06 Aug

300 Jahre Kant: Religion und Kunst

Beiträge von Larissa Berger (Siegen) und Marco Schendel (Erlangen) und Christian Danz (Wien) aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.

Mit der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie möchten wir den Fokus auf das Anachronistische, Antiquierte und Unzeitgemäße bei Kant legen. Dabei geht es nicht darum, Kant zu diskreditieren. Ziel ist vielmehr, durch eine Vielzahl kurze Statements einen Eindruck zu vermitteln, wie divers die heutige Kantforschung (im europäischen Raum und darüber hinaus) ist und wo sie die Grenzen von Kant verortet. Dafür veröffentlichen wir seit dem 22. April 2024 jeden zweiten Dienstag zwei bis vier thematisch verwandte Kurzbeiträge.

Kants Theorie des Kunstschönen heute

Von Larissa Berger (Siegen)

Zentrales Charakteristikum des kantischen Kunstschönen ist, dass es Ausdruck sogenannter ästhetischer Ideen ist. Wir kennen rationale Ideen bzw. Vernunftideen als Begriffe, denen nichts in der Anschauung entsprechen kann. Die ästhetische Idee bildet das „Gegenstück (Pendant)“ dazu in der Anschauung: Es ist „eine Vorstellung der Einbildungskraft die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann“ (KU: 314). Interessanterweise können uns aber gerade ästhetische Ideen dabei verhelfen, rationale Ideen indirekt anzuschauen. Dabei hat Kant das Zusammenspiel dreier Elemente vor Augen. Den Ausgangspunkt bildet eine rationale Idee (möglich ist auch ein empirischer Begriff, der über das Erfahrbare erweitert wird); beispielhaft nennt Kant den Begriff vom Gott Jupiter. Diesen Begriff verknüpft die Künstlerin zweitens mit einem ästhetischen Attribut, welches die mit dem Begriff „verknüpften Folgen und die Verwandtschaft desselben mit anderen ausdrück[t]“ (KU: 315). Jupiter würde etwa indirekt durch einen Adler mit Blitzen in den Klauen dargestellt. Entscheidend ist das dritte Element. Die Rezipient*innen assoziieren mit dem ästhetischen Attribut nämlich eine Mannigfaltigkeit an Vorstellungen, etwa eine stürmische Nacht, Macht, Erhabenheit etc. Es ist diese Mannigfaltigkeit an assoziierten Vorstellungen, die einerseits aufgrund ihrer schieren Vielzahl unser begriffliches Vermögen sprengt, andererseits aber auf die zugrunde liegende rationale Idee (bspw. den Gott Jupiter) verweist. Wichtig ist, so denke ich, dass Kant Kunst in einem doppelten Sinne als sinnhaft begreift: Erstens liegt Kunstwerken ein tiefergehender Sinn zugrunde – eben eine rationale Idee; zweitens muss auch das ästhetische Attribut sinnhaft sein (d. h. eine konkrete Bedeutung haben), damit es in den Rezipient*innen Assoziationen hervorruft, die mit der zugrunde liegenden rationalen Idee sinnvoll verknüpft sind.

Ich will nun kurz zeigen, dass diese doppelte Sinnhaftigkeit hinter die zeitgenössische Vielfalt an Kunst und Kunstrichtungen zurückfällt. Erstens ist hier im Bereich der bildenden Kunst an nicht-repräsentationale, abstrakte Kunst zu denken. Denn in Kants Konzeption des ästhetischen Attributs scheint das konkret Dargestellte sowohl das Spiel mit Assoziationen als auch den Rückbezug auf die zugrunde liegende Vernunftidee zu gewährleisten. (Mir scheint jedoch nicht ausgeschlossen, dass auch in einem abstrakten Gemälde beispielsweise eine chaotische Zusammenstellung spitzer Formen auf die zugrunde liegende Idee des Krieges verweisen könnte.) Zweitens berücksichtigt Kants Konzeption ästhetischer Ideen nicht solche Kunst, die auf keinerlei Weise sinnhaft sein will, sondern explizit Unsinn evozieren will. Hier ist etwa an den Dadaismus zu denken. Drittens sperrt sich Kants Konzeption ästhetischer Ideen gegen solche Kunstformen, die nicht über das konkret Dargestellte hinausweisen wollen, die also auf kein dahinterliegendes, indirekt dargestelltes Sinnhaftes verweisen wollen. Hier wäre etwa an konkrete Poesie zu denken.

Es zeigt sich, dass Kants Theorie schöner Kunst mit ihrem Fokus auf das Sinnhafte und (indirekt) Dargestellte in der Kunst seiner Zeit verhaftet bleibt und auf einige spätere Kunstformen nicht anwendbar ist. Erwähnenswert ist noch, dass Kants Kunstverständnis auch Werke ausschließt, die den Rezipient*innen keine Freiheit im Assoziieren und Reflektieren lassen, sondern uns ihre Bedeutung mit aller Macht aufzwingen. Ob wir aber solche Werke, man denke nur an Propaganda, in einem heutigen Verständnis als Kunst einstufen wollen würden, ist äußerst fraglich.


Von gestern: Kants Bild des Judentums

Von Marco Schendel (Erlangen)

Kants Bild des Judentums ist von gestern. So kommt es uns heute vor. In bestimmter Hinsicht war es das aber bereits zu Kants Zeiten. Kants Maßstab für die Einschätzung des Judentums ist seine moralisch zentrierte Vernunftreligion. Alle Teile von Religion und religiöser Praxis, die keine Verbindung zur Moral haben, sind für Kant überflüssiges, schädliches Beiwerk. Nach Kant besteht das Judentum ausschließlich aus diesem Beiwerk: aus Statuten, juridischen Gesetzen, Ritualen. Die Moral komme gar nicht in den Blick. Kant sieht für das Judentum nur einen Weg, um zur Vernunftreligion zu gelangen: Man müsse den „alten Kultus abwerfen“ (AA VII, 53). Kant weiß, dass das einer Selbstaufgabe gleichkommt. Die vernunftreligiöse Transformation des Judentums ist ein Absterben hin zur Vernunftreligion. Kant spricht in diesem Sinn von der „Eu-thanasie des Judentums [sic]“ (AA VII, 53). Natürlich kann Kant aufgrund dieser Formulierung nicht als Vorbote des Holocaust gelten. Aber die Formulierung lässt sich auch nicht einfach abschütteln. Zu Recht jagt sie uns heutigen Leserinnen und Lesern einen ungeheuren Schrecken ein. Abgesehen davon gibt es bereits im Zeitalter der Aufklärung überzeugendere philosophische Konzeptionen des Judentums. Dazu zählt die Theorie von Moses Mendelssohn, die er in Jerusalem (1783) entwickelt, für das Kant Mendelssohn im Übrigen brieflich ein Lob übermittelt. (Das Lob macht mäßig Sinn und ist nur möglich, weil Kant Mendelssohn in seinem eigenen Sinn interpretiert). Mendelssohn hält am jüdischen Zeremonialgesetz fest, verweist auf eine unbedingte Religionsfreiheit und stellt die Vernünftigkeit des Judentums heraus, welche die des Christentums noch übersteige. Bei Bildern von Judentum und Juden in der Aufklärung ist auch an Gotthold Ephraim Lessing zu denken. Im Lustspiel Die Juden (1749), noch weit vor seinem Nathan (1779), gibt er die moralischen Vorbehalte gegenüber Juden der Lächerlichkeit preis. Die Räuber im Stück sind Christen, die sich als Juden verkleiden, sich falsche Bärte anstecken. Ihr Überfall wird von einem moralisch integren Reisenden vereitelt, der, wie man am Ende erfährt, Jude ist. Allerspätestens ist Kants Bild des Judentums aber mit Hermann Cohens Studie Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919/29) überholt. Als jüdischer Philosoph und Neukantianer bringt Cohen das scheinbar Unversöhnliche – Kantianismus und Judentum – zusammen.


Kants problematischer Religionsbegriff

Von Christian Danz (Wien)

Mit seiner Erkenntniskritik hat Immanuel Kant die Grundlagen der modernen Religionsphilosophie und protestantischen Theologie geschaffen. Gleichwohl ist sein eigener Religionsbegriff heute nicht mehr fortsetzbar. Für Kant ist Religion kein Bestandteil der theoretischen Erkenntnis, sondern der praktischen Vernunft, genauer: ihrer Anwendung auf den Menschen. Erst in der Realisierung der Moral durch den Menschen kommt Gott in der kantischen Religionsphilosophie ins Spiel. Er repräsentiert die Beziehbarkeit und Kompatibilität von freiem sittlichen Handeln und Naturnotwendigkeit, die in jedem Handeln bereits vorausgesetzt, aber nicht hervorgebracht werden kann. Kants Gottesgedanke als Schöpfer, Gesetzgeber und Richter symbolisiert die reflexive Struktur des sittlichen Handlungsbewusstseins. Wenn aber von Religion nur dort die Rede sein kann, wo Moral vorliegt, dann ist sie eine Funktion von dieser und nichts Eigenständiges mehr.