Grenzenloser Kapitalismus. Planetare und gesellschaftliche Grenzen müssen politisch gesetzt werden

Von Ulrich Brand (Wien)


Transformationen finden statt, doch sie sind voller Widersprüche und bleiben unzureichend und im Modus der ökologischen Modernisierung des Bestehenden. Dazu drei Überlegungen.

1.

Historische Transformationsprozesse – jenen hin zum Kapitalismus, aber auch innerhalb des Kapitalismus – wurden meist als Überwindung verstanden. Das betrifft insbesondere die angenommene Grenzenlosigkeit der Verfügbarkeit von natürlichen Ressourcen und Energie. Auch heute gehen die dominanten wirtschaftlichen und politischen Akteur*innen in den Ländern des globalen Nordens weiterhin davon aus, sich mit entsprechender Kaufkraft über den Weltmarkt die materiellen und energetischen Inputs für eine auf permanente Expansion ausgerichtete Wirtschaft zu sichern. Dahinter scheint die historische Erfahrung zu stehen, dass der Kapitalismus sich in Krisen zu erneuern in der Lage ist. Dies geschieht meist unter hohen Kosten und ist oft gewaltförmig von Kriegen überschattet, wenn wir an den Übergang vom Handels- zum Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts oder von diesem zum Fordismus nach dem Zweiten Weltkrieg denken.

Die Transformationen des Kapitalismus waren gekennzeichnet durch wirtschaftliche Expansion und damit einhergehend durch eine Ausweitung und Vertiefung der Naturausbeutung, begleitet von Erfahrungen materieller Besserstellung großer Bevölkerungsteile – historisch vor allem im globalen Norden, in den letzten Jahrzehnten aber auch in vielen Ländern des globalen Südens.

Die permanente Revolutionierung der kapitalistischen Produktionsweise wird bislang ermöglicht durch eine permanente Verschiebung der Grenzen. Die nächsten beiden großen Grenzverschiebungen sind heute bereits sichtbar: Eine neue Qualität der Ausplünderung der Ozeane, insbesondere der metallischen Rohstoffe auf den tiefen Meeresböden, und der Weltraum. Und auch die beiden Zauberwörter der herrschenden Wirtschaftslehre und -politik stehen für permanente Grenzverschiebungen: „Innovation und technologischer Fortschritt“.

Das Kapital als wirkmächtiges soziales Verhältnis sieht Grenzen als zu Überwindende. Dass die Reproduktionsfähigkeit der Natur immer prekärer wird und dass die menschliche Natur Teil der außermenschlichen Natur ist, dabei selbst abhängig und verletzlich, geht in diesen prometheischen Gewissheiten verloren.

Doch de facto geht der tief verankerte Anspruch, Grenzen zu überwinden, immer auch mit neuen Grenzziehungen einher. Die wichtigste Grenzziehung, die gleichzeitig eine zentrale Grenze der heute notwendigen sozial-ökologischer Transformationsprozesse ist, ist das exklusive Verfügungsrecht über Kapital und damit über die gesellschaftliche Investitionsfunktion. Dem Kapital werden zwar durchaus Grenzen gesetzt, etwa in vielen Ländern was die konkreten Formen der Ausbeutung der Arbeitskraft und einige Formen der Naturzerstörung angeht. Doch insgesamt ist es auf strammem Expansionskurs und setzt auch im Ukraine-Krieg alles daran, dass das so bleibt.

Dazu kommt, das erwähne ich hier nur, dass es zwar weiterhin das Expansionsstreben des Kapitals gibt, doch angesichts sinkender Profite wir es mit einer starken Aufwertung der Rentenökonomie zu tun haben. Die Forschungen der Gruppe um Thomas Piketty und anderen dazu sind unübersichtlich und basieren auf Schätzungen. Doch die enormen Finanzvermögen und Immobilienvermögen in Deutschland und in der Welt und die damit verbundenen Interessen und Machtverhältnisse Finanzvermögen sind ein enormer Faktor in den anstehenden Transformationsprozessen. Sighard Neckel, Jean Ziegler und andere sprechen von einer „Re-Feudalisierung“ und die drückt sich auch im städtischen Immobilien- und im Bodenbesitz aus. Wohnen und Miete bzw. der Erwerb von Wohneigentum sind die großen Umverteilungsmaschinen.

Aber es gibt eine hegemoniale Kompromissformel moderner Gesellschaften: Dass wirtschaftliche Expansion nicht nur Kapitalinteressen befriedigt, sondern auch Verteilungsspielräume schafft, dass Staaten und Beschäftigte auch was davon haben. Findet Expansion und damit Kapitalverwertung nicht statt, haben wir im Kapitalismus vor allem eines: Krisen. Die wiederum werden meist auf dem Rücken der Schwächeren bearbeitet und führen zu Kapitalkonzentration.

In der Grenzsetzung, die von der kapitalistischen Eigentumsordnung tagtäglich reproduziert wird, wird das an Gütern und Dienstleistungen produziert oder eben über Renten inwertgesetzt, für das es eine kaufkräftige Nachfrage gibt. Es kommt zu künstlicher Knappheit, zur Nicht-Befriedigung von elementaren Grundbedürfnissen von Milliarden von Menschen, weil sie nicht das nötige Geld haben.

Enorme Verschwendung, unproduktive Produktion und Müll einerseits, Armut und Leben unter dem lebenswürdigen Minimum andererseits.

Aber auch nationalstaatliche Grenzziehungen wirken ökonomisch und ökologisch durchaus expansiv. Denn die Konkurrenz der Nationalstaaten um Investitionen, Ressourcen, Bildung von materiellem Wohlstand, damit einhergehender politischer und wirtschaftlicher Macht, aber auch die Externalisierung negativer Voraussetzungen und Folgen des materiellen Wohlstands führt zu permanenter Expansion.

Beides sind zentrale Grenzen, produktiv und problematisch, mit denen die imperiale Lebensweise aufrecht erhalten und intensiviert wird. Es ist also auf die Ambivalenz von Grenzen und Grenzziehungen hinzuweisen.

Politisch-institutionell spiegelt sich das beispielsweise in einer Entscheidung, die zwar international gefeiert wurde, aus meiner Sicht aber katastrophal ist. Das Paris-Abkommen der Klimarahmenkonvention stellte Ende 2015 bekanntlich das Prinzip der „gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung“ auf die sog. „national bestimmten Beiträge“ (nationally-determined contributions) zur Senkung der CO2-Emissionen um. Die Message von Paris war ja, dass Länder bzw. Regerungen nicht mehr tun müssen, was ökologisch geboten ist. Sondern dass sie das tun, zu was sie in der Lage bzw. Willens sind.

Auch wenn sich nun die Regierungen, allen voran die EU-Kommission, darin übertreffen, im Lichte der zunehmenden Klimakrise immer ambitioniertere Reduktionsziele zu formulieren. Es könnte sich als der hilflose Versuch herausstellen, quantitative Grenzen zu vereinbaren, deren Nicht-Einhaltung nicht sanktioniert werden kann, bei Aufweichung qualitativer Ziele und Verpflichtungen. Ich komme auf diesen Punkt zurück. „Pech gehabt, wir müssen uns noch mehr anstrengen!“, das werden uns möglicherweise die politischen und wirtschaftlichen Eliten in fünf und in zehn Jahren schulterzuckend zurufen.

Wir können aus den letzten Jahrzehnten lernen – und die kritische Staats- und Politiktheorie gibt uns dafür gute analytische Werkzeuge -, dass der liberale Staat und auch das internationale politische Institutionensystem strukturell überfordert sind mit den Notwendigkeiten sozial-ökologischer Transformationen.

Der Kapitalismus transformiert sich aktuell, wir erleben heute eine hohe Dynamik hin zu seiner Ökologisierung. Dabei wissen wir noch nicht genau, inwieweit die Coronakrise und der damit einhergehende Digitalisierungsschub und auch der aktuelle Krieg diese Ökologisierung beeinflussen. Das betrifft zuvorderst die Länder im globalen Norden, aber es hat auch Auswirkungen im globalen Süden. Diesen Aspekt vertiefe ich kurz.

Diese Konstellation wird zunehmend mit dem Begriff des Grünen Extraktivismus gefasst. Meine Kollegin Kristina Dietz zeigt das anhand von Zahlen. Seit Ende 2020 erhöhen sich die Preisindizes für Industriemetalle wie Kupfer, Nickel, Zinn, Kobalt und Lithium, für Edelmetalle wie Gold und Silber sowie für Agrar- und Energierohstoffe. Der Kupferpreis ist so hoch wie seit 20 Jahren nicht und drastische Steigerungen werden für die nächsten Monate prognostiziert. Zwischen Mitte 2020 und Ende Februar 2022 hat sich der Preis für Lithiumkarbonat fast verzehnfacht. Kristina Dietz weist auch auf die mittelfristigen Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA) hin. Zwischen 2020 und 2040 wird die Nachfrage nach Lithium um das 43-fache, nach Kupfer um das 28-fache und nach Kobalt um das 21-fache ansteigen. Eine wahre Bonanza.

Beim grünen Extraktivismus als integrales Moment einer ökologischen Modernisierung der imperialen Lebensweise handelt es sich um ein neues und wichtiges Forschungsfeld, wenn es um die „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ geht. Neben den Analysen zu den fossilen Energiekonzernen benötigen wir auch Forschung und öffentliche Aufmerksamkeit für die Bergbaukonzerne, die sich bis dato positiv als zentrale Akteur*innen der sozial-ökologischen Transformation im globalen Norden präsentieren.

Und dennoch: Der Umstieg auf eine andere, nämlich ganz grundlegende erneuerbare Energiebasis und die drastische Reduktion der Ressourcenextraktion und -vernutzung im Rahmen einer wie auch immer imaginierten Kreislaufwirtschaft wird dabei nicht reichen. Es wird einige Wohlstandsinseln geben, die aber auch in den Strudel von Hochwassern, Dürre- und Hitzeperioden reingezogen werden könnten. Schumpeters berühmtes Diktum der „schöpferischen Zerstörung“ gerät in ein anderes, dystopisches Licht.

Auch ein Grüner Kapitalismus wird ein ressourcenintensiver und stark fossilistischer Kapitalismus bleiben. Im Lichte des enorm selektiven und umfassend bekämpften Charakters dieser Ökologisierung, das wäre eine erste Grenze der Transformation, verlieren die kapitalistischen Gesellschaften ihre Transformationsfähigkeit. Die Aussicht, sich in der Krise zu erneuern, schwinden. Es kommt zu einem gefährlichen wirtschaftsliberalen business-as-usual oder zu zunehmend autoritären Politiken. Doch dabei wird die ökologische Krise kaum angemessen bearbeitet.

2.

Diese kapitalistische Grenzenlosigkeit mit ihren paradoxen Grenzziehungen führt zu enormen ökologischen Problemen und Krisen und hat wirtschaftlich und sozial höchst ungleiche Effekte. Seit 50 Jahren wird insbesondere in der Ökologie-Debatte von Grenzen gesprochen, seit gut zehn Jahren prominent aktualisiert durch das Konzept der Planetaren Grenzen. Diese und andere Beiträge werden als jüngere wissenschaftliche Transformationsdebatte zusammengefasst. Dort wurde in den letzten zehn Jahre durchaus die Vertiefung der sozial-ökologischen Probleme und die Probleme ihrer Bearbeitung thematisiert.

In einem früheren Durchgang durch die Transformationsdebatte habe ich diese in ihrer Mehrheit als „neue kritische Orthodoxie“ bezeichnet und wollte damit die Spannung betonen zwischen sehr weitreichenden Diagnosen der ökologischen Krise und Veränderungsbedarf und recht Institutionen-affirmativen Vorstellungen und Vorschlägen für Veränderungen. Die Vorstellungen über die notwendigen Transformationen bleiben eher inkrementell, affirmieren den kapitalistischen Staat als Regelsetzer, die kapitalistischen Unternehmen und Märkte. Wissenschaftlich gesprochen: Es fehlt ein genaueres Verständnis des „Objekts der Transformation“, also der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Diese Perspektive beeinflusst auch die Einschätzung eines starken Topos der Transformationsdebatte, nämlich von Handeln, Akteur*innen und Strategien.

Das führt unter anderem zur oft hilflosen Fokussierung von Endkonsum und KonsumentInnen. Dann kann über Verantwortung und Verhaltenspsyche, Nischen und Nudging, Regeln und Rahmenbedingungen und anderes gesprochen werden. Die schwierigen und unschönen Fragen nach den kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnissen darin werden entnannt. Auch der Staat wird in seiner Verwicklung mit den aktuellen nicht-nachhaltigen Verhältnissen kaum reflektiert. Er soll eben, bei sich zunehmenden Krisen, sich veränderndem Bewusstsein und anderen politischen Kräfteverhältnissen, die Probleme angehen, transformative Politiken formulieren und implementieren. Auch die internationale Dimension spielt eine erschreckend untergeordnete Rolle.

Und schließlich wird in der Transformationsdebatte das neuzeitliche Verständnis von „Natur“ nicht hinterfragt, nämlich als auszubeutende und zu beherrschende Ressource. Das wird auch durch Diagnosen wie dem Anthropozän nicht wirklich hinterfragt, sondern führt allenfalls zu reflexiveren Formen der Naturbeherrschung.

Die Entnennung der kapitalistischen, staatlichen, imperialen und Natur-beherrschenden Imperative lässt diese eben unberücksichtigt.

Daher habe ich vorgeschlagen, dem aktuell dominanten Transformationsbegriff einen kritischen und emanzipatorischen Transformationsbegriff zur Seite zu stellen. Das Kritische fragt genauer und theoretisch angeleitet nach den Ursachen der vielfältigen lock-ins, die zu strukturellen Grenzüberschreitungen in der Nutzung der biophysischen Lebensgrundlagen führen, nämlich einer kapitalistischen Herrschaftskonstellation. Das Emanzipatorische steht für einen normativen Horizont und bezieht sich auf politisch-strategische Ansätze, die eben nicht nur die gesellschaftliche Energie- und Ressourcenbasis problematisieren, sondern auch die damit verbundenen sozialen Formen. Diese werden mitunter als „fossil capitalism“ bezeichnet, ich würde auch den „green capitalism“ dazuzählen.

Ich denke, dass wir Begriffe zur gesellschaftlichen Selbstverständigung benötigen, um zu begreifen, was ist, was vielleicht sein wird und was aus emanzipatorischer Perspektive sein kann. Den Begriff sozial-ökologische oder Große Transformationen würde ich nicht mehr dazuzählen, er ist zu sehr mit einer impliziten oder sogar expliziten Botschaft verbunden, dass der Kapitalismus ökologisiert werden kann. Dem Konzept die Adjektive „kritisch“ und „emanzipatorisch“ voranzustellen, halte ich sachlich für gegeben, aber es ist auch Ausdruck von Hilflosigkeit.

Doch ein anderer Begriff muss, andere Begriffe müssen erst entwickelt werden. Ob der Begriff der Grenzen dazu taugt, das will ich mit der dritten Überlegung ausloten.

3.

Die Einhaltung der planetaren Grenzen wird nicht nur erreicht durch einen Austausch der Energieträger, sondern durch einen grundlegenden Umbau der Produktions- und Lebensweise, die auf ihre Art produktiv und attraktiv, aber nicht zerstörerisch ist. Es bedarf des sozial- und arbeitsmarktpolitisch ja nicht einfachen Rückbaus bestimmter Industrien und entsprechender Konsumnormen. Und auch der Energie- und insbesondere der Stromverbrauch muss gesenkt werden, wenn wir nicht dem falschen Versprechen auf den Leim gehen, dass die Erneuerbaren Energien die fossilen Energieträger ersetzen werden. Sie wirken bislang eher komplementär im Lichte eines weiterhin stark zunehmenden Energieverbrauchs.

Es bedarf tiefgreifender Änderungen im Akkumulationsprozess, der sich in der kapitalistischen Warenproduktion und in der eingangs erwähnten Rentenökonomie materialisiert und mit enormer wirtschaftlicher und politischer Macht einhergeht.

Dazu müssen wir aber auch den hegemonialen Charakter der kapitalistischen bzw. imperialen Produktions- und Lebensweise berücksichtigen. Wir erleben viele Kämpfe weltweiter sozialer Bewegungen gegen das Kapital. So wichtig dieses sind, so reicht das wohl kaum aus, um einer Produktions- und Lebensweise Grenzen zu setzen. Oder präziser: Eine derart produktive, für viele attraktive, aber eben auch enorm zerstörerische Produktions- und Lebensweise muss sich selbst Grenzen setzen.

Damit bin ich bei einer dritten Verwendung des Begriffs „Grenzen der Transformation“. Sie bezieht sich weder auf die realkapitalistischen Expansions- und Transformationsdynamiken, noch auf die Grenzen der Transformationsdebatte. Es geht vielmehr um die gesellschaftspolitisch zu setzenden Grenzen, die zentrales Ergebnis und Bestandteil ernstzunehmender sozial-ökologischer Transformationsprozess sind. Diese Perspektive ist also von der Skepsis geprägt, dass über Innovation, technologischen Fortschritt und Entkopplung die enormen ökologischen und damit einhergehenden sozialen Probleme und Krisen bearbeitet werden könnten.

Das epistemische Terrain der Debatten um gesellschaftliche Grenzen ist vorgegeben vom prominenten Konzept der „planetaren Grenzen“. Die Gruppe um Johan Rockström und Will Steffen, damals am Resilience Center in Stockholm, inzwischen Leiter des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, hat ab dem Jahr 2009 die Debatte um Nachhaltigkeit enorm beeinflusst. Ich gehe nicht spezifisch darauf ein, will nur zwei Punkte hervorheben: Die planetaren Grenzen erweitern die Debatte um ökologische Krise und ihre Bearbeitung deutlich über die immer stärkere Fokussierung auf den Klimawandel und die Klimakrise hinaus. Zweitens machen die Erdsystem-Wissenschaftler*innen das starke Argument, dass gesellschaftliches Wohlergehen der stabilen ökologischen Bedingungen bedarf und dass sich hier sehr viel ändern könnte, wenn der Klimawandel fortschreitet, die biologische Vielfalt weiterhin stark abnimmt, Böden und Ozeane versauern und anderes.

In späteren Artikeln ruft die Gruppe um Rockström und Steffen dazu auf, dass wir mehr Wissen über die gesellschaftlichen Ursachen des drohenden oder bereits sich vollziehenden Überschreiten der planetaren Grenzen benötigen. Auch Fragen der sozial ungleichen Wirkungen einer Überschreitung der planetaren Grenzen sollten stärker berücksichtigt werden.

Inzwischen gibt es dazu eine lebhafte Debatte und der Ansatz wurde verschiedentlich kritisiert. Christoph Görg etwa wandte ein, dass die Definition der Grenzen schon in den Naturwissenschaften umstritten ist, dass es viele Unsicherheiten und Wechselwirkungen gibt und der Fokus auf global aggregierte Prozesse auch etwas verstellt. Das 2 Grad-Ziel als Maximum der Klimaerwärmung etwa sei ein Kompromiss zwischen wissenschaftlicher Diagnose und politischer Abwägung und damit auch zwischen dem Wünschenswerten und Erreichbaren. Besonders fragwürdig seien die Suggestion eines „sicheren Handlungsrahmens“ (safe operating space) bei Einhaltung der Grenzen, den es ja schon heute in vielen Weltregionen nicht mehr gebe. Vulnerabilität sei zuvorderst regional und lokal bestimmbar und hänge von vielen Faktoren ab. Und schließlich kritisiert Görg, dass die planetaren Grenzen zwar den Nutzen naturwissenschaftlichen Wissens zeigen, doch dieses auch immer hinterfragt werden muss und die Grenzen nicht einfach „da“ seien. Sonst komme es zu neuen Grenzziehungsdiskursen. Genau diese sind m.E. in der Debatte um planetare Grenzen zu beobachten.

Und doch wird auf den enorm wirkmächtigen Begriff auch in den Sozialwissenschaften oft Bezug genommen. Kate Raworth entwickelte ihr Donut-Modell einen „sicheren und gerechten Raum“, in dem  eine regenerative und distributive Wirtschaft zwischen planetaren Obergrenzen und sozialen Mindestgrenzen begrenzt wird.

Die Frage der Prinzipien, des Horizonts und der Konturen einer Gesellschaft, deren materielle Reproduktion sich innerhalb der planetaren Grenzen bewegt und die sozial gerecht ist, sind – trotz aller Unsicherheiten und Offenheiten – durchaus deutlich.

Unklar bleibt jedoch die Wie-Frage, wie also ein Transformationsprozess eingeleitet und auf Dauer gestellt werden kann, um sich weg von der immer stärkeren Zerstörungsdynamik und hin zu einer nicht-zerstörerischen und für alle Menschen lebenswerten Produktions- und Lebensweise zu bewegen.

Diese Leerstelle an vielen Vorschlägen für eine andere Gesellschaft, oft wird die als Postwachstums-Gesellschaft bezeichnet, sowie die  Einladung der Planetaren Grenzen-Community in ihren Texten zur Diskussion hat mich und andere dazu gebracht, seit der Leipziger Degrowth-Konferenz im Jahr 2014 immer wieder Diskussionsräume zu schaffen, um aus sozialwissenschaftlicher Sicht und in Austausch mit gesellschaftlichen AkteurInnen die Frage der Grenzsetzung, also der Voraussetzungen und Mechanismen einer Einhegung des kapitalistischen Expansionsdynamik, genauer zu umreißen.

Ab Ende 2019 formierte sich ein Autor*innenteam von zunächst 40 Personen, und 28 von ihnen veröffentlichten im Sommer 2021 einen Artikel in der Zeitschrift „Sustainability. Science, Practice and Policy“. Darin stellen wir den Ansatz der planetaren Grenzen kurz vor, schätzen ihn ein und argumentieren, dass die Gründe für die Dynamiken in der kapitalistischen Expansionsdynamik liegen. Das scheint uns aber zentral für einen Dialog mit den Naturwissenschaften. Es sind also nicht der fehlende politische Willen, unzureichende politische Ziele und Instrumente, mangelndes Bewusstsein und Aufklärung, inadäquate Technologien, sondern es sind gesellschaftliche Strukturmuster, die es zu verstehen und in ihrer Komplexität anzugehen gilt.

Dabei entwickeln wir einen breiten und komplexen Kapitalismusbegriff, der neben der formellen Ökonomie im engeren Sinne auch andere, nicht-geldvermittelte Formen materieller Reproduktion umfasst, aber auch den Staat, gesellschaftliche Normen und Werte, die ungleiche globale Ordnung, das westlich dominierte Wissenssystem sowie den sozialen Metabolismus in den Blick nimmt.

„Kapitalismus“ ist also keine Kategorie, die vermeintlich alles erklärt, sondern wird als Heuristik verstanden, um eben die drohende oder reale Überschreitung der planetaren Grenzen in ihren gesellschaftlichen Ursachen zu verstehen. Damit soll gegen vereinfachende technokratische oder politizistische Versuche argumentiert werden, die ökologische Krise zu bearbeiten.

Damit wird analytisch das Argument vorbereitet, dass es nicht lediglich um einen Wechsel der Energie- und Rohstoffbasis gehen kann, weil das unter Bedingungen der dominanten und notwendig expansiven kapitalistischen Produktions- und Lebensweise nicht möglich ist.

Ausgangspunkt von Überlegungen zur Notwendigkeit von Grenzen ist folgende: Die liberal-kapitalistische oder in vielen Ländern gar nicht so liberale Verfasstheit der Welt führt nicht nur zu sozialer Spaltung, Armut und Ausbeutung andernorts, sondern treibt den ökologischen Ruin des Planeten zügig voran. Konkurrenz(fähigkeit) um jeden Preis ist nicht länger möglich. Wir werden daher um verstärkte Planungselemente, aber auch um national und insbesondere international ausgehandelte Obergrenzen für Produktion und Konsum nicht herumkommen. Aushandlungsprozesse zur Einhaltung sozialer und ökologischer Grenzen werden mit der Verfügungsmacht des Kapitals über Investitionen und den Produktionsapparat kollidieren. Sie werden nur dann erfolgreich sein, wenn progressive Kräfte in der Lage sind, sich gegen kapitalseitige Widerstände durchzusetzen.

Im dritten Teil des Artikels beziehen wir uns auf die aktuelle Debatte um Grenzen und entwickeln Vorschläge für eine Politik der Selbst-Begrenzung, also der Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen für ein auskömmliches Leben für alle, ohne die biophysischen Lebensgrundlagen zu zerstören. Ich skizziere einige zentrale Ideen.

Unser Argument lautet auf einer recht allgemeinen Ebene, dass die Formen der kollektiven Selbstbegrenzung durch selbstbestimmte und demokratische Prozesse bestimmt werden können. So zeigen etwa Deliberationen in Klimaräten, in denen Bürger*innen und Expert*innen in einen längeren strukturierten Austausch kommen, dass dabei durchaus ein sehr konkretes Bewusstsein und Vorschläge für Grenzziehungen entstehen. Die kommen nicht aus dem Nichts. Es gibt Vorschläge, die fossilen Energieträger im Boden zu lassen, einer Planetary Health Diet, für nachhaltige Mobilitätssysteme und Stadtentwicklungen und vieles mehr. Die Grenzziehungen erfolgen über eine andere Gestaltung der Versorgungssysteme. Im Artikel selbst verweisen wir zudem auf viele Ansätze im globalen Süden, wo es solche Formen und Prinzipien der kollektiven Selbstbegrenzung gibt. Freiheit beginnt nicht individualistisch dort, wo sie für andere endet, sondern sie liegt in der Selbst-Begrenzung, die Freiheit und ein auskömmliches Leben für alle ermöglichen soll und das nicht in der materiellen Versorgung aufgeht, sondern auch spirituelle und affektive Dimensionen einschließt.

Dauerhafte De-Eskalation des sozialen Metabolismus ist auch mit autoritären Mitteln denkbar. Doch das ist nicht wünschenswert und die effektive Bearbeitung der ökologischen Krise in diesem Modus unwahrscheinlich.

Eine nicht nur politisch, sondern auch materiell demokratische Perspektive bedarf einer gesellschaftlichen Reflexion und dann Emanzipation von den vielfältigen Herrschaftsmechanismen, die eben entscheidend zur Eskalation des sozialen Metabolismus führen. Und es braucht demokratisch festgelegter Regeln, umfassende, nicht unbedingt zentralistische Planungsprozesse sowie Regierungs- und Durchsetzungsinstanz der Regeln, damit Freiheit möglich wird, aber eben Freiheit aller und nicht durch die Untergrabung der biophysischen Lebensgrundlagen von Gesellschaften. Das ist kein einfacher und feststehender Prozess und er wird vor allem mit massiven Konflikten und intensiven Lernprozessen einhergehen. Gerade deshalb muss er demokratisch sein, die Vielen mitnehmen.

Ein zweites Element liegt in einem normativen Bezugspunkt, der nicht die Einhaltung der planetaren Grenzen oder Produktion und Konsum ins Zentrum stellt, sondern die Befriedigung von Bedürfnissen – das kann markt- und geldvermittelt erfolgen, aber auch über öffentliche Daseinsvorsorge, Suffizienzökonomien und anderes. Dabei werden Metriken in Bezug auf anthropogen nutzbare und nicht-übernutzbare Elemente der außermenschlichen Natur ziemlich sicher eine wichtige Rolle spielen. Doch es geht dabei auch um die konfliktive Vereinbarung von Obergrenzen für Produktion und Konsum. Deshalb müssen Investitionsentscheidungen und damit Eigentumsrechte an Produktionsmitteln starken Regeln unterworfen oder vergesellschaftet werden.

Und dabei sollten wir nicht vergessen, dass in den Prozessen gesellschaftlicher Re-Produktion und Verteilung immer mehr präventive und reparative Tätigkeiten vorkommen werden müssen, um mit den heute bereits stattfinden, von der ökologischen Krise verursachten Verwüstungen umzugehen.

Ein drittes Element, das in der Degrowth-Perspektive eine wichtige Rolle spielt, wird dort die Dekolonisierung des Denkens genannt. Damit ist zuvorderst eine Zurückweisung des gesellschaftlich tief verankerten Denkens von permanentem Wachstum und Grenzüberschreitung gemeint. Es kritisiert aber auch ein universalistisches Denken in Grenzen wie etwa mit einem postulierten 1,5 Grad-Ziel läuft Gefahr, die Welt mittels einer „carbon metrics“ zu erfassen. Es dominieren Denken und politische Orientierungen, die sich an vermeintliche objektiv feststellbaren Grenzen orientieren. Dorothy Guerrero von den Philippinen nennt das „Goal Ghosts“ und wahrscheinlich müsste man auch die SDGs dazuzählen.  Die Erreichung der Ziele werden von den mächtigen westlichen Gesellschaften und den dort dominierenden wirtschaftlichen und politischen Akteuren vorgegeben: die Berechenbarkeit der Welt, der Einsatz von Technologie, das Ergrünen einer weiterhin expansiven Wirtschaft. Entsprechend muss dem westlich-universalistischen Denken Grenzen gesetzt werden, ohne in einen Relativismus zu verfallen. Universalismus muss anders gedacht werden.

Als viertes Element einer Gesellschaft, die selbst die ökologischen und damit auch sozialen Grenzen ihrer Produktions- und Lebensweise vermisst und einhält, müssen entsprechend die subjektiven und lebensweltlichen Dimensionen erstgenommen und verändert werden. Ein menschenwürdiges Leben bedarf der anderen subjektiven Bedeutungen, nämlich der Sinnerfüllung und nicht der Entfremdung von sich selbst, der Arbeit, der Gesellschaft und der Natur.

Doch die dominanten Subjektivierungsprozesse machen Menschen eher zu Konsummonaden, es werden viele Affekte in Bezug auf die imperiale Lebensweise antrainiert – daher ist es auch so schwer, sie zu moralisieren.

Philipp Lepenies zeigt in seinem jüngst erschienen Buch „Verbot und Verzicht“, wie sehr die Konsumorientierung sich in die Gesellschaft eingeschrieben hat. Eine Infragestellung wird als Einschränkung von Freiheit skandalisiert, nämlich nicht mehr das tun und lassen zu können, was man – abhängig vom Geldbeutel – machen möchte und kann. Lepenies schließt das mit dem Neoliberalismus kurz; ich würde bereits nach dem Zweiten Weltkrieg und der Phase des Fordismus beginnen.

Ingolfur Blühdorn ist bekanntlich skeptisch im Hinblick auf die subjektiven Voraussetzungen für sozial-ökologische Transformationsprozesse. Emanzipatorische Politik und der Anspruch an Aufklärung und Selbstbestimmung komme an ihre Grenzen bzw. werde aktiv aufgegeben, weil es einer starken Minderheit der Weltbevölkerung vor allem um eine Verteidigung des Status Quo gebe. Nicht mehr die Befreiung aus Unmündigkeit, sondern eine „Emanzipation zweiter Ordnung“ dominiere heute, nämlich die Emanzipation von der Verantwortung des eigenen Tuns, also des Anspruchs, permanent Grenzen überschreiten zu können und dabei Ungleichheit und Ausschluss zu produzieren sowie autoritäre Regierungen zu akzeptieren, wenn diese für die Verteidigung der imperialen Lebensweise stehen.

Ich würde Blühdorn entgegenhalten, dass er einen unterkomplexen Emanzipationsbegriff hat. Oberflächliche Befreiung von eingebildeten Pflichten und Regeln, die politisch flankiert werden von den Schreihälsen gegen „Verbotspolitik“. Doch das ist ja selbst eine hochgradig herrschaftliche Konstellation und Blühdorn geht dem m.E. auf den Leim. Er beschreibt durchaus wirkmächtige Tendenzen, aber er peppt sie zum Alternativlosen auf.

Vor allem aber: Emanzipation bedeutet die Infragestellung, Zurückdrängung und Befreiung von Herrschaft, vom kapitalistischen, patriarchalen, imperialen Regieren und Sichregierenlassen.  Befreiung von kapitalistischen Zumutungen bedeutet die Infragestellung eines Individualismus und einer vermeintlichen Autonomie, die von den gegenseitigen Abhängigkeiten und der eigenen Verletzlichkeit absehen, die so tun, als wenn alles per Geldbeutel oder im Notfall vom Staat geregelt wird.

Die gesellschaftspolitisch zu setzenden Grenzen sind nicht quantitativ festlegbar, sondern im Wesentlichen die Annäherung an die regulative Idee, in einer sich sozial-ökologisch transformierenden Gesellschaft immer weniger auf Kosten anderer und auf Kosten der Natur leben zu müssen. Das ist mehr als die Einhaltung biophysischer Grenzen. Es ist die Schaffung gleicher Bedingungen für alle, ein auskömmliches und sinnverfülltes Leben auch wirklich leben zu können. In den Gesellschaften des globalen Nordens und teilweise auf für jene im globalen Süden bedeutet das eine drastische Reduktion von energetischem und materiellen Input in und Throughput durch die Wirtschaft.

Schließlich interessiert mich als Politikwissenschaftler: Was wären die Charakteristika eines „reduktiven Staates“, eines Staates, der systematischer Bestandteil einer Gesellschaftsformation ist, die nicht mehr auf permanenter Expansion und Zerstörung basiert. In den Debatten um den Staat geht es meist um das Staatshandeln, politikwissenschaftlich gesprochen um Policies. Das wäre eine Tendenz zum Politizismus, einer Vorstellung, dass der Staat ein Subjekt ist und über- oder außerhalb der Gesellschaft steht. Der Staat ist aber nicht das Über-Subjekt der Transformation, das zeigen ja alle historischen Erfahrungen. Der kapitalistische Staat, das sehen wir exemplarisch in der Politik der Ampel-Regierung, vertritt ja viele partikulare Interessen. Daher müssen auch die Staatsstruktur und Staatsfunktionen in den Blick genommen werden. Und wenn wir wie Einsicht kritischer Staatstheorie berücksichtigen, dass der Staat in seiner Struktur nur mit den Produktions- und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen angemessen verstanden wird, dann sind eben auch diese zu verändern.

Aus einer kritischen Perspektive ende ich mit dem nicht naiven Gedanken, dass der Einstieg in den grundlegenden Umstieg zuvorderst durch vielfältige herrschaftskritische sozial-ökologische Konflikte erfolgt, etwa um das Was und Wie von sozialen und materiellen Infrastrukturen oder durch  lokale Widerstände gegen die vorherrschenden Formen des Bergbau. Damit können Selbstverständlichkeiten angegriffen, Räume für Alterativen geschaffen und die oben problematisierten und vorgeschlagenen Grenzen angegangen werden. Deshalb gibt es in dem Ansatz der gesellschaftlichen Grenzen einen starken Bezug auf emanzipatorische soziale Bewegungen, ohne aber die Rolle des Staates, von Nischen oder anderen Wirtschaftsformen außer Acht zu lassen.

In Konflikten wird nicht nur die strukturelle Sorglosigkeit des Kapitalismus, sondern auch seine subjektive Sorglosigkeit deutlich und politisierbar. Befreiung von kapitalistischen Zumutungen bedeutet eine andere Art, die Gesellschaft arbeitsteilig zu re-produzieren. Damit verbinden sich subjektive Dimensionen mit den strukturellen Rahmenbedingungen des Lebens. Und dafür gibt es jede Menge Beispiele von konkreten anderen Produktions- und Lebensweisen.

Aus diesen Konflikten und damit einhergehenden Politiken können, trotz der enormen Unsicherheit der anstehenden Umbauprozesse, dauerhafte Veränderungen jenseits einer ökologischen Modernisierung des strukturell expansiven Kapitalismus und der imperialen Lebensweise möglich werden.

Wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch benötigen wir dafür inter- und transdisziplinäre Dialoge, unter anderen zu weitreichenden sozial-ökologischen Grenzziehungen.


Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor 2022 auf der Jahrestagung des DFG-Kollegs „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ an der Universität Hamburg gehalten hat. Titel der Tagung: „Planet und Gesellschaft. Die Grenzen nachhaltiger Zukünfte“.


Ulrich Brand lehrt und forscht an der Universität Wien zur Krise der liberalen Globalisierung, ökologischer Krise, imperialer Lebensweise, Lateinamerika und sozial-ökologischen Transformationen. Mit Markus Wissen veröffentlichte er 2017 das Buch „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ (München); aktuell arbeitet er mit Markus Wissen an einem Buch zu den aktuellen Transformationen des Kapitalismus und möglichen emanzipatorischen Alternativen. Von September 2021 bis August 2022 arbeitet er im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.