Philosophie und die Frage nach Legitimität: Das Problem mit den Staatsverweigerer:innen                 

Marlon Possard (Wien) –


Auf welchen Prinzipien fußt staatliche Legitimität? Eine Frage, die sich auch die Philosophie seit vielen Jahrhunderten stellt. Aufgrund der Aufklärung veränderte sich die philosophische Perspektive innerhalb dieser Frage, nämlich verschob sich der Blickwinkel von religiösen und metaphysischen Anschauungen hin zu vernunft- und wertebasierten Aspekten. Aber warum braucht es die Philosophie überhaupt, wenn von staatlicher Rechtfertigung gesprochen wird?

Die Philosophie leistet auch gegenwärtig einen wichtigen Beitrag in Bezug auf das Begründen und Hinterfragen von (modernen) Legitimitätskonzepten. Denn staatliche Legitimität ist kein Selbstverständnis, sondern muss sich im 21. Jahrhundert immer komplexeren Herausforderungen stellen und teils auch neu erfinden.

Als ein Beispiel kann hierfür das Milieu der Staatsverweigerer:innen – je nach vertretener Theorie häufig auch „Reichsbürger:innen“ genannt – angeführt werden, das hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen in Deutschland, der Schweiz und in Österreich sukzessive wächst und die staatliche Autorität und ihre Institutionen grundlegend ablehnt. Ein Wesensmerkmal ernsthafter Philosophie stellt das kritische Reflektieren über die Welt und ihre Zusammenhänge, und somit auch über den Staat, dar und umfasst unter anderem Fragen, die sich mit (Un-)Gerechtigkeit und mit (Ill-)Legitimität befassen. Insgesamt geht es bei der Politischen Philosophie, Staats- und Rechtsphilosophie darum, die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der staatlichen Autorität kritisch zu hinterfragen. Viele Anhänger:innen der Staatsverweigerer:innen-Szene beziehen sich auf (klassische) philosophische Theorien, die missinterpretiert, philosophisch verzerrt oder gar verfälscht werden. Meist dienen sie einer ideologisch ausgerichteten Instrumentalisierung. Besonders anfällig sind hier anarchistische, naturrechtliche, existenzialistische und individualistische Theorien, die einen engen Bezug zur menschlichen Freiheit aufweisen.

Beispielsweise kann in diesem Zusammenhang John Locke (1632-1704) angeführt werden, der sich intensiv mit der Etablierung des Gesellschaftsvertrages und mit kontraktualistischen Elementen befasste. Gerade Locke, der dem Menschen als Individuum angeborene Rechte zuschreibt und dies auf den Naturzustand des Menschen zurückführt, indem er damit argumentiert, dass die staatliche Legitimität nur aufgrund des Schutzmechanismus des Staats ihre Rechtfertigung erfährt. Schützt der Staat diese Rechte nicht, so die Theorie Lockes, dann steht den Unterworfenen die Möglichkeit zu, sich dem Staat zu entziehen bzw. sich gegen diesen aufzulehnen.

Die philosophischen Denkansätze Lockes bilden für einige Staatsverweigerer:innen daher häufig den Nährboden für ihre wirren verschwörungstheoretischen Anschauungen, da die Szene meist mit einem Sturz den Staats, aufgrund eines angeblichen unzureichenden Rechteschutzes und einer repressiven Einschränkung der individuellen Freiheit, die mit historischen Verdrehungen vermischt ist, argumentieren. Auch der Existenzialismus wird von Staatsverweigerer:innen nicht selten als Rechtfertigung für ihre Anschauungen verwendet, indem sie sich mit der Forderung nach radikaler Freiheit gegen die staatliche Machtausübung richten. Darüber hinaus bieten Fragen des zivilen Ungehorsams für Staatsverweigerer:innen Raum für Missinterpretationen, insbesondere dann, wenn damit argumentiert wird, dass individuelle moralische Aspekte über dem staatlichen Rechtsrahmen stehen. Daraus resultiert meist eine falsche Auffassung von Wehrhaftigkeit gegenüber dem Rechtsstaat bei gleichzeitiger Ablehnung rechtspositivistischer Elemente.

Summa summarum zeigt das Beispiel der Staatsverweigerer:innen recht gut, dass man tatsächliche Philosophie mitunter nicht immer dort vorfindet, wo man sie zunächst erwarten würde, selbst wenn sowohl die Philosophie als auch die Anhänger:innen der Staatsverweigerer:innen-Szene das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Individuum in vielerlei Hinsicht kritisch betrachten. Das In-Frage-Stellen von staatlicher Autorität ist zwar eng mit philosophischen Theorien verwurzelt, aber „Philosophie“ ist eben nicht „Philosophie“, sondern muss immerdar differenziert betrachtet werden, um am Ende nicht mit einem Mix aus Verschwörungstheorien und selektiven Argumenten konfrontiert zu werden.


Marlon Possard ist Verwaltungs- und Rechtswissenschaftler und Philosoph. Er lehrt und forscht als Assistant Professor (PostDoc, Habilitand) am Department für Verwaltung, Wirtschaft, Sicherheit und Politik und am Research Center Administrative Sciences (RCAS) an der FH Campus Wien – University of Applied Sciences. Darüber hinaus ist er Gründungsvorstand der Forschungsstelle für Staatsverweigerung und subversiven Extremismus (FSTE), die am Kölner Forum für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik angesiedelt ist.
E-Mail: marlon.possard@fh-campuswien.ac.at
Webseiten: https://www.possard.at | https://personen.fh-campuswien.ac.at/marlon-possard/


Weiterführende Literatur:

Possard, Marlon/Kollegger, Martina, Das Phänomen der Reichsbürgerinnen und Reichsbürger. Zwischen rechtsphilosophischen und soziologischen Erklärungsansätzen und technischen Möglichkeiten der Risikominimierung, in: .SIAK-Journal – Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis, 21. Jg. (2024) H. 2, S. 47-54, Link zum Beitrag unter: https://biblioscout.net/article/99.140005/siak-journal202402004701.

Possard, Marlon, Den Staat verweigern, Radiointerview bei Radio FRO 105,0, 15.11.2023, online abrufbar unter: https://cba.media/640530.

Possard, Marlon, Wovon Staatsverweigerer träumen, Experteninterview, in: Tageszeitung „Die Presse“, Junge Forschung, 23.10.2023, online abrufbar unter: https://www.diepresse.com/17754830/wovon-staatsverweigerer-traeumen.