Der Krieg in der Ukraine und die Europäische Sicherheitspolitik – Eine Zeitenwende? Ein Diskussionsvorschlag in drei Fragen
Von Pascal Delhom (Flensburg)
Der russische Einmarsch in die Ukraine wird vielfach von politischen Akteur*innen und im öffentlichen Diskurs in Europa als „Zeitenwende“ beschrieben. Es sei Zeit, alte Denkmuster zu überprüfen und sich der Realität einer Bedrohung zu stellen, die von vielen nicht ernst genug genommen worden ist. Dies ist sicher richtig. Doch lässt diese Zeitenwende viele Fragen offen.
1.
Eine dieser Fragen findet sehr wenig Beachtung, wahrscheinlich weil alle die Antwort darauf für selbstverständlich halten: Was ist neu – und was ist für Europa neu – bei diesem Krieg? Was ist sogar so neu, dass es eine Zeitwende erklären und rechtfertigen kann?
Was radikal neu ist, ist nicht bloß die Tatsache, dass es Krieg in Europa gibt. Es gab bereits Krieg auf dem Balkan, mit Beteiligung mehrerer Europäischer Länder und der NATO als Institution. Dieser Krieg hat zwar zu radikalen Veränderungen von Positionen geführt, in Deutschland etwa über militärische Einsätze im Ausland, nicht jedoch zu einer europäischen Zeitwende.
Auch die Brutalität des russischen Angriffs ist nicht neu. Sie wurde von vielen Menschen in Tschetschenien, in Georgien, und bei der russischen Unterstützung für das Assad-Regime in Syrien erfahren. Keine dieser Ereignisse hat in Europa zu einer Zeitwende geführt.
Und auch die Beteiligung der NATO oder von Mitgliedern der NATO und der Europäischen Union an Kriegen ist nicht neu. Neben den NATO-Angriffen gegen Serbien und Afghanistan sind die Kriege in Irak, in Somalia, in Libyen, die militärische Intervention in Mali, bis hin zum jetzigen Krieg der Türkei gegen kurdische Gebiete in Nord-Syrien zu nennen. Keiner dieser Kriege hat zu einer Zeitwende geführt.
Was wirklich neu ist, ist die Tatsache, dass zum ersten Mal seit dem Ende des kalten Kriegs Europa an einem Krieg beteiligt ist oder von ihm betroffen wird, ohne dass dieser Krieg von der NATO oder von Mitgliedern der NATO oder der Europäischen Union ausgeht und außerhalb ihres Territoriums gefochten wird. Europa und europäische Länder erfahren sich also zum ersten Mal seit Jahrzehnten in der Position des Angegriffenen und unmittelbar Bedrohten. Dies geschieht in einer Zeit, in der die Sicherheitsgarantie, die Europa von den USA erwartet, bröckelt. Im Herbst könnten die Trump-Republikaner wieder eine Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments bekommen und die USA wieder zu einem radikal unzuverlässigen Partner werden. Eine solche Erfahrung der Verletzlichkeit Europas hatte Paul Valéry bereits am Ende des ersten Weltkrieges thematisiert. Sie ist aber für Europa seit dem Ende des kalten Krieges neu.
Sie ist vergleichbar mit der Erfahrung der Vereinigten Staaten am 11. September 2001. Damals haben die USA nämlich die traumatische Erfahrung gemacht, dass sie selbst angreifbar und verletzlich waren. Und das hat zu einer Zeitwende ihrer Politik geführt. Eine ähnliche Erfahrung macht Europa jetzt. Und dies ist es, was auch hier zu einer Zeitwende führt. Die Reaktion der USA war die Auslösung eines Krieges gegen Terrorismus mit verheerenden Konsequenzen in vielen Ländern und Regionen der Welt. Einiges spricht dafür, dass die Reaktion Europas – und der NATO – zwar nicht in einem direkten Krieg gegen Russland bestehen wird. Sie besteht aber eindeutig in einem neuen Willen zur Aufrüstung und zur Konfrontation. Die Frage ist, wohin das führt und ob es andere Optionen gibt.
2.
Der Ausgangspunkt der Europäischen Reaktion auf den Krieg in der Ukraine ist die Feststellung des Scheiterns seiner bisherigen Sicherheitspolitik angesichts der Gefahr, die Russland darstellt, und die vielleicht, sollte der Angriff Russlands erfolgreich sein, auch bei anderen Großmächten Schule machen könnte, etwa für China in Bezug auf Taiwan. Der Glaube, wirtschaftliche Kooperation und gegenseitige Abhängigkeit, gebunden mit einer Sicherheitsgarantie durch die USA, würde Frieden und Sicherheit in Europa garantieren, hat sich als falsch erwiesen.
Doch heißt das, dass Aufrüstung und Abschreckung, bis hin zu einer Rückkehr zum fragilen und bedrohlichen Gleichgewicht des kalten Krieges, die (einzige) Lösung ist? Die spezifische Erfahrung Europas sowohl nach dem zweiten Weltkrieg wie auch am Ende des kalten Krieges spricht eine andere Sprache. Was Europa von der nicht endenden Spirale von Kriegen im späten neunzehnten und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts befreit hat, ist der Wille zu einer nicht nur wirtschaftlichen, sondern politischen und institutionellen Zusammenarbeit zwischen Staaten. Dieser Wille führte nicht nur zur Schließung von Verträgen, denn die besten Verträge und Abkommen haben keine Wirkkraft, wenn sie nicht institutionell verankert werden. Das betonen alle Schriften zum Frieden in Europa seit Anfang der Moderne, von William Penn im späten 17. Jahrhundert über Saint-Pierre und Rousseau bis zu Kant. Durch politische Kooperation und institutionelle Einbindung der Staaten ist es Europa gelungen, trotz aller berechtigter Kritik gegen seine koloniale Politik und seine territoriale Abgrenzung, Frieden und Sicherheit im Inneren zu garantieren.
Eine Sicherheitspolitik der Kooperation wurde auch seit der ersten Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1973 zwischen West-Europa, unter Einbindung der Vereinigten Staaten und Kanadas, und den Ländern Ost-Europas bis zur Sowjetunion geführt. Als Institution der Kooperation spielte die KSZE in so wesentlichen Bereichen der Sicherheitspolitik wie der nuklearen Abrüstung und der – bis auf Rumänien – gewaltlosen Wende und Demokratisierung des halben europäischen Kontinents ab 1989 eine entscheidende Rolle. Diese Politik der Kooperation war erfolgreich.
Europa hat sich aber seit der Mitte der 90er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts – aus vielen, zum Teil nachvollziehbaren Gründen – für eine andere Sicherheitspolitik entschieden, nämlich für eine Politik der Abschreckung, verankert in einer anderen Institution, der NATO. Den Appellen Gorbatschows, eine gemeinsame Sicherheitspolitik der Kooperation im gemeinsamen Haus Europa mit der KSZE als tragender Institution zu bilden, wurden zwar weitgehend in der Pariser Charta von 1990 entsprochen. Diese Sicherheitspolitik wurde aber nach dem Verfall der Sowjetunion nicht fortgeführt.
Zugleich hat Europa seine Sicherheitspolitik der Abschreckung nicht konsequent durchgeführt. Diese hätte nämlich logischerweise mit Aufrüstung begleitet werden müssen (Stichwort zwei Prozent des BIP) und mit einer Veränderung des europäischen Diskurses über die eigene Haltung gegenüber Mächten, die nicht zur NATO gehören. Die verbreitete Vorstellung, dass mit der NATO weiterhin eine Kooperation mit Russland stattfinden konnte, etwa im NATO-Russland-Vertrag, war trügerisch. Eine Sicherheitspolitik der Kooperation mit einer Institution der Abschreckung führen zu wollen, ist strukturell genauso widersinnig, wie einen Kuchen mit einer Pistole schneiden zu wollen. Man nehme lieber ein Messer. Die Abschreckungspolitik der NATO muss nämlich, um überhaupt wirksam zu sein, glaubhaft machen, dass sie fähig und willens ist, Feinden Schäden zuzufügen, die alle Vorteile eines Angriffs vernichten würden. Sie muss also konstitutiv als potenzielle Bedrohung wahrgenommen werden. Eine solche Bereitschaft und Fähigkeit haben die NATO bzw. NATO-Mitglieder in vielen Angriffskriegen der letzten Jahrzehnte, alle außerhalb des NATO-Gebiets, erfolgreich dokumentiert.
Was die Abschreckungspolitik Europas seit 25 Jahren offensichtlich nicht gesehen hat und z.T. nicht sehen wollte, ist allerdings erstens, dass sie natürlich aus der Außenperspektive als Bedrohung wahrgenommen wird und strukturell werden muss, und zweitens, dass es eine reale und wachsende Bedrohung gibt, die von Russland ausgeht, und zwar zum Teil aus eigenen Machtbestrebungen Russlands, die nicht zu leugnen sind, und zum Teil als Reaktion auf die Möglichkeit der Ausdehnung der NATO bis zu den eigenen Grenzen. Auf diese Möglichkeit reagiert nämlich Russland präventiv mit aller Brutalität. Das geschah in Georgien. Das geschieht in der Ukraine. Und wir sollten die Drohung Putins, dass auch eine angestrebte Mitgliedschaft Finnlands zur NATO Konsequenzen haben würde, sehr ernst nehmen. Er war in dieser Hinsicht seit fast zwanzig Jahren sehr kohärent in seinen Worten und in seinen Taten.
Was also gescheitert ist, ist nicht eine europäische Sicherheitspolitik der Kooperation. Diese war, solange sie bestand, bemerkenswert erfolgreich. Sie garantiert weiterhin den Europäischen Binnenfrieden. Sie wird aber gegenüber Russland de facto seit 25 Jahren nicht mehr geführt und die Nachfolgeorganisation der KSZE, die OSZE, ist in Bezug auf die internationale Sicherheitspolitik in die Bedeutungslosigkeit gesunken. Was gescheitert ist, ist eine in vielerlei Hinsicht inkonsequente Sicherheitspolitik der Abschreckung, gekoppelt mit der blauäugigen Annahme, wirtschaftliche Kooperation allein würde Frieden und Sicherheit garantieren können. Die Frage, die auf der Basis dieser Feststellung gestellt werden sollte, ist, welche Sicherheitspolitik Europa langfristig führen will. Auch hier sollten alte Denkmuster überprüft werden.
Dass wir Europäer*innen sehr kurzfristig und in der Stunde des Kriegs in der Ukraine für einen Verzicht auf Waffen und Selbstverteidigung plädieren, scheint mir nicht haltbar. Eine friedenskompatible Sicherheitspolitik, die auf Gewalt verzichtet, ist eine Form des politischen Handelns, die nur für sich selbst reklamiert werden kann und keinem Anderen aufgezwungen werden darf. Und sie ist eine langfristige Option, die durch eine Politik des langen Atems realisiert werden muss und die sich nicht nur für einen Waffenverzicht entscheiden sollte, sondern sich die Mittel dieses Waffenverzichts (durch internationale Kooperation, aber auch etwa in der Form der Organisation eines koordinierten passiven Widerstands) geben muss. Wie wir alle gesehen haben, kann dies durch keinen diplomatischen Aktivismus der letzten Minute ersetzt werden, wenn die ganze Ausrichtung der (Un-)Sicherheitspolitik anders verläuft.
3.
Es stellt sich allerdings unweigerlich die weitere Frage, ob es eine annehmbare Option ist, mit dem jetzigen Russland zu verhandeln und eine Sicherheitspolitik der Kooperation anzustreben. Ist es sogar moralisch vertretbar? Auch hier mag ein historischer Rückblick helfen. Denn es scheint illusorisch zu sein, dafür auf einen Machtwechsel in Russland zu warten. Alle militärischen Operationen der letzten Jahrzehnte, die einen solchen Wechsel haben bewirken wollen (in Afghanistan, Irak, Libyen, bei der militärischen Unterstützung oppositioneller – und zum Teil radikal-islamistischen – Gruppen in Syrien), sind kläglich gescheitert, im Übrigen wie fast alle militärischen Operationen derjenigen, die sich „Realisten“ nennen.
Die Bildung Europas folgte zwar auf die militärische Niederlage und Demokratisierung Deutschlands und Italiens. Dass Deutschland allerdings eine überzeugte Demokratie wurde, ist erst allmählich und durch die Kooperation entstanden, nicht als deren Voraussetzung. Erst vierzig Jahre nach Kriegsende konnte ein Bundespräsident sagen, der Sieg der Alliierten sei für Deutschland eine Befreiung und keine Niederlage gewesen. Und auch dann löste dies bei vielen Empörung aus. Dennoch waren die anderen Länder Europas bereit und willig, den Weg dieser politischen Integration zu gehen, auch wenn dies einen Preis haben sollte, sogar einen territorialen Preis wie im Fall des Saarlands für Frankreich.
Auch die KSZE etablierte politische und diplomatische Beziehungen nicht zwischen überzeugten Demokraten, sondern zwischen Mitgliedern von zwei Machtblöcken, die sich gegenseitig mit Atomwaffen bedrohten und entweder totalitär waren, oder eine lange Tradition der Unterstützung totalitärer Regime hegten – dies gilt für die Vereinigten Staaten genauso wie für Europa.
Außerdem ist die Annahme, dass es im jetzigen Krieg auf der einen Seite eine demokratische Wertegemeinschaft gibt, die sich am Völkerrecht hält und die Menschenrechte achtet, und auf der anderen Seite einen autoritären Staat mit systematischer Repression der Freiheit seiner Bürger*innen, ein verzerrtes Bild.
In der Tat gibt es in den meisten Europäischen Ländern eine (lange) demokratische Tradition, die in Russland gänzlich fehlt. Und in der Tat herrscht in Russland ein repressives und autoritäres Regime. In Bezug auf Kriegsführung erinnert allerdings etwa die Informationspolitik der russischen Medien über präzise Angriffe militärisch relevanter Ziele in der Ukraine allzu sehr an die westliche Informationspolitik über eine chirurgische Kriegsführung in Irak, während völkerrechtswidrige Flächenbombardements erfolgten, mindestens 100‘000 Menschen starben, darunter sehr viele Zivilisten, und Folter vielerorts im Krieg eingesetzt wurde. Für den systematischen Einsatz von Folter im Krieg gibt es auch – etwa im Algerienkrieg bis 1962 durch die französische Armee oder im Rahmen des Krieges gegen den Terror seit 2001 – leider eine unbestreitbare westliche Tradition. Dazu kommt, dass die Bedrohung durch die Nukleardoktrin der Vereinigten Staaten, die die Möglichkeit eines Erstschlags auch bei einer Bedrohung durch konventionelle Waffen vorsieht, gegenwärtig und seit zwanzig Jahren nicht geringer ist als die russische.
Darüber hinaus sollte es nicht übersehen werden, dass auch Russland mit Werten argumentiert, die allerdings mit dem westlichen liberalen Lebensstil unvereinbar sind. Die Positionierung der orthodoxen Kirche im Krieg gegen die Ukraine ist in dieser Hinsicht eindeutig. Deswegen sollte eine mögliche Lösung nicht an Werten, sondern an Regeln und Institutionen gebunden werden.
Aus alledem folgt, dass die Möglichkeit einer erfolgreichen Sicherheitspolitik der Kooperation nicht primär mit der Frage verbunden sein sollte, mit wem und auf der Basis welcher Werte sie geführt wird, sondern wie sie geführt wird und ob es ihr gelingt, einen Modus der Regelung von Konflikten zu etablieren, der nicht durch Gewalt, sondern durch die Instrumente der Kooperation erfolgt, das heißt durch Kompromisse, Vertrauensbildung, Bereitschaft, selbst kontrolliert zu werden, und – unter diesen Bedingungen – durch kontrollierte Abrüstung. Eine solche Politik ist kein utopisches Ziel am Ende der Geschichte. Sie ist eine langfristige Aufgabe jeden Augenblicks, die bereits jetzt anfängt und durchgehend durch politisches Handeln und politische und rechtliche Institutionen unterstützt werden muss.
Deswegen ist es wichtig, die Frage nach politischen Optionen in der Sicherheitspolitik jetzt zu stellen und nicht erst dann, wenn alle Weichen für eine der Optionen bereits gestellt worden sind. Die eine Option führt, im besten Fall, zu einem neuen kalten Krieg. Die andere ist die einzige, die mit Frieden als gewaltlose Regelung von Konflikten kompatibel ist. Beide Optionen sind Teil der Europäischen Erfahrung.
Eine Zeitwende im Sinne einer kohärenten Politik der Abschreckung, die aufrüstet, ökonomische Abhängigkeiten – und damit auch die Möglichkeit von Sanktionen – abbaut, und die NATO weiter nach Osten erweitert, wäre eigentlich nur die Fortführung der bisherigen Sicherheitspolitik, befreit von ihren Widersprüchen und von ihrer Naivität.
Eine Zeitwende im Sinne einer Politik der Kooperation wäre ein langfristiges Unternehmen im Geiste der zwei erfolgreichen Erfahrungen Europas nach dem zweiten Weltkrieg und in der letzten Phase des kalten Krieges.
Die Wahl liegt bei uns.
Zur Person:
Pascal Delhom ist akademischer Rat am philosophischen Institut der Europa-Universität Flensburg. Er arbeitet zu den Themen der Gewalt, besonders der Verletzungen durch Gewalt, und einer Philosophie des Friedens in historischer und systematischer Perspektive. Er ist auch Mitherausgeber der Reihe „Friedenstheorie“ bei Alber.