlechteren Erfolgsaussichten in Verbindung gebracht werden (Rn 113, 118), was zu Fehleinschätzungen in bezug auf die Erfolgsaussicht führen kann. Das BVerfG hält aber das Kriterium klinischer Erfolgsaussicht, wenn es allein im Sinn der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit verstanden wird, für verfassungsrechtlich unbedenklich (Rn. 116, 118).

Eine fundamentale Ambivalenz

Das Kriterium der Erfolgsaussicht hat eine unbestreitbare suggestive Plausibilität. Diese beruht jedoch darauf, dass dem Kriterium, auch wenn es in einem engen, auf die unmittelbare Überlebenswahrscheinlichkeit bezogenen Sinn verstanden wird, immer noch eine grundsätzliche Ambivalenz zugrunde liegt. Das Kriterium unmittelbarer Überlebenswahrscheinlichkeit ist nämlich insoweit unstrittig, als es in einem absoluten Sinn verstanden wird, d.h. als ein Schwellenwert: „Besteht überhaupt irgendeine Erfolgsaussicht bzw. Überlebenswahrscheinlichkeit?“ Hier geht es allein um die Frage nach dem Bestehen oder dem Wegfall einer allein auf den individuellen Fall bezogenen Indikation. Zumindest wenn man ‚hinreichende‘ Erfolgsaussicht hier in einem ganz engen Sinn versteht – der Erfolg darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein –, besteht darüber kein Streit. Die Problematik der Triage im engeren Sinn beginnt überhaupt erst, wenn eine Auswahl oder Behandlungsreihenfolge in einer Gruppe von Patient*innen gebildet werden soll, bei denen gleichermaßen eine Indikation weiterhin besteht (und deren ggf. mutmaßlicher Wille weiterhin auf Behandlung lautet).

Das Kriterium unmittelbarer Überlebenswahrscheinlichkeit lässt sich auch in einem komparativen Sinn verstehen: „Wie groß ist die Überlebenswahrscheinlichkeit bei Patientin A im Vergleich zu Patientin B?“ Der Beschluss ist hier an einer zentralen Stelle sprachlich nicht ganz eindeutig: „Die Aussicht, die akute Erkrankung zu überleben, ist ein als solches zulässiges Auswahlkriterium für die Verteilung knapper Behandlungsressourcen.“ (Rn 116) Diese Formulierung („Aussicht […] zu überleben“) ließe sich für sich genommen noch im Sinne der unstrittigen Behauptung verstehen, es sei ein zulässiges Auswahlkriterium, dass im individuellen Fall überhaupt irgendeine Aussicht bestehe, die akute Erkrankung zu überleben. Der Zusammenhang macht aber klar, dass die viel weitergehende Behauptung impliziert ist: Die höhere Aussicht von Patientin B im Vergleich zu Patientin A, die Erkrankung bei einer Behandlung zu überleben, ist ein zulässiges Auswahlkriterium. Dass diese Behauptung nun alles andere als trivial ist, springt noch viel mehr ins Auge, wenn man es umgekehrt formuliert: Die geringere Aussicht von Patientin A im Vergleich zu Patientin B rechtfertigt die Nicht-Aufnahme (oder gar den Abbruch) einer weiterhin indizierten Behandlung mit dem Ziel der Lebensrettung.

Komparative Erfolgsaussicht und Maximierungsgebot

Für diese weitergehende Annahme findet sich im Beschluss keine Begründung. Das ist bemerkenswert, weil sie in der verfassungsrechtlichen und auch moralphilosophischen Diskussion alles andere als unumstritten ist (vgl. Huster 2021). Es gibt zwar eine Möglichkeit, dass Kriterium komparativer Erfolgsaussicht sehr plausibel zu begründen – und zwar durch den Rückgriff auf ein Maximierungsgebot: „Maximiere die Anzahl Überlebender!“ Wenn der Maximierungsimperativ gültig ist, dann ist es folgerichtig, ja zwingend, nach komparativer Erfolgsaussicht zu priorisieren, denn eine Priorisierung nach komparativer Erfolgsaussicht maximiert die Anzahl Überlebender. Der Status und die Begründbarkeit des Maximierungsimperativs selbst ist allerdings aus mehreren Gründen hochkontrovers. Zum einen: Wenn der Maximierungsimperativ tatsächlich uneingeschränkt gelten sollte, dann müsste nicht nur nach komparativer Erfolgsaussicht, sondern ebenso nach komparativer Ressourcenintensität der Behandlung priorisiert werden (vgl. Lübbe 2020a, 436; Walter 2020, 660, 663, 666). Auch spräche eine uneingeschränkte Geltung für die Zulässigkeit bzw. sogar für die Gebotenheit einer Verlaufstriage, denn auch diese maximierte ggf. die Anzahl Überlebender. Wenn man umgekehrt gute Gründe hat – und ich denke, dass es sie gibt –, die es verbieten, eine Auswahl von Patient*innen auf die relative Ressourcenintensität ihrer Behandlung zu stützen, und die es ausschließen, dass eine bereits aufgenommene lebenserhaltende Behandlung zugunsten eines Dritten abgebrochen wird, dann kann das Maximierungsgebot jedenfalls nicht ohne Einschränkung gültig sein.

Zum anderen: Der Maximierungsimperativ – das ist unstrittig – ist vor dem Hintergrund einer utilitaristischen Ethik plausibel, die auf die Optimierung eines über Personengrenzen hinweg aggregierten Gesamtnutzens verpflichtet. Allerdings spricht alles dagegen, dass eine solche unmittelbar utilitaristische Begründung mit dem deontologischen Verfassungskern des Grundgesetzes vereinbar ist, das auf die unbedingte Achtung der Rechte einzelner und nicht auf die Steigerung der Wohlfahrt oder der Nutzensumme eines Kollektivs verpflichtet. Einzelne Personen dürfen nicht zugunsten anderer – und auch nicht zugunsten vieler anderer – instrumentalisiert werden. Nennen wir dies Inkompatibilitätsthese (IT): Eine unmittelbar utilitaristische Begründung von Triagekriterien ist mit dem normativen Individualismus einer grundrechtsgewährleistenden Rechtsordnung (Fateh-Moghadam/Gutmann 2020; Zimmermann 2021, 224) und dem egalitären Individualismus einer universalistischen Vernunftmoral unverträglich.

Die Attraktivität des Kontraktualismus

An dieser Stelle werde ich die Inkompatibilitätsthese selbst nicht weiter begründen, aber zumindest auf die zentrale Intuition hinweisen, die ihr zugrunde liegt. Der entscheidende Einwand gegen den Utilitarismus lautet, dass dieser – so hat es John Rawls ausgedrückt – die „Verschiedenheit der einzelnen Menschen“ (Rawls 1979, 45) nicht ernst nimmt. Wenn der Utilitarismus fordert, dass Vorteile, die bei einer Person(engruppe) anfallen, gegenüber den Nachteilen aufgerechnet werden sollten, die eine andere Person(engruppe) erleiden muss, fällt er in eine Art metaphysischen Kollektivismus zurück: Eine Gesamtheit (Gesellschaft, Gesamtpopulation) wird zu einem Kollektivsubjekt hypostasiert. Entgegen seinem oftmals rationalistischen Selbstverständnis ist der Utilitarismus in dieser Hinsicht eher eine vormoderne Ethik.

Hier zeigt sich nun die grundsätzliche Attraktivität eines kontraktualistischen Modells der Normenbegründung (vgl. Zimmermann 2022). Unter Kontraktualismus sei hier ein übergreifendes, moralphilosophisches und rechtsethisches Paradigma verstanden, das die unbedingte Verpflichtung auf die Achtung der Würde individueller Personen in die Vorgabe übersetzt, dass legitime Regeln als Vereinbarungen darstellbar sein müssen, die zwischen Individuen ausgehandelt werden und aus der Perspektive jeder einzelnen zustimmungsfähig sind. Die Denkbarkeit einer kontraktualistischen Begründung kann als eine Art Lackmustest fungieren, die den Rückgriff auf unmittelbar utilitaristische Denkfiguren (Steigerung des Kollektivwohls) sperrt. Der Begriff der individuellen Zustimmungsfähigkeit darf dabei weder in einem zu engen noch einem zu weiten Sinn verstanden werden: Denn auf der einen Seite darf das kontraktualistische Paradigma keinesfalls mit jenem strategischen Kontraktualismus gleichgesetzt werden, der die Zustimmungsfähigkeit daran bindet, dass die Geltung der vorgeschlagenen Norm oder Regel im aufgeklärten Eigeninteresse der Zustimmenden liegt. Auf der anderen Seite darf der Begriff der individuellen Zustimmungsfähigkeit auch nicht bloß formal verstanden werden, in dem Sinn, dass es einen bereits unabhängig bestehenden Grund gibt, aus dem sich die Zustimmungsfähigkeit ergibt (vgl. Nagel 1987); ein solch bloß formaler Kontraktualismus wäre nämlich mit jeder denkbaren ethischen Theorie verträglich (bspw.: „Weil der Utilitarismus wahr ist, ist eine utilitaristisch begründete Norm zustimmungsfähig.“). Ohne dies an dieser Stelle näher ausführen zu können: Das Kriterium der Zustimmungsfähigkeit muss sich in einem normativen Begriff individueller Zumutbarkeit materialisieren. Normen und Regeln müssen aus der Perspektive von Individuen rechtfertigbar sein, gleichwohl dies nicht zwingend die Perspektive rationaler Egoist*innen sein muss (hierzu grundlegend: Nagel 1991 und Scanlon 1998).

Lässt sich das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht kontraktualistisch begründen? Zwei Umgehungstrategien

Nun ist – akzeptiert man die Unzulässigkeit einer unmittelbar utilitaristischen Begründung –  die Diskussion um das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht noch nicht beendet. Mich interessieren im folgenden die Versuche, das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht unter Akzeptanz der Inkompatibilitätsthese zu verteidigen.  Ich werde zwei unterschiedliche argumentative Strategien einer kontraktualistischen Begründung ansprechen, die mir allerdings im Ergebnis beide nicht überzeugend scheinen. Die erste Strategie besteht darin, zu zeigen, dass der Maximierungsimperativ einer kontraktualistischen Begründung zugänglich ist. Die zweite Strategie besteht darin zu zeigen, dass sich das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht direkt, das heißt ohne den Umweg der Rückführung auf ein Maximierungsgebot, kontraktualistisch begründen lässt.

Der ersten Argumentationsstrategie zufolge kann gezeigt werden, dass das Handeln nach dem Maximierungsgebot in bestimmten Situationen im Interesse einer jeden einzelnen Person und deshalb aus der Perspektive einer jeden zustimmungsfähig ist. Das utilitaristische Gesamtnutzenoptimierungsprinzip wird kontraktualistisch unterfangen: Die Maximierung eines Gesamtnutzens ist in Situationen vom Typ x (zu denen die Situation der Triage gezählt wird) im Interesse einer jeden einzelnen Person und damit allgemein zustimmungsfähig. Typischerweise wird in diesem Zusammenhang die Figur eines ex ante-Konsenses bemüht: Das Handeln nach dem Maximierungsimperativ sei ex ante im Interesse einer jeden, weil diese Regel die Überlebenswahrscheinlichkeit jeder einzelnen (im Sinne ihres Erwartungsnutzens) steigert. – Gegen diese Argumentationsstrategie lassen sich im Hinblick auf die Triage allerdings folgende Einwände formulieren: (a) Die interindividuelle Risikoverteilung darf zum Zeitpunkt der Konsentierung der Maximierungsregel nicht bekannt sein (Lübbe 2002, 110f.). Die Übereinkunft muss hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ (John Rawls) stattfinden. Es ist eine alles andere als triviale Frage, für welchen Zeitpunkt man diesen hypothetischen Konsens annimmt. Zudem: Besteht hier nicht ein entscheidender Unterschied zwischen einer Triage in einer situativen „Katastrophenlage“ und einer Triage in pandemiebedingter struktureller „Knappheitslage“ (Lübbe 2020)? Im Fall von Covid-19 steht nämlich die Erfolgsaussicht in einem regelmäßigen Zusammenhang mit Art und Schwere bekannter Vorerkrankungen. Demgegenüber ist die Risikoverteilung – beispielsweise bei einem Erdbeben oder einem Bombenanschlag – sehr viel gestreuter; in der Regel korreliert hier die Wahrscheinlichkeit, zur Gruppe der Schwergetroffenen mit niedrigerer Erfolgsaussicht zu gehören, nicht direkt mit bekannten Vorerkrankungen. Die katastrophenmedizinische Triage ist deshalb womöglich ein irreführendes Paradigma zur Diskussion der Triage bei einer pandemiebedingten Überlastung der Intensivstationen (vgl. Walter 2022, 364). (b) Freilich kommt für die Möglichkeit einer kontraktualistischen Unterfangung utilitaristischer Prinzipien alles darauf an, diejenigen Situationstypen hinreichend einzugrenzen, in denen ein Handeln nach einem Optimierungsgebot im Interesse jeder einzelnen Person liegt: Wer behauptete, Handeln nach einem Optimierungsgebot sei stets im Interesse einer jeden, verträte eine bloß oberflächlich kontraktualistisch maskierte utilitaristische Ethik. Und hier ist grundsätzlich fraglich, ob die Maximierung des Erwartungsnutzens im Hinblick auf die Triage-Situation tatsächlich hinreichend für individuelle Zustimmungsfähigkeit hinreichend ist. Denn die Maximierung des Erwartungsnutzens ist – so der berühmte Einwand, den Rawls formuliert hat – keine rationale Strategie, wenn existentielle Interessen berührt sind (Rawls 1979, 179-180; vgl. Freeman 2007, 168-179). In solchen Situationen gilt vielmehr die zur Erhöhung des Erwartungsnutzens alternative Maximin-Regel (Maximiere das Minimum!). Was nun die Triage angeht, so lässt sich durch die Maximin-Regel hinter dem Schleier des Nichtwissens zwar sehr plausibel ein Konsens über eine Priorisierung nach schadensbezogener Dringlichkeit begründen, aber nicht über die Maximierungsregel (Zimmermann 2021, 226-228, 239-240; vgl. auch Reiß 2019; anders Winslow 1982, 140-143 und 151).  

Im Angesicht dieser Schwierigkeiten wäre es argumentativ elegant, wenn sich zeigen ließe, dass sich das Kriterium der komparativen Erfolgsaussicht unmittelbar kontraktualistisch begründen lässt, ohne den ‚Umweg‘ über eine kontraktualistische Begründung des Maximierungsimperativs. Eine solche Strategie wählt Adriano Mannino (Mannino 2021). Sein Ansatz ist innovativ und hochinteressant, weil er einerseits an den aus deontologischer Perspektive vorgebrachten Einwänden gegen den Utilitarismus festhält, und gleichwohl das Kriterium der komparativen Erfolgsaussicht – mehr noch: sogar das Kriterium der Anzahl verbleibender Lebensjahre (prognostizierte längerfristige Überlebensdauer / Restlebenszeit) – für begründbar hält. Die Kriterien der komparativen Erfolgsaussicht (und der Anzahl verbleibender Lebensjahre) ließen sich nämlich begründen, ohne irgendwo auf eine Maximierungsregel, auch nicht im Sinne eines ex ante-Konsenses, zurückgreifen zu müssen, nämlich ausschließlich durch den jeweils paarweise durchgeführten – Vergleich der Stärke der individuellen Ansprüche auf Behandlung.

Der paarweise Vergleich der Ansprüche innerhalb einer Personengruppe ist deshalb entscheidend, weil er der oder dem innerhalb dieser Gruppe Schlechtestgestellten ein Vetorecht sichert. Damit ist die utilitaristische Verrechnung großer Nachteile bei wenigen Personen mit den kleinen Vorteilen vieler Personen ausgeschlossen. Die Verpflichtung auf den jeweils paarweisen Vergleich der Stärke der Ansprüche der einzelnen Individuen sperrt den Rückgriff auf ein utilitaristisches Prinzip der Optimierung eines Kollektivnutzens. Zustimmungsfähig, weil zumutbar ist eine Regel im Grundsatz dann, wenn es keine alternative Regelung gibt, die nicht dazu führt, dass ein anderes Individuum schlechter gestellt würde als das schlechtestgestellte Individuum unter der vorgeschlagenen Regel. Mit Hilfe der Figur des paarweisen Vergleichs lässt sich beispielsweise das unstrittige Priorisierungskriterium schadensbezogener Dringlichkeit (Schadenshöhe bei Nichtbehandlung) rechtfertigen: Die Behandlung einer Herzinfarktpatient*in hat Vorrang vor derjenigen mit Kopfschmerzen.   

Durch einen paarweisen Vergleich der individuellen Schadenshöhe lässt sich Mannino zufolge nun aber auch – was bisher übersehen worden sei – das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht, ja sogar das Kriterium der erwarteten Restlebenszeit rechtfertigen. Auch hier stelle sich beim paarweisen Vergleich genauso die Frage: Für welche Person steht mehr auf dem Spiel? Mannino zufolge steht für die Patient*in mit höherer Erfolgsaussicht mehr auf dem Spiel als für die Patient*in mit geringerer Erfolgsaussicht, genauso wie für eine jüngere Patientin mit höherer Anzahl verbleibender Lebensjahre mehr auf dem Spiel stehe als für eine ältere Patientin. Genauer: Mannino zufolge erlitte eine Patient*in, deren Überlebenschancen durch eine Behandlung massiv gesteigert werden könnte, bei Nichtbehandlung einen größeren Schaden als eine Patientin, deren Überlebenschancen durch ihre Behandlung nur gering gesteigert werden könnten.

Wenn sich tatsächlich die Annahme verteidigen lässt, dass eine Patient*in mit höherer Erfolgsaussicht durch Nichtbehandlung einen höheren Schaden erleidet, dann ließe sich das Kriterium der komparativen Erfolgsaussicht tatsächlich mithilfe des Vergleichs der Stärke individueller Ansprüche und damit kontraktualistisch rechtfertigen –  und die Diskussion um die Maximierungsregel wäre überflüssig. Aber genau diese entscheidende Annahme überzeugt nicht. Aus folgendem Grund: Mannino macht die Schadenshöhe hier nicht, wie beim Kriterium schadensbezogener Dringlichkeit, von der Schadenshöhe abhängig, die bei Nichtbehandlung droht – denn diese ist im Falle lebensbedrohlich erkrankter Pateint*innen identisch –, sondern von der bei Nichtbehandlung entgangenen Reduktion der Schadenshöhe. Wenn zwei Patientinnen dieselbe initiale Überlebenswahrscheinlichkeit ohne Behandlung besitzen, dann ist, Mannino zufolge, die Schadenshöhe bei derjenigen Person höher, die durch Behandlung den größeren Zuwachs an Überlebenswahrscheinlichkeit hätte gewinnen können. (Mannino 2021, S. 38, S. 50). Diejenige Person sei damit bedürftiger, der durch Nichtbehandlung ein höherer Nutzen vorenthalten würde (vgl. Mannino 2021, S. 43f.).

Durch diesen Zug wird aber in die Bestimmung der drohenden Schadenshöhe und damit der Bedürftigkeit der komparative Nutzen der Behandlung eingeschmuggelt. Das bedeutet, dass ein eigentlich utilitaristisches Kriterium („Wer profitiert mehr von der Behandlung?“) – hinter einem vorgeblich nicht-utilitaristischen Kriterium („Wer ist bedürftiger?“) versteckt eingeführt wird. Die erwartbare Nutzenhöhe bzw. ihre Eintrittswahrscheinlichkeit wird einfach zu einem Bestandteil der Bedürftigkeit umdefiniert.

Nun ist es zwar tatsächlich so, dass auch im Fall des unstrittigen Kriteriums schadensbezogener Dringlichkeit ein paarweiser Vergleich der Schadenshöhe und in diesem Sinn ein interpersoneller Vergleich stattfindet (etwa Verlust des Lebens vs. Kopfschmerzen). Der Unterschied ist: Hier findet ein Vergleich der Schadenshöhe (und/oder Eintrittswahrscheinlichkeit) bei Nichtbehandlung statt. Wenn dagegen auf die relative Minderung der Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens oder seiner Höhe durch Behandlung abgestellt wird, manifestiert sich die komparative Effektivität einer Behandlung unmittelbar in einer unterschiedlichen Stärke individueller Ansprüche. Wenn überhaupt, dann ließe sich durch paarweisen Vergleich eine Priorisierung derjenigen Patient*innen rechtfertigen, die bei Nichtbehandlung eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit besitzen (vgl. Walter 2020, 670). Das Kriterium komparativer Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit durch Behandlung lässt sich durch paarweisen Vergleich nicht begründen, wenn nicht jene utilitaristische Prämisse bereits vorausgesetzt wird, die gerade strittig ist.    

Eine unmögliche Aufgabe?

Damit zeigt sich im Ergebnis, dass beide Strategien, das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht kontraktualistisch zu begründen, nicht überzeugen. Womöglich lässt es sich also doch nicht ohne eine starke utilitaristische Prämisse begründen. Unter Annahme der Gültigkeit der Inkompatibilitätsthese folgte daraus, dass das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht nicht als ein Kriterium der Auswahl unter gleichermaßen einer lebensrettenden Behandlung bedürftigen Patient*innen gelten kann, „das den inhaltlichen Anforderungen der Verfassung genügt“ (Rn. 128). Es könnte sein, dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber, als es ihm auftrug, der Gefahr der Diskriminierung behinderter Menschen wirksam vorzubeugen und zugleich die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit des Erfolgsaussichtskriteriums vorgab, vor eine unerfüllbare Aufgabe gestellt hat.


Literatur

Fateh-Moghadam, Bijan / Gutmann, Thomas: „Gleichheit vor der Triage. Rechtliche Rahmenbedingungen der Priorisierung von COVID-19-Patienten in der Intensivmedizin“. Verfassungsblog 30.4.2020. https://verfassungsblog.de/gleichheit-vor-der-triage/

Freeman, Samuel (2007): Rawls. London u. New York.

Huster, Stefan (2021): „Much Ado about Nothing. Die Triage-Entscheidung des BVerfG ist eine einzige Enttäuschung“. Verfassungsblog 29.12.2021. https://verfassungsblog.de/much-ado-about-nothing/

Lübbe, Weyma (2002): „Rationing – Basic Philosophical Principles and the Practice“, in: Breyer, Friedrich / Kliemt, Hartmut / Thiele, Felix (Hrsg.): Rationing in Medicine. Ethical, Legal and Practical Aspects. Berlin u.a., S. 105–117.

Lübbe, Weyma (2020): „Orientierung in der Corona-Krise? Nicht mit Doppelbotschaften“, in: Medizinrecht 38, S. 434–439.

Mannino, Adriano (2021): Wen rette ich – und wenn ja, wie viele? Über Triage und Verteilungsgerechtigkeit. Stuttgart: Reclam.

Merkel, Reinhard (2022): „Die Triage-Entscheidung hilft Behinderten nicht“, FAZ 12.1.2022.

Nagel, Thomas (1987): Moral Conflict and Political Legitimacy, in: Philosophy & Public Affairs 16 (1987), 215-240.

Nagel, Thomas (1991): Equality and Partiality. New York u.a.

Rawls, John (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/75). Frankfurt a. M.

Reiß, Tim (2019): „Erfolgsaussicht, Maximierungsimperativ, Utilitarismus. Anmerkungen zur Debatte um eine ‚Corona-Triage‘“, in: EthikJournal 6 (2020), frei verfügbar unter: https://www.ethikjournal.de/fileadmin/user_upload/ethikjournal/Texte_Ausgabe_10_2020/Final_Reiss_Corona_Triage.pdfb

Scanlon, T. M. (1998): What We Owe to Each Other. Cambridge, Mass. und London.

Walter, Tonio (2020): „Menschlichkeit oder Darwinismus? Zu Triage-Regeln und ihren Gründen“, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (167), 656-677.

Walter, Tonio 2022: „Keine Verpflichtung zu einem Triage-Gesetz und kaum Vorgaben dafür“, NJW 2022, 363-366.

Winslow, Gerald R. (1982): Triage and Justice. Berkley, Los Angeles, London.

Zimmermann, Till (2021), „Kontraktualistische Überlegungen: Auf welche Zuteilungskriterien würden wir uns unter dem „Schleier des Nichtwissens“ einigen?“, in: Hörnle, Tatjana / Huster, Stefan / Poscher, Ralf (Hrsg.): Triage in der Pandemie. Tübingen, S. 221-255.


Tim Reiß ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und dort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für christliche Ethik und Politik (ICEP).

In seiner Buchveröffentlichung “Diskurstheorie der Demokratie und Religion” (2019) beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit bei Rawls, Böckenförde und vor allem Habermas.

Letzte Veröffentlichungen:

– „Erfolgsaussicht, Maximierungsimperativ, Utilitarismus. Anmerkungen zur Debatte um eine ‚Corona-Triage‘“, in: EthikJournal 6 (2020)

– „Lässt sich Carl Schmitts Verfassungsverständnis entnazifizieren? Oder: Carl Schmitts doppeldeutiger Begriff des ‚bürgerlichen Rechtsstaats‘“, in: Leviathan 47 (2019), H. 4, S. 474-497.