Der moderne „Kampf“ um die Menschenwürde
Von Holger Gutschmidt (Göttingen)
Daß der Mensch „Würde“, „Menschenwürde“, genieße, ist weder eine besonders alte, noch eine besonders selbstverständliche Meinung. Wenn wir nicht von der Wortgeschichte ausgehen (die freilich bis zu Cicero reicht), sondern von dem Begriff der jedem einzelnen Menschen intrinsisch – nur als Menschen betrachtet – zukommenden Rechte, dann ist die Menschenwürde gerade einmal wenige Jahrhunderte alt. Verstehen wir sie gar als universellen Anspruch auf Beachtung bestimmter grundlegender Freiheits- und Bürgerrechte durch den Staat und die Gesellschaft, dann ist sie noch jünger und rührt gerade einmal von der Zeit des Zweiten Weltkrieges her. So gesehen ist es nicht verwunderlich, daß bis heute eine klare und allgemeingültige Bestimmung der Menschenwürde aussteht. Hinzu tritt, daß ihr jüngster Begriff vor allem aus der juridischen Sphäre stammt: Er ist das Resultat des Scheiterns moderner Gesellschaften darin, dem Einzelnen einen hinreichenden rechtlichen Schutz gegen Gewalttaten von Regierungen und anderen politischen oder gesellschaftlichen Machtzentren zu gewähren.
Während noch im 19. Jahrhundert bestimmte Auffassungen des christlichen Menschenbildes, des bürgerlichen Anstandes und des klassischen Rechtsstaatsprinzips in den meisten Fällen ausreichten, um den Menschen eine gewisse humane Behandlung durch den Staat und die Gewalten zu sichern, war dies im 20. Jahrhundert nach dem Aufkommen großer kollektivistischer Strömungen wie Nationalismus, Faschismus und Kommunismus nicht mehr genug. Aus der Tendenz dieser Strömungen, sich durch schärfste Ab- und Ausgrenzungen gegen andere Menschengruppen zu definieren, resultierten Diskriminierungen, Verfolgungen und sogar Ausmordungen größten Umfangs. Der positivistische Rechtsgedanke jener Zeit war diesen im Namen von Staat, Volk oder Klasse begangenen Untaten nicht gewachsen; und so setzte vor allem vor und während des Zweiten Weltkrieges die Arbeit am Menschenwürdebegriff ein, um dem Einzelnen, gleich welcher Herkunft und gleich welcher Art, ein Minimum an rechtlichem Schutz und rechtlicher Teilhabe in der Gesellschaft zu sichern. Der berühmte Menschenwürdeartikel zu Beginn des Grundgesetzes hat in dieser begrifflichen Arbeit seinen Ursprung.
Aus der juristischen Perspektive (zumindest der der meisten deutschen Juristen) hat die Menschenwürde eine überpositive Herkunft. Rechtssystem und Staat können sie daher nur unterschiedlich interpretieren, aber weder einsetzen oder abschaffen, noch anderen Rechten nachordnen. Hier stellt sich also eigentlich ein typisch philosophisches Begründungs- und Verständnisproblem. Gleichwohl tat sich die Philosophie in den letzten Jahrzehnten eher schwer damit, das Menschenwürdeprinzip zu rechtfertigen oder präziser zu bestimmen. Das liegt vor allem an den entscheidenden Attributen dieses Prinzips: Universalität, intrinsische Verankerung, Unbedingtheit (juristisch: Unabwägbarkeit) seiner Geltung. Der skeptische, deflationäre und vor allem an Erfahrungssachverhalten ausgerichtete Charakter modernen („analytischen“) Philosophierens mußte sich mit solchen Eigenschaften schwertun. Sie rochen geradezu nach „Metaphysik“ (Ideologie)! Daher ist es nicht überraschend, daß sich nach einiger Zeit eine von der juristischen Perspektive unabhängige Menschenwürdekonzeption in der Philosophie ausbildete, der sog. „Humiliationismus“ (v.a. im Anschluß an das Buch des israelischen Philosophen Avishai Margalit The Decent Society, 1996). Hier sind es konkrete Verletzungssituationen, die das Verständnis der Würde und ihres Schutzes ausmachen bzw. enthüllen. Indessen ist auch danach nicht jede subjektive Verletzt- oder Gekränktheit bereits würderelevant. Vielmehr muß sie „vernünftig“ begründbar sein, was bedeutet, daß für sie allgemein anerkannte Gründe vorgebracht werden können müssen und daß sie ersichtlich einem, wenngleich nirgends kodifizierten, Verständnis achtungsvollen Zusammenlebens der Menschen widerspricht. Entscheidend ist in diesem Ansatz somit die Konkretion des Kontextes, in welchem Würdeverletzungen festgestellt werden. Dadurch kann der Humiliationismus auch die vom Recht nicht oder nur schwer erfaßten Bereiche des zwischenmenschlichen Zusammenlebens einbeziehen. Er kann so dem Begriff der Menschenwürde einen spezifisch ethischen Geltungsbereich sichern. Und er kann für seine Urteile entsprechende Erfahrungen von der Würde und ihrer Verletztheit als Ausgangspunkte nehmen, d.h. er ist anscheinend nicht auf Spekulationen darüber angewiesen, was dem Menschen als solchem Würde verleiht und welche allgemeinen Rechte daraus abgeleitet werden können. Die Probleme dieses Ansatzes sind aber gleichwohl offenkundig: Es ist darin nicht ausgeschlossen, daß durch bestimmte Menschengruppen etwas als Würdeverlust bewertet wird, das anderen unverdächtig erscheint. Grundsätzlich, muß man sagen, ist in dieser Konzeption nur schwer zu erkennen, wie die Objektivität in der Konstatierung einer Würdeverletzung und in der Bestimmung einer angemessenen Antwort darauf abgesichert werden kann. Wir sehen z.B. in den derzeitigen Auseinandersetzungen um die sog. „Cancel Culture“, wie unterschiedlich die Einordnungen hierzu sind und wie schwer es ist, sich auf gemeinsame Standards zu einigen. Und schließlich liegt solchen Würdeverletzungsfeststellungen oft ein mehr oder weniger unbewußter Begriff eines „würdevollen“, also hinsichtlich der Würde positiv bestimmten Lebens zugrunde, welchem selbst diejenigen, deren Würdeverletzung jeweils konstatiert wird, nicht unbedingt zustimmen müssen. Es ist daher gerade die Abkehr von den oben genannten Attributen des „klassischen“ oder juristischen Menschenwürdebegriffs, welche neue Schwierigkeiten mit sich bringt!
Dem humiliationistischen Würdebegriff ist allerdings zuzugestehen, daß eine Humanisierung des Alltags zwischen Menschen eine der wichtigsten Aufgaben der praktischen Philosophie ist. Dieser wird sie jedoch seit den Zeiten Kants und seiner Forderung nach einer individuellen ethischen „Maximenprüfung“ immer weniger gerecht. Desto bedeutsamer ist daher, daß der Humiliationismus das Augenmerk auf die Inhumanitäten des Alltags legt, d.h. dessen, was Adorno mit einigem Pathos einst dem „beschädigten Leben“ zurechnete. Nur weil ich dem Mitmenschen seine Grundrechte nicht vorenthalte, habe ich noch lange nicht das Recht, ihn seelisch zu erniedrigen, vor anderen bloßzustellen oder auch nur achtlos zu behandeln! Ebenso deutlich ist jedoch, daß der auch rechtliche Würdebegriff einen großen moralischen Fortschritt darstellt, welcher nicht zugunsten von gruppenspezifischen Auffassungen eines „Lebens in Würde“ aufgegeben werden darf. Dabei ist gerade zu berücksichtigen, wie sehr z.B. der Würdebegriff des Grundgesetzes und seine Auslegungen durch das Parlament sowie durch die hohe Gerichtsbarkeit das Verständnis vom Menschen und seinen Rechten in unserem Land geprägt hat. Die grundgesetzliche Würdekonzeption ist also jenseits des Sachverhaltes, eine „bloße“ Verfassungsnorm zu bezeichnen, zugleich eine soziale Realität geworden – wie es einem Verfassungsstaat ja auch ansteht! Deshalb sind gerade die Verfechter des humiliationistischen Ansatzes gut beraten, diese Realität zu beachten und in ihren eigenen Analysen zu berücksichtigen.
Der moderne Würdebegriff, müssen wir mithin konstatieren, ist von einiger Komplexität. Wir tun gut daran, die unterschiedlichen Konzeptionen nicht von vorneherein auf einen einzigen Begriff hin zu harmonisieren. Das schließt nicht aus, daß ein zukünftiges Menschenbild die Verbindung unterschiedlicher Würdekonzeptionen zu einer einzigen erlaubt – genausowenig, wie daß eine zukünftige Weltgesellschaft sich auf ein gemeinsames Würdekonzept dauerhaft und verbindlich zu einigen vermag. Derzeit ist dies jedoch nicht der Fall. Daher empfiehlt sich, wie es der deutsche Ethiker Ralf Stoecker vorgeschlagen hat, mindestens die beiden Würdebegriffe auseinanderzuhalten, die wir auch an dieser Stelle bereits unterschieden haben. Sie sind einstweilen weder aufeinander noch auf ein Drittes rückführbar. Zwar beansprucht der rechtliche Würdebegriff universelle Geltung – was auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß eine seiner ersten Formulierungen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Charta der Vereinten Nationen von 1948 erfolgte (also noch vor der des Grundgesetzes von 1949). Doch seither haben sich immer wieder führende Repräsentanten nicht-westlicher Länder zu Wort gemeldet, die anzweifeln, daß dieser (westliche) Würdebegriff mit ihren kulturellen und rechtlichen Traditionen vereinbar ist. Für den humiliationistischen Würdebegriff ist dies auch unmittelbar einleuchtend: Was ein „würdevolles Leben“ oder ein „Leben in Würde“ bedeutet, dürfte je nach Kultur, Entwicklungsstand oder Religion einer Gesellschaft unterschiedlich ausfallen. Doch ebenso für den rechtlichen Würdebegriff, welcher die Grundbedingungen des Schutzes des Menschen und seiner Teilhabe an der Gesellschaft, in der er lebt, festschreibt, müssen wir davon ausgehen, daß er heutzutage nur in bestimmten Weltregionen oder bestimmten Ländern als notwendig bzw. „unhintergehbar“ angesehen wird.
Wenngleich der Anspruch des rechtlichen Würdebegriffs universal bleibt, hat er sich bisher also nur regional etablieren lassen. Er ist damit auch nur relativ gültig, was nicht bedeutet, daß diese Gültigkeit beliebig wäre. Es gilt aber die Tatsache anzuerkennen, daß die Notwendigkeit der Menschenwürde vorerst nur im Rekurs auf bestimmte politische und gesellschaftliche Voraussetzungen gilt und daß, wenn in sie tatsächlich gewisse anthropologische oder metaphysische Grundlagen eingehen sollten, diese eher schwach sind und nicht hinreichen, die Menschenwürde global zu verankern. Es ist wohl diese Einsicht, die besonders unter (jüngeren) Rechtsphilosophen die Tendenz begründet, die politische und soziale Entwicklung der Gesellschaften und Nationen für die praktische Bedeutung der Menschenwürde in ihnen stärker heranzuziehen und dabei anzuerkennen, daß ihre überstaatliche Geltung (einstweilen) nicht zu beweisen ist. Hierbei ist zudem noch ein hermeneutisches Problem zu berücksichtigen: Das Interesse an der Menschenwürde besteht ja nicht allein an der Eigenschaft als solcher, sondern mehr noch an den grundlegenden Rechten, die aus ihr für die Menschen einer Gesellschaft folgen. Wenn wir nicht einen einheitlichen, universalen Typus rechtsstaatlicher Gemeinschaften fordern oder behaupten möchten, zieht dies entsprechend verschiedenartige Auslegungen und Anwendungen des Menschenwürdeprinzips nach sich. Eine gewisse Vielfalt kehrt somit auf der Ebene konkreter Rechte zurück. Das nimmt der Forderung nach einem universal gültigen Prinzip dann doch Manches von ihrer Anziehungskraft und nähert den rechtlichen Menschenwürdebegriff in dieser Hinsicht sogar dem humiliationistischen an.
Dennoch ist damit der Gedanke einer universal gültigen Menschenwürdenorm noch nicht ad acta gelegt! Auch im Westen sind es nicht wissenschaftliche Argumente gewesen, die diese Norm etablierten, sondern Reflexionen auf die conditio humana infolge der ungeheuerlichen Untaten des 20. Jahrhunderts. Es sind somit auch in diesem Fall schwerwiegende Verletzungshandlungen gewesen, die das Bewußtsein für die Würde eines jeden einzelnen Menschen schärften. Mit diesen Erfahrungen und der Reaktion darauf durch die abendländische Welt ist daher ein mögliches Muster entstanden, das auch in anderen Weltregionen Beachtung finden kann. Da die Ereignisse des 20. Jahrhunderts das Resultat tiefgreifender Umwälzungen wie der Säkularisation, Entwurzelung, Entfremdung ganzer Schichten und Gesellschaften infolge technischen und gesellschaftlichen Wandels darstellten, ist die Wahrscheinlichkeit, daß andere Regionen, die solche Prozesse früher oder später auch durchlaufen, sich an den Erfahrungen Europas orientieren werden, hoch. Allerdings dauert eine solche Entwicklung eher Generationen als Jahre oder Jahrzehnte. Aus diesem Grund läßt sich dazu derzeit auch nichts Definitives sagen. Doch sollte sie sich tatsächlich wie erwartet vollziehen, werden die Erfahrungen anderer Gesellschaften ihrerseits rückwirken auf die Menschenwürdediskussionen in unserer Gesellschaft. Auch unser Begriff davon wird sich ändern müssen, möglicherweise in der Hinsicht, daß unser zukünftiges Würdeverständnis eine gewisse Verantwortung jedes einzelnen Menschen für sein Gemeinwesen, vielleicht sogar grundlegende Pflichten jenem gegenüber, einschließen wird. Doch wie auch immer die Entwicklung verlaufen mag – es ist deutlich, daß das Thema auch in Zukunft nicht aufhören wird, unsere Gesellschaft wie auch die Philosophie weiter zu beschäftigen.
Zum Autor: Studium der Evangelischen Theologie, Ägyptologie und Altorientalistik, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. M.A. in Ägyptologie, Promotion und Habilitation in Philosophie (Göttingen). Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Rechts- und Sozialphilosophie der Universität Göttingen, Gastwissenschaftler in Taiwan (Humboldt-Stipendium) und an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag (Stipendiat der Akademie). Derzeit Gastdozent des DAAD in Samarkand/Usbekistan. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Philosophie der Neuzeit, zuletzt: Johann Gottfried Herder, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (zus. mit Martin Bojda), sowie: Dieter Henrichs Subjektivitätstheorie. Analyse ihrer Entwicklung (im Erscheinen), beide bei Meiner/Hamburg.
Dieser Text ist der Teil einer Kooperation mit der Philosophischen Rundschau. Das aktuelle Heft findet sich hier.