Philosophische Bildung und Digitalisierung. Ein Schlichtungsversuch

Von Markus Bohlmann (WWU Münster)


Der folgende Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.

Die Debatte um Bildung, insbesondere philosophische Bildung, und Digitalisierung ist immer noch zu häufig von gezielten Affekten, unbestimmten Ängsten, unerfüllbaren Hoffnungen und allzu klaren Fronten bestimmt. Das hier ist der Versuch einer Schlichtung in zwei Schritten. Hierzu werde ich zeigen, dass Digitalisierung erst einmal eine große Enttäuschung ist, auf die philosophische Bildung aber gut reagieren kann, und zweitens etwas Altbekanntes, mit dem die Philosophie schon lange arbeitet.

Die Digitalisierung als Enttäuschung

Eine große Enttäuschung ist Digitalisierung, weil sie uns zunehmend vor Augen führt, was schon der Computerpionier Alan Turing ahnte. Wir sind heute nicht mehr die rationalsten Entitäten in unserer Umgebung. Soll heißen: in den meisten Fällen, in denen wir Rationalitätsmaßstäben gerecht werden wollen – wenn wir etwa zielgerichtet handeln, gut begründet diskutieren, oder aber auch z.B. ethisch vertretbare Intentionen ausbilden möchten – dann macht es Sinn, sich zumindest zum Teil auf die Arbeit symbolischer Maschinen zu verlassen. Der Oxforder Informationstheoretiker Luciano Floridi formuliert Turings Einsicht in die in manchen Belangen überlegene Rationalität der Maschinen so:

„Turing vertrieb uns aus unserer privilegierten und einzigartigen Position im Bereich des logischen Denkens, der Informationsverarbeitung und des smarten Agierens. Wir sind nicht mehr die Herren der Infosphäre.“ (Floridi 2015, S. 128)

Anfang des Jahres wurde viel über die künstliche Intelligenz ChatGPT geredet. Die Entwicklung dahinter ist aber schon lange zu sehen. In vielen Fällen ist es nicht mehr das schnellste und in manchen auch bei hinreichender Zeit dennoch nicht das Vernünftigste, sich auf die eigene Wahrnehmung, den eigenen Verstand, eine offene Diskussion oder einen erstklassigen Austausch von Argumenten unter Menschen zu verlassen. Ein bedeutender Nebeneffekt der turingschen Revolution war es, dass wir mit der Enttäuschung unserer Rationalitätserwartungen an uns selbst immer mehr auch das psychologische Vertrauen in menschliche Urteile und das soziologische in die Diskursfähigkeit anderer verloren. Von der Philosophie erwarten wir zu Recht, dass sie uns erklären kann, wie die neuen Mensch-Technologie-Relationen funktionieren und wie sie im Detail kritisch zu bewerten sind. Von philosophischer Bildung wird aber oft darüber hinaus auch noch erwartet, dass sie uns ein Trost ist, oder sogar eine Übung der Vernunft, die uns beim Zurückerlangen unserer Selbstansprüche helfen kann.

Eine häufige Reaktion auf die turingsche Revolution ist deshalb die Forderung an philosophische Bildungsprozesse: Wir wollen unsere Autonomie zurück! Autonomie (gr.: Selbstgesetzgebung) soll nach moralischen Maßstäben und mit Hilfe echter Erfahrung gelingen, und eben nicht nach subsummierenden Algorithmen funktionieren. Die Bildungstheoretikerin Christiane Thompson identifiziert ein klassisches Bildungsverständnis der Neuzeit mit dieser, so Thompson: „Forderung, sich nicht auf überkommene Autoritäten zu verlassen und den Maßstab von Wissen und Erkenntnis in sich selbst zu finden“. Hier, Thompson weiter, „trägt die Neuzeit einen empirischen Anspruch an die Erfahrung heran“ (Thompson 2009, S. 23).  Im 20. Jahrhundert wird die neuzeitliche Forderung nach echter Erfahrung, Aufklärung, Bildung und Selberdenken dann aber problematisch. Viel zu oft hat sie sich selbst nämlich als ein Machtmechanismus entpuppt.

Thompson zeigt, wie Adorno und Foucault negative und irritierende Erfahrungen gegen ein klassisches Bildungsverständnis stellen. Im 20. Jahrhundert waren es ja gerade die rationalen, empirischen und vermeintlich humanen Projekte, die am weitesten in die Irre gingen. Der Begriff der Bildung, so schließt Thompson ihre Analyse des Zusammenspiels von Bildung und Erfahrung im Jahr 2009, kann deshalb nur noch als kulturwissenschaftlich zu untersuchender, und durchweg problematischer Begriff verstanden werden (Thompson 2009, S. 215). Seit dieser neuen Reflexivität in der Bildungstheorie im Ausgang des 20. Jahrhunderts, fällt es schwer, Bildung auf einen einzigen Begriff zu reduzieren. Der Begriff der Autonomie stellte sich als besonders problematisch heraus.

Mit der turingschen Enttäuschung haben sich an dem Zusammenhang von Bildung und Erfahrung, den Thompson zeigt, aber drei wesentliche Dinge verändert. Erstens besitzen wir heute neue Quellen der Rationalität, mit denen wir die Wirklichkeit befragen können. Wir büßen andere Quellen dafür zusehends ein. Zweitens gibt es neue Erfahrungsräume in digitalen Lebenswelten, in denen wir aber natürlich nicht nur neue Freiheiten erleben. Wir sind auch neuen Zwängen ausgesetzt. Drittens – und das ist vielleicht das Wichtigste – gibt es eine neue Plastizität semantischer Strukturen in der Digitalität. Durch die Digitalisierung können wir die Bedeutung eines Begriffs nicht nur per Suchmaschine nachschlagen, wir können den Maschinen auch einschreiben oder vorschreiben, oder vormachen – wenn es eine KI wie ChatGPT ist – wie man ein bestimmtes Konzept zu verwenden hat.

Luciano Floridi nennt diese neue Möglichkeit, die Infosphäre aktiv zu gestalten „Conceptual Design“ (Floridi 2019). Und er sieht hier eine der wesentlichen Aufgaben für die Philosophie der Zukunft. Dass bei solchen Prozessen des Conceptual Designs oder Conceptual Engineerings die Gefahr der Ideologisierung des Digitalen immer mitgedacht werden muss, liegt auf der Hand. Mit den Bedeutungen verändert sich aber nicht nur der Sprachgebrauch, sondern auch die Wahrnehmung und im Digitalen damit recht schnell auch die Wirklichkeit durch Umkodierung. Eine langfristige Aufgabe für philosophische Bildung in der Digitalität wird deshalb darin liegen, neue Methoden der Begriffsanalyse zu entwickeln. In philosophischen Bildungsprozessen müssen wir in Zukunft nicht nur genau untersuchen, was die zentralen Konzepte unserer digitalen Lebenswelt bedeuten, sondern auch was sie bedeuten sollen. Die Begriffe der Bildung, Philosophie und Digitalisierung sind selbst hiervon natürlich keine Ausnahme.

Die Digitalisierung als Altbekanntes

Genauso gut wie eine Revolution kann man in der Digitalisierung aber auch einen langen technologisch-gesellschaftlichen Evolutionsprozess sehen. Dann ist Digitalisierung tatsächlich nichts Neues und die Aufgabe der philosophischen Bildung ist noch einmal eine andere. Beruhigend aus philosophischer Sicht ist dann aber, dass man die Digitalisierung im Prinzip schon lange kennt. Sybille Krämer verfolgt beispielsweise die Kulturtechnik der Verflachung unserer digitalen Displays bis zu den ersten Inskriptionen zurück und findet so eine, wie sie es formuliert, „embryonale Digitalität bereits im alphanumerischen Zeichenraum“ (Krämer 2022, S. 10). Mit der Erfindung von Schrift und Zahlen kommt so auch schon das Digitale in die Welt. Wenn man die Digitalisierung wie Krämer als Altbekanntes versteht, ist die Aufgabe philosophischer Bildung erstens grundlegender und zweitens selbstreferentieller.

Die Aufgabe philosophischer Bildung ist grundlegender, weil man wohl nicht nur eine Medientheorie braucht, sondern eher eine Zeichentheorie und sicherlich eine Ontologie des Digitalen. David Chalmers vertritt die These, dass virtuelle Realität genuine Realität ist (Chalmers 2022, S. 106). Das ist sehr weit entfernt von der in der philosophischen Bildung immer noch weit verbreiteten These von der Identität von Virtualität und Schein. In der grundlegenden Frage nach dem ontologischen Status des Digitalen kann die Philosophie und auch die philosophische Bildung auf ihre Bestände zurückgreifen, denn Virtualität kennen wir nicht erst seit dem Cyberspace; schon die Geldwirtschaft und die meisten religiösen Rituale sind ohne Virtualität kaum denkbar.

Wenn man die Digitalisierung für etwas Altbekanntes hält, dann ist die Aufgabe philosophischer Bildung aber nicht nur grundlegender, sondern auch selbstreferentieller als gedacht. Die Geschichte der Philosophie kann auch als eine Geschichte der Medien- und Technologiekritik gelesen werden. Die Digitalisierung hat diese Kritik an früheren Medienformen aufgenommen und Digitalisierungskritik ist heute ein wichtiger Teil der Digitalisierung selbst. Ursprünge der Medien- und Technologiekritik lassen sich schon im Mythos von Theuth und Thamus in Platons Phaidros und im Opferbetrug des Prometheus in Hesiods Theogonie finden. Wichtig ist aber auch eine Linie der Marxrezeption, in der ein großer Teil der Sozial- und Kulturkritik an der Digitalisierung begründet liegt. Walter Benjamin erfasst hier die in der Digitalisierung so wichtige unendliche Kopierbarkeit moderner Kulturgüter. Die Philosophiegeschichte hat zahlreiche Modelle der Kritik hervorgebracht, die uns dabei helfen können, die Digitalisierung in Bildungsprozessen kritisch zu reflektieren (Bohlmann 2022, Teil I).

Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine philosophische Tradition der Technikanalyse. Ein wichtiger Ursprung liegt hier bei Marx, ein anderer bei Heidegger. Empirisch arbeitende Schulen der Technikanalyse wie der Critical Constructivism und die Postphänomenologie bauen hierauf auf. Mit ihrer Hilfe ist es dann möglich die konkreten Technologien der digitalen Lebenswelt philosophisch zu analysieren (Bohlmann 2022, Teil II).

Philosophische Bildung als Digitalisierung

Die Digitalisierung ist ein fortwährender Prozess, in dem nicht irgendwann eine abgeschlossene Digitalität als Produkt am Ende steht. Mensch-Technologie-Relationen verändern sich im ständigen Wandel digitaler Lebenswelten. Digitalisierung ist dabei aber auch eine Bildungsreform und letztlich eine soziale Praxis, weil wir auch und nicht unwesentlich gerade durch philosophische Bildungsprozesse eine Kultur der Digitalität erst noch gestalten. Wir können dabei auf die Enttäuschungen durch die Digitalisierung reagieren und auf Altbekanntes aus der philosophischen Tradition zurückgreifen. Vielleicht mag dieser Gedanke bei der Schlichtung des Streits um philosophische Bildung und Digitalisierung ein wenig helfen.


Markus Bohlmann ist Philosophiedidaktiker am Philosophischen Seminar der WWU Münster. Er leitet die Fokusgruppe Didaktik der DGPhil-AG „Philosophie der Digitalität“.

Twitter: @BohlmannPhilo


Bohlmann, Markus. 2022. Bildung – Philosophie – Digitalisierung. Eine Curriculumtheorie. Reihe Digitalitätsforschung Band 3. Hrsg. Jörg Noller, Malte Rehbein und Sybille Krämer. Berlin, Heidelberg: J.B. Metzler.


Chalmers, David J. 2022. Reality+. Virtual Worlds and the Problems of Philosophy. New York: W.W. Norton.

Floridi, Luciano. 2015. Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert. Aus dem Englischen von Axel Walter. Berlin: Suhrkamp.


Floridi, Luciano. 2019. The Logic of Information: A Theory of Philosophy as Conceptual Design. Oxford [u.a.]: Oxford University Press.


Krämer, Sybille. 2022. Kulturgeschichte der Digitalisierung. Aus Politik und Zeitgeschichte 10/11: 10–17.


Thompson, Christiane. 2009. Bildung und die Grenzen der Erfahrung: Randgänge der Bildungsphilosophie. Leiden, Niederlande: Brill | Schöningh.