Elternschaft ohne Liebschaft: Co-Elternschaft und gesellschaftliche Normen
Von Johanna Rensing (Basel)
Seit einigen Jahren entstehen neue Formen von Elternschaft. Ein Beispiel dafür ist die Co-Elternschaft. Eine Co-Elternschaft unterscheidet sich von einer traditionellen Elternschaft dadurch, dass die Eltern keine romantische Paarbeziehung miteinander führen. Die Co-Elternschaft steht oft unter Generalverdacht weniger geeignet zu sein, als eine traditionelle Elternschaft, um Kinder zu erziehen. Ist die Abwesenheit einer romantischen Paarbeziehung ein Hindernis für gemeinsame Elternschaft?
Was ist eine Co-Elternschaft?
Die Co-Elternschaft bezeichnet eine Elternschaft, in der die Eltern keine romantische Paarbeziehung miteinander führen. Eine traditionelle Elternschaft hingegen basiert auf einer romantischen Paarbeziehung zwischen den Eltern.[1] Innerhalb eines traditionellen Elternschaftsverständnisses ist die romantische Paarbeziehung eine notwendige Bedingung für die Familiengründung und Elternschaft (Wimbauer 2021, S. 25). Der Unterschied zwischen einer traditionellen und einer Co-Elternschaft ist demnach nur die Art des Beziehungsstatus zwischen den Eltern.
Es gibt die folgenden zwei Varianten, wie eine Co-Elternschaft zustande kommen kann:
- Eltern, die ihre romantische Paarbeziehung z.B. ihre Ehe oder Konkubinat beenden, aber weiterhin zusammen ihre Kinder erziehen wollen.
- Erwachsene, die sich zusammenschließen, um gemeinsam Kinder zu bekommen oder zu erziehen. Damit geht oft auch einher, dass man diesen Akt als Gründung einer Familie versteht und dementsprechend die Rechte und die soziale Anerkennung als Familie haben möchte.[2]
Der erste Fall ist weitverbreitet, weil romantische Paarbeziehungen relativ oft beendet werden. Menschen haben keine Verpflichtung in einer romantischen Beziehung zu bleiben, in der sie nicht länger sein wollen. Die Eltern dürfen ihre romantische Paarbeziehung beenden respektive ihre Ehe scheiden lassen. Den eigenen Kindern gegenüber hat man als Elternteil jedoch eine Verpflichtung, die man nicht so leicht aufgeben kann. Kinder haben gegenüber ihren Eltern das Recht, dass sie sich um sie kümmern und für sie sorgen. Christine Overall meint dazu treffend, dass man kein Ex-Kind haben kann, weil die Eltern-Kind-Beziehung nicht beendet werden kann (Overall 2018, S. 147).
Der zweite Fall ist noch ein wenig verbreitetes Phänomen, aber nicht weniger relevant. Es gibt Menschen, die keine romantische Paarbeziehung führen, aber gemeinsam Kinder bekommen oder erziehen wollen. Sie wollen gemeinsam eine Familie gründen. Es können Menschen sein, die in ihrer romantischen Paarbeziehung keine Kinder zeugen können bzw. wollen. Menschen, welche die Herausforderung der Kindererziehung auf mehr als zwei Menschen aufteilen wollen (Multiple Elternschaft) oder schlicht in keiner Paarbeziehung sind, aber Teil einer Elternschaft sein wollen. Es sind also Eltern, die sich (lediglich) zum Zweck der gemeinsamen Kindererziehung zusammentun bzw. kollaborieren. Die Beziehung zwischen den Eltern kann offensichtlich eine innige und vertrauensvolle Beziehung sein, aber sie basiert auf einem freundschaftlichen Verhältnis. Es lässt sich festhalten, dass sich eine traditionelle von der Co-Elternschaft durch den Status der romantischen Paarbeziehung zwischen den Eltern unterscheidet. Es bleibt die Frage offen: Ist die Abwesenheit einer romantischen Paarbeziehung ein Hindernis für gemeinsame Elternschaft?
Intuitionen über Elternschaft und romantische Paarbeziehungen
Es gibt verschiedene Intuitionen dazu, inwiefern und ob die romantische Paarbeziehung zwischen den Elternteilen moralisch relevant ist. Ich gehe davon aus, dass jeder Unterschied moralisch relevant ist, der sich darauf auswirkt, wie gut Eltern ihre Pflichten gegenüber den Kindern erfüllen können. Eine gute Elternschaft ist demnach eine, in der die Eltern ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern hinreichend erfüllen. Ich werde drei Intuitionen diskutieren:
Eine erste Intuition könnte sein, dass die Liebe zwischen den Eltern als Paar von einer vertrauten und tiefen Beziehung zeugt, die moralisch relevant ist, weil sie für die Kinder von Bedeutung ist. Führen die Eltern nämlich eine gute Beziehung, dann profitieren die Kinder davon. Eltern, die schon lange ein Paar sind, kennen sich gut, können den anderen einschätzen und funktionieren gut als Team. Ein gut funktionierendes Team kann am besten Kinder erziehen. Nehmen wir an, es stimmt, dass Kinder Eltern brauchen, die sich gut kennen, einander vertrauen und als Team funktionieren, damit sie ihre Pflichten gegenüber den Kindern hinreichend erfüllen können. Selbst wenn diese Annahme wahr ist, wird nicht klar, wieso gerade und ausschließlich die romantische Paarbeziehung dafür sorgen soll, dass Eltern als Team gut funktionieren. Co-Eltern können ein gutes Team sein, weil sie zusammenarbeiten, Absprachen treffen, sich unterstützen, ähnliche Werte vertreten etc. Eine romantische Paarbeziehung ist dafür nicht notwendig. Gute Freund*innen, die sich schon seit Jahren kennen und vielleicht sogar zusammenwohnen, können diese Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit und Vertrautheit als Eltern mindestens so gut erfüllen.
Eine zweite Intuition könnte sein, das eine Familie mit Co-Eltern keine richtige Familie ist. Zunächst müsste man präzisieren, warum es sich um keine richtige Familie handeln soll. Das könnte man meiner Meinung nach auf zwei Arten tun:
Erstens man behauptet tatsächlich, es sei keine richtige Familie, weil die Eltern keine romantische Paarbeziehung führen. Das scheint jedoch abwegig, weil auch in einer traditionellen Elternschaft die Liebe zwischen den Eltern mal mehr oder weniger vorhanden ist. Außerdem gibt es in Familien mit Co-Eltern auch Liebe, allerdings in anderer Form. Es gibt einfach keine klassische romantische Paarbeziehung.
Zweitens: Manche stellen sich eine „richtige“ Familie einfach anders vor. Sie haben ein bestimmtes Bild von Familie internalisiert. Vielleicht stellt man sich immer einen Vater und eine Mutter vor, aber nie zwei oder drei Freund*innen, die zusammen Eltern sind. Das ist aber kein guter Grund, sondern lediglich Gewohnheit.[3]
Eine dritte Intuition könnte sein, dass eine Co-Elternschaft viel aufwendiger und komplizierter ist, als die etablierte traditionelle Elternschaft. Diese Komplikationen seien direkte Folgen der nicht romantischen Beziehung zwischen den Eltern: Es könnte z.B. sein, dass Eltern, die kein romantisches Paar sind, auch nicht am selben Ort wohnen oder ihr Leben primär mit einem anderen Partner planen wollen. Diese Komplikationen könnten schlechte Konsequenzen für die Kinder haben. Zunächst muss man dazu sagen, dass jede Familienform aufwendig und kompliziert sein kann. Die romantische Paarbeziehung ist kein Garant dafür, dass Eltern sich liebevoll um ihre Kinder kümmern und ein Familienleben schaffen, in dem auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen wird. Für eine gelingendes Familienleben und Elternschaft ist nämlich die Qualität der Erziehung, das Wohlergehen der Eltern und die soziale Umwelt der Familie ausschlaggebend (Golombok 2015, S. 202).
Ich habe zu Beginn festgestellt, dass der einzige Unterschied zwischen traditioneller und Co-Elternschaft die romantische Paarbeziehung zwischen den Eltern ist. Es sollte nun deutlich geworden sein, dass es sich dabei um einen reinen Formunterschied und keinen moralisch relevanten Unterschied handelt.
In einem letzten Schritt möchte ich nun zeigen, dass die Annahme der romantischen Paarbeziehung als notwendige Bedingung für Elternschaft auf amatonormativen Vorstellungen beruht. Weiter soll abschließend deutlich werden, dass nicht die Form, sondern der Inhalt einer Elternschaft moralisch relevant ist.
Normen der Elternschaft und romantischen Paarbeziehung
Im 18. Jahrhundert wurde die Ehe in Europa romantisiert. Die Ehe ist Ausdruck der Vollendung gegenseitiger Liebe und die Kinder in der Ehe sind als Teil dieser Liebesvollendung zu verstehen (Wimbauer 2021, S. 36). Wenn Co-Eltern als weniger gute Eltern abgetan werden, spielen diese Vorstellungen von Ehe, Liebe und Familie eine entscheidende Rolle. Das sieht man auch an den beiden Varianten, die ich genannt habe, wie eine Co-Elternschaft zustande kommt. Der erste Fall zeigt nicht nur eine andere Möglichkeit der Co-Elternschaft, sondern auch, dass Co-Elternschaft oft als „zweitbeste“ Option im Vergleich zur traditionellen Elternschaft verstanden wird. Erst wenn die Liebe zwischen den Eltern nicht mehr hält und es zu einer Trennung oder Scheidung kommt, wird die Co-Elternschaft in Betracht gezogen. Sie ist dann nur die „zweitbeste“ Option. Dies legt nahe, dass die Vorstellung von Liebe als notwendige Bedingung für eine gute Elternschaft tief verankert ist. Diese Vorstellung ist eine amatonormative Überzeugung.
Amatonormativität ist die Überzeugung, dass innige und fürsorgliche Beziehung wie z.B. Freundschaften weniger wertvoll sind, weil es keine romantischen Beziehungen sind. Romantische Paarbeziehungen und vor allem die Ehe werden als inhärent wertvoller eingeschätzt, schlicht weil sie Liebesbeziehungen sind (Brake 2012, S. 90–94). Meine Erläuterungen haben gezeigt, dass Amatonormativität auch für Elternschaft gilt. Eltern haben konkrete fürsorgliche Verpflichtungen gegenüber ihren Kindern. Diese können sie aber definitiv unabhängig von der romantischen Beziehung zu anderen Elternteilen erfüllen. Fürsorgliche Beziehungen (engl. caring relationships), wie z.B. Elternschaft sind nämlich wertvoll, weil in ihnen das Potenzial steckt, die Bedürfnisse von Menschen personenbezogen und detailliert zu erfüllen und Wohlergehen zu schaffen (Brake 2012, S. 87). Für die Eltern-Kind-Beziehung ist genau diese fürsorgliche Beziehung moralisch relevant. Diese Art der fürsorglichen Beziehung ist für die Eltern und für die Kinder inhärent wertvoll. Diese Überlegungen legen nahe, dass nicht die Form der Elternschaft, sondern ihr Inhalt moralisch entscheidend ist, um eine gute Elternschaft zu führen.
In einer amatonormativen Gesellschaft weist die Co-Elternschaft immer einen vermeintlichen Mangel auf. Aber anstatt Co-Elternschaft als etwas Defizitäres zu begreifen, können viele Wertvolle Rückschlüsse für Elternschaft insgesamt gezogen werden. „Familien- und Lebensformen jenseits der romantisch codierten, heterosexuellen Zweierbeziehung versprechen [nämlich] […] die Befreiung aus überkommenen geschlechter- und begehrensbasierten Machtverhältnissen und Ungleichheiten.“ (Wimbauer 2021, S. 26) Zudem könnte es sein, dass Co-Eltern, die sich bewusst für das gemeinsame Kindererziehen entscheiden und dies nicht nur als „zweitbeste“ Option sehen, detailliertere Absprachen und Verhandlungen für die Kindererziehung treffen, anstatt davon auszugehen, dass eine innige romantische Paarbeziehung automatisch dafür sorgt, dass die gemeinsame Kindererziehung funktionieren wird.
Literatur
Brake, Elizabeth (2012): Minimizing marriage. Marriage, morality, and the law. Oxford: Oxford University Press (Studies in feminist philosophy).
Donschen, David (2023): Wie zwei Menschen eine Familie gründen, ohne ein Paar zu sein. Hg. v. rbb24. Online verfügbar unter https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2023/12/co-elternschaft-berlin-vermittlung-portal.html.
Golombok, Susan (2015): Modern families. Parents and children in new family forms. Cambridge: Cambridge University Press. Online verfügbar unter https://doi.org/10.1017/CBO9781107295377.
Overall, Christine (2018): Reasons to have children – or not. In: Anca Gheaus, Gideon Calder und Jurgen de Wispelaere (Hg.): The Routledge Handbook of the Philosophy of Childhood and Children. Milton: Routledge (Routledge Handbooks in Philosophy Ser), S. 147–157.
Wimbauer, Christine (2021): Co-Parenting und die Zukunft der Liebe. Über post-romantische Elternschaft. Bielefeld: transcript (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft).
Johanna Rensing, Doktorandin an der Universität Basel im Forschungsprojekt „Just Parenthood. The Ethics and Politics of Childrearing in the 21st Century”,
Projektwebsite: https://just-parenthood.com/johanna-rensing/
[1] Im Idealfall sind die Eltern verheiratet.
[2] Für ein konkretes Beispiel, siehe: Donschen, David (2023): Wie zwei Menschen eine Familie gründen, ohne ein Paar zu sein. Hg. v. rbb24. Online verfügbar unter https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2023/12/co-elternschaft-berlin-vermittlung-portal.html.
[3] Natürlich gehen diese verinnerlichten Bilder oft auch mit homophoben oder sonstigen diskriminierenden Überzeugungen einher. In dem Fall wird die Co-Elternschaft wohl eher auf Grund von struktureller Diskriminierung insgesamt abgelehnt.