Wachstums-Schizophrenie

Von Richard Sturn (Graz)


Am Wirtschaftswachstum scheiden sich die Geister – oder sollte man besser von einer Schizophrenie moderner Gesellschaften sprechen? Wenn in Deutschland, Österreich, China oder anderswo die Wachstumsprognosen um einen halben Prozentpunkt nach unten korrigiert werden, dann folgen mit größter Selbstverständlichkeit augurenhafte Hinweise auf damit verbundene Schwierigkeiten für das betreffende Land – je nach Kontext allenfalls garniert mit Beschwichtigungen, wonach es schon nicht so schlimm kommen würde, zumal für das übernächste Jahr schon wieder ein Aufschwung in Sicht sei. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite ist selten offener Widerspruch zu hören, wenn mit mehr oder minder dramatischem Unterton proklamiert wird, so könne es mit dem Wachstum nicht weitergehen, da wir ja keine zweite Erde zur Verfügung hätten.

Wir haben keine zweite Erde!

Dabei liegt im Hinblick auf die Grenzen des Wirtschaftswachstums ein zentraler Aspekt auf der Hand: Der Ressourcenverbrauch der Menschheit insgesamt kann weder ewig noch auf Jahrhunderte hinaus steigen. Er kann in diesem Zeithorizont nicht exponentiell steigen – und er kann nicht so steigen, wie dies in den letzten beiden Jahrhunderten der Fall war, solange es keine zweite oder dritte Erde gibt. Es grenzte an Idiotie, wollte man dieses Faktum bestreiten.

Indes: Dieses Faktum lässt sich auf durchaus nicht-idiotische Weise relativieren – und derartige Relativierungen liegen weitgehend im politischen und ökonomischen Mainstream: Denn weithin wird auf eine Entkoppelung von Ressourcenverbrauch gesetzt. Green Growth ist eines der einschlägigen Schlagworte. Die Plausibilität solcher Relativierungen geht meist mit einer Verbindung von Techno- und Marktoptimismus einher: Der Menschheit – so lautet das Argument – seien immer neue technische Lösungen eingefallen, wenn sie mit Problemen konfrontiert war und an Grenzen zu stoßen schien. In besonderem Maße treffe dies zu, seit unternehmerische Innovation zum bestimmenden Element kapitalistischer Dynamik wurde. Außerdem verfügten moderne Wirtschaften über einen automatischen Steuerungsmechanismus, der auf solche Probleme rechtzeitig hinweist: Knappheitspreise zeigen an, wenn wir uns auf Grenzen zu bewegen und erzeugen automatische Anreize für Innovationen.

Für eine Überwindung der Wachstums-Schizophrenie ist es zentral, folgendes zu verstehen: Ebenso wie die Grenzen der marktvermittelten Globalisierung ergeben sich die Grenzen des Wachstums langfristig aus den Grenzen des Marktes[1]. Die entscheidende Frage ist also: Welche Institutionen ökologischer Einbettung[2] brauchen wir für eine solche Entkoppelung – oder aber für eine Begrenzung marktförmiger Dynamiken (bzw. des Wirtschaftswachsums als deren Indikator), insoweit eine solche Entkoppelung sich als unmöglich erweist? Und inwieweit Entkoppelung stattfinden kann, ist eine empirische Frage.

Was ist überhaupt „Wirtschaftswachstum“?

Für eine fundierte Diskussion von „Entkoppelung“ müssen wir aber zunächst klären, was wir unter Wirtschaftswachstum überhaupt verstehen – etwa wenn journalistisch über steigende oder sinkende Wachstumsraten diskutiert wird. Die Volkseinkommensrechnung erfasst das Aggregat marktvermittelter Prozesse mit einer preisförmigen Metrik. Salopp formuliert: Volkseinkommen ist alles, was auf Märkten handelbar ist und bepreist werden kann. Wirtschaftswachstum ist Wachstum des Volkseinkommens.

Marktversagen und Marktpathologien

Expansion und Beschleunigung von in dieser Aggregatgröße zusammengefassten Prozessen können auf zwei Ebenen problematisch sein: Erstens deswegen, weil die herrschenden Markpreise relative Knappheiten nicht korrekt abbilden, etwa weil knappe Umweltressourcen zu wenig oder gar nichts kosten. Dies nennt man „Marktversagen“. Es kann durch Perfektionierung des Marktsystems (also die Einführung eines korrekten Preises für „Umweltressourcen“) geheilt werden. Zweitens gibt es aber Marktpathologien, die nicht als „Marktversagen“ in diesem Sinn erfasst werden können und auch nicht durch eine Perfektionierung des Marktsystems geheilt werden können. Pathologische Marktexpansion (zer)stört das Soziale, das Politische, die Natur – und greift letztlich Grundlagen menschlichen Lebens an, wenn und insofern Märkte bestimmte Grenzen überschreiten – Grenzen, jenseits derer Märkte kein adäquater Mechanismus der Vermittlung sozialer Interdependenzen sind. Man kann unter Umständen Wähler*innenstimmen, Gesetze und Teile dessen, was zum Menschheitserbe gehört, zwar im technischen Sinne „kaufen“ (d.h. entsprechende Transaktionen lassen sich faktisch abwickeln). Aber man sollte von einer Perfektionierung entsprechender Märkte nicht die Lösung von Problemen erwarten – im Gegenteil.

Marktpathologien ergeben sich aus systemischen Problemen/Risiken des Marktes in den Schnittstellen zu anderen Funktionssystemen, die für menschliches soziales Leben relevant sind. Wachstum und Globalisierung sind hierbei spezifisch fokussierte Darstellungen unterschiedlicher zeitlich-räumlicher Aspekte dynamischer Marktprozesse. In modernen pluralistischen Gesellschaften besteht eine gut erklärbare Tendenz, das aggregierte Ausmaß marktvermittelter Interaktionen bzw. deren „Wachstum“ explizit oder implizit als bedeutsamen oder gar übergeordneten Zielwert der „Politik“ zu betrachten. Diese evaluative Verselbständigung spiegelt die von Karl Polanyi thematisierte Markt-Entbettung wider und ist problematisch. Dies gilt für Wachstumsdynamiken, die blind sind hinsichtlich der systemischen Risiken grenzenloser Marktexpansion auf Kosten von Mensch und Umwelt. Es gälte aber auch für De-Growth-/De-Globalisierungs-Politik, die blind ist gegenüber den systemischen Risiken einer voluntaristischen (d.h. nicht durch eine Analyse relevanter Grenzen, Schnittstellen und Pfadabhängigkeiten gestützte) Marktkontraktion.

Marktpathologien und ökologisch destaströse Planwirtschaften

Es kommt also zunächst darauf an, Grenzen des Marktes zu bestimmen. Denn daraus sind jene Zonen bestimmbar, in denen marktvermittelte Transaktionen systemische Risiken beinhalten und deswegen eingebettet und reguliert, ggf. auch eingedämmt oder zurückgedrängt werden müssen (also eine Art partielles De-Growth). Manche werden einwenden, der Zusammenhang von Markt und (umweltschädlichem) Wachstum sei durch die fraglos bedeutenden historischen Beispiele kollektivistischer Planwirtschaften mit ökologisch unverträglichen Entwicklungsmodellen entkräftet. Dies ist ein wichtiger Einwand. Ihm ist insofern Rechnung zu tragen, als nicht-marktförmige Bewirtschaftungsformen nicht per se ökologisch und lebensdienlich funktionieren. Betrachtet man jedoch historisch-empirisch die Gesamtentwicklung der globalen Ökonomie, dann werden unterschiedliche wirtschaftshistorische und theoretische Aspekte des säkularen Zusammenhangs von Wachstum und der Ausdehnung der Reichweite von Märkten in der Genese des Anthropozäns deutlich. Adam Smith, Marx, Schumpeter, Mises und Hayek verdeutlichen einprägsam, dass die Wachstums-, Arbeitsteilungs-, Innovations- und Globalisierungsprozesse der letzten 250 Jahre ohne Markt kaum vorstellbar sind. Ludwig von Mises zeichnete die Kehrseite genau dieses Zusammenhangs in düsteren Farben als Dystopie einer Post-Markt-Welt aus, deren Ökonomie wegen der entfallenden koordinativen Leistungsfähigkeit der Marktvergesellschaftung auf Dauer nur noch einen Bruchteil der derzeit auf der Erde lebenden Menschen ernähren und behausen könnte. Die Dystopie eines solchen Ausstiegs ist in Zusammenhang zu sehen mit den von Karl Polanyi und Karl Marx aufgewiesenen prekären Markt-Entbettungsprozessen, die spontan-krisenhafte oder bewusst politisch geformte Gegenbewegungen hervorrufen. Die nachvollziehbare Vermutung, dass reaktive Gegenbewegungen Systeme kollektivistischer Planung herbeiführen können, die womöglich wesentlich schneller in die Katastrophe führen als spontane Marktprozesse dies je könnten, entkräftet nicht die eingangs aufgestellten Thesen. Zudem illustriert nicht nur die zeitweise in der Sowjetunion proklamierte Parole des „Einholens und Überholens“, dass die marktwirtschaftliche Dynamik auch zur Zeit der Hochblüte kollektivistischer Experimente als Reibebaum, Referenzsystem und Richtschnur immer präsent blieb.

Wie wahrscheinlich ist Entkoppelung?

Wachstumskritiker*innen bestreiten meist die Möglichkeit einer Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch – auch mit dem empirischen Hinweis auf die letzten Jahrzehnte, in denen partielle Entkoppelungstendenzen durch eine Gesamtentwicklung überschattet wurde, welche weit von einer ausreichenden Entkoppelung entfernt ist. Allerdings sollte eines nicht vergessen werden: Eine institutionelle Übersetzung der Grenzen, die sich aus „planetary boundaries“ ergeben, ist bisher (abgesehen von fragmentarischen Anfängen) nicht erfolgt. Die letzten Jahrzehnte waren primär durch Prozesse der Entbettung (Globalisierung, Marktliberalisierung, gezielter Rückbau der Einbettungen des sog. „embedded liberalism“) und sekundär durch multiple Krisen bestimmt, vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten.

Letztlich geht es um die zukunftsorientierte institutionelle Umsetzung der Grenzen des Marktes. Ansonsten machen sich (1) diese Grenzen in problematischen oder katastrophalen Gegenbewegungen bemerkbar, wohingegen sich (2) die vorteilhaften Potentiale von Märkten nicht nachhaltig entfalten können. Wenn sich Märkte problemgerecht entfalten, wird es indes vielleicht auch mehr „nachhaltiges Wachstum“ geben. „Vielleicht“ deswegen, weil dies nicht a priori gesagt werden kann: Die Bestimmung von Marktgrenzen bedarf eines konzeptuell-theoretischen Rahmens, ist aber in einer sich dynamisch transformierenden Wirtschaft letztlich eine empirische Frage. So ist es vorstellbar, dass in der digitalen Transformation nicht-marktvermittelte Interdependenzen, Interaktionen und Leistungsprozesse aufgrund von technologischem Wandel an Bedeutung gewinnen. Beim sozial-ökologischen Wandel kommt es darauf an, dass institutionalisierte Regulierungen von Markt/Wachstum nicht als voluntaristische Setzungen implementiert werden, sondern sorgfältig diagnostizierte Grenzen bearbeiten, die gleichsam in der Natur der Sache liegen und mit der zukunftsorientierten Lösung realer Probleme zu tun haben – also damit, dass der Markt im menschlichen sozialen Leben und im Umgang mit Ökosystemen eben „nicht alles richtet“.

Globalisierung

Ein besonderer Aspekt von Wachstum/Marktexpansion ist die Globalisierung. Globalisierung war und ist in erster Linie sozio-geographische Marktexpansion – wobei der üblicherweise aus ökologischer Sicht betonte Ressourcenverbrauch des Transportsektors nur die Spitze eines Eisbergs ist. Legt man die am prägnantesten von Karl Polanyi entfaltete Perspektive zugrunde, dann ergeben sich also in der langen Frist Grenzen der Globalisierung aus der Qualität und Reichweite jener „Ordnungen“ (politischer Gestaltungen, Regulierungen und Einbettungen), welche Voraussetzung für die nachhaltig lebensdienliche Funktionsweise von Märkten sind. Auch insofern fallen auch die Grenzen der Globalisierung mit solchen Grenzen der Reichweite politischer Gestaltbarkeit zusammen. Unglücklicherweise wird dieser Zusammenhang aber immer noch unterschätzt, wie in den letzten Jahrzehnten jene Grenzen unterschätzt wurden, die sich aus der Bedeutung politischer Rahmenbedingungen für Lieferketten und Rohstoffversorgung ergeben.

Denn Politik ist in großen Gesellschaften nun einmal jene Sphäre, in der sowohl Verständigungs- und Aushandlungsprozesse über Leitprinzipien entsprechender Rahmenbedingungen wie auch die Grundlagen der Implementation entwickelt werden. Grenzen der Marktexpansion ergeben sich also auch aus dem Umstand, dass die proaktiv-antizipative Verarbeitung dieser Grenzen nicht an technische oder manageriale Agenturen mit prinzipiell unbegrenzter Reichweite delegiert werden kann, sondern eine anspruchsvolle politische Aufgabe mit unternehmerischen Elementen darstellt. Daraus ergibt sich die Frage: Auf welchen Ebenen und in welchen geographischen und sozialen Räumen lassen sich tragfähige politische Institutionen etablieren, die eine politische Verarbeitung dieser Grenzen ermöglichen?

Fazit: Ökologische Perfektionierung des Marktsystems reicht nicht

Dabei kann eines nicht genug betont werden: Eine Perfektionierung des Marktsystem wird nicht ausreichen, um ökologische und soziale Wachstumsprobleme hinreichend nachhaltig zu adressieren – auch wenn diese Perfektionierung/Vervollständigung „ökologisch aufgeklärt“ ist.


Richard Sturn: Seit 2006 Leiter des Instituts für Finanzwissenschaft und Öffentliche Wirtschaft der Uni Graz. 2015 Bestellung zum Joseph A. Schumpeter Professor für Innovation, Entwicklung und Wachstum sowie zum Leiter des Graz Schumpeter Centres. Gastprofessuren an der University of Minnesota, USA, an der Universität Lyon und der Aix-Marseille School of Economics. Mitglied in diversen wissenschaftlichen Vereinigungen, u.a. den Ausschüssen „Wirtschaftswissenschaften und Ethik“ (dort Vorsitzender 2017-21) und „Theoriegeschichte“ des Vereins für Socialpolitik/Gesellschaft für Wirtschaftswissenschaften. Managing Editor des „European Journal of the History of Economic Thought“, Herausgeber des „Jahrbuchs für normative und institutionelle Grundlagen der Ökonomik“ sowie Mitglied des Editorial Boards des Journal of Contextual Economics: Schmollers Jahrbuch.


[1] Vgl. Jahrbuch für normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik Bd. 20: Wachstums- und Globalisierungsgrenzen. Marburg: Metropolis 2023.

[2] Vgl. Jahrbuch für normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik Bd. 9: Institutionen ökologischer Nachhaltigkeit. Marburg: Metropolis 2011.