29 Mai

Eine klare Sache: für eine populäre Philosophie

von Michael Hauskeller (Liverpool)

Populäre Philosophie, das ist fast ein Schimpfwort in manchen akademischen Kreisen. Man muß sich fast schämen, einmal etwas Populäres veröffentlicht zu haben. Populäre Philosophie ist Philosophie für das Volk, die vielen, die breite Masse, und was jeder versteht, so meint man, ist auch nicht wert verstanden zu werden. Nur das Einfachste wird von jedem verstanden. Die Welt ist aber alles andere als einfach. Wer sie richtig verstehen will, muß viel Arbeit am Begriff leisten; die populäre Philosophie aber scheint zu meinen, gerade darauf verzichten zu können, als ob das Schwere auch einfach zu haben sei. Nur scheinbar macht sie Dinge klarer. In Wahrheit aber ist sie deshalb problematisch, weil sie die Dinge nicht klar genug macht. – Aber ist das wirklich so?

Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen, dekretierte Wittgenstein im Tractatus. Das läßt Raum für vieles, das überhaupt nicht gesagt werden kann, weil es sich dem begrifflichen Zugriff weitgehend entzieht, das aber dennoch eine zentrale Rolle in unserem Leben spielt, wie etwa unsere Gefühle und Empfindungen und die gesamte bunte Welt der Erscheinung, mit der sie verwoben sind. Philosophie müsse davon schweigen, meinte Wittgenstein. Sie bemüht sich darum, oder sollte es wenigstens, das, was überhaupt gesagt werden kann, klar zu sagen. Was klar gesagt wird, muß deshalb aber noch nicht von jedem verstanden werden, und umgekehrt kann zuweilen auch das verstanden werden, was nicht klar gesagt wird. Was klar gesagt wird, muß nicht einmal von mehr Menschen verstanden werden als das, was nicht klar gesagt wird. Das hängt ganz davon ab, um was für eine Art von Klarheit es sich handelt. Sowohl (gute) analytische Philosophie als auch (gute) populäre Philosophie ist klar, aber die Klarheit der populären Philosophie ist von anderer Art als die der analytischen Philosophie. Um möglichst allgemeinverständlich zu sein, wie es die populäre Philosophie anstrebt, bedarf es einer besonderen Art von Klarheit, während eine andere Art von Klarheit gerade vermieden werden muß, nämlich die Klarheit des Seziertisches, welche durch genaue Definitionen, subtile Unterscheidungen und langwierige Erörterungen gewonnen wird. Diese Art von Klarheit, wenn man sie einmal erlangt hat, ist äußerst befriedigend, weil sie einem das Gefühl gibt, alles wirklich bis ins letzte Winkelchen hinein durchleuchtet zu haben, so daß nichts Dunkles, nichts Unverstandenes, mehr zurückbleibt. Aber dieses satte Gefühl beruht natürlich auf einer Illusion. Die Dunkelheit ist immer noch da, nur bemerkt man sie nicht mehr, weil man beschlossen hat, alles zu ignorieren, das nicht vom Lichtkegel der analytischen Laterne erfaßt wird. Man sucht nur dort, wo das Licht hinfällt, und meint, daß es dort, wo es nicht hinfällt, auch nichts zu finden gebe. Aus genau diesem Grund erklärte einst Alfred North Whitehead die allseits angestrebte Genauigkeit zu einen Schwindel und schalt seinen Schüler und Freund Bertrand Russell einen Einfaltspinsel, als dieser ihn einen Wirrkopf hieß.

Zutreffend ist das zwar nicht, da weder Whitehead ein Wirrkopf, noch Russell ein Einfaltspinsel war, aber Wirrköpfe und Einfaltspinsel gibt es unter den Philosophen doch so manchen, und die meisten von uns sind doch zumindest gelegentlich wirr und gelegentlich einfältig. Wirrköpfe sind wir dann, wenn wir uns zu keiner Art von Klarheit durchringen können oder uns unseren Mangel an Klarheit als Tiefe anrechnen lassen. Einfaltspinsel sind wir, wenn wir Klarheit mit Genauigkeit verwechseln. Die Einfalt ist das größere Übel. Kürzlich traf ich einen Philosophen, der an einer neuen Bestimmung der Schönheit arbeitete, oder vielmehr arbeitete er daran, seine akademischen Kollegen mit vielen guten Argumenten davon zu überzeugen, daß seine Bestimmung der Schönheit – denn diese hatte er bereits – die einzig richtige sei. Die Bestimmung lautete: eine Sache ist schön, wenn sie sachkundige Betrachter deshalb erfreut, weil sie, und zwar korrekt, als wohlgestaltet erfahren wird. Das ist sehr klar und vernünftig. Das Wesen des Schönen aber erhellt es nicht, vielleicht weil das Schöne zu den Dingen gehört, über die nichts Klares gesagt werden kann. Sollen wir aber darum ganz davon schweigen? Vielleicht brauchen wir einfach nur eine andere Art, über die Dinge zu sprechen, behutsamer, umsichtiger, weniger direkt und zugreifend, weniger einfältig. Manche Dinge lassen sich besser sehen in der Dämmerung als im blendenden Licht der Mittagssonne. Was das Schöne sei, lehren uns darum die Dichter besser verstehen als die analytischen Philosophen. Wenn Rilke das Schöne bestimmt als „des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen“, bewundert von uns, weil es „gelassen verschmäht, uns zu zerstören“, oder August von Platen uns warnt, daß „wer die Schönheit angeschaut mit Augen, (…) dem Tode schon anheimgegeben“ sei, dann verrät uns das mehr über das Wesen der Schönheit als jede vermeintlich klare begriffliche Definition es vermöchte. Auch wenn die Rede dunkler zu sein scheint, gewinnen wir durch sie doch mehr Klarheit in der Sache.

Was das mit populärer Philosophie zu tun hat? Nun, mir scheint, daß Literatur oder zumindest gute Literatur oft populäre Philosophie ist, wie auch umgekehrt die beste populäre Philosophie oft selbst literarische Elemente hat, oder vielleicht sogar die beste Philosophie, die gerade dadurch so gut ist, daß sie in ihrer Präsentation populär ist. Man denke nur an Platon mit seinen Dialogen oder Nietzsche mit seinen Aphorismen und seinem Zarathustra, einem Buch „für alle und keinen“. Der abstrakte Begriff wird hier ersetzt durch konkrete Bilder, durch Ereignisse, Handlungen und Geschichten, der Logos durch den Mythos, der uns eine andere Form von Klarheit gibt, eine Sichtbarkeit, die mehr sinnliche Präsenz ist als ein primär geistig-begriffliches Erfassen. Es gibt einen Nebel der Begriffe, der den freien Blick auf die Dinge verstellt. Der populären Philosophie kommt die wichtige Aufgabe zu, diesen Nebel zu lichten, indem sie Verbindungen zieht zu unser Lebenswirklichkeit, anknüpft an den Horizont unserer Erfahrungen, auch zeigt wie das Denken eines Menschen tatsächlich das Denken eines bestimmten Menschen ist, eingebettet in und herausgezogen aus dessen Leben. Sie stellt uns die Philosophie vom Kopf auf die Füße, also dahin, wo sie uns nützlich werden kann, wo wir mit ihr laufen können. Vielleicht vereinfacht sie manches, aber so wie es verschiedene Arten der Klarheit gibt, so gibt es auch verschiedene Arten der Vereinfachung: Wesentliches wegzulassen ist eine Vereinfachung, die dem Verständnis im Wege steht. Das ist es, was der populären Philosophie vorgeworfen wird, was aber nur auf schlechte populäre Philosophie zutrifft. Daneben gibt es aber auch eine rechte Kunst der Vereinfachung, die darin besteht, eine Sache auf den Punkt zu bringen. Was diese Kunst uns gibt ist eine Konzentration auf das Wesentliche, was zwar auch eine Vereinfachung ist, aber doch eine verständnisfördernde. Sie beantwortet die beiden höchst wichtigen Fragen ‚Worum geht es denn nun eigentlich?‘ und ‚Was hat das denn alles mit mir zu tun?‘

Philosophie ist keine Wissenschaft. Sie ist vor allem anderen Selbstverständigung und eben darum immer auch ein Stück Weltanschauung, eine Reflektion der Art und Weise, wie sich uns die Dinge in der Erfahrung präsentieren. Fein ausgetüftelte Argumente sind schön und gut, aber wenn sie uns nicht da packen, wo wir empfänglich sind, wenn sie uns nicht da abholen, wo wir zuhause sind, dann gleiten sie an uns vorüber, ohne Halt zu machen, wie ein Taxi, dem man versehentlich die falsche Anschrift gegeben hat. Die populäre Philosophie bringt den philosophischen Wagen genau dort hin, wo wir ihn brauchen, wo wir am meisten mit ihm anfangen können. Was jeder verstehen kann, ist vielleicht nicht wert verstanden zu werden; was keiner oder nur wenige verstehen können, ist es aber doch wohl auch nicht. Gute populäre Philosophie hilft nicht nur denjenigen, etwas zu verstehen, die es anders nicht verstehen würden; sie hilft auch denjenigen, die es bereits verstanden zu haben glauben, es besser zu verstehen.


Michael Hauskeller ist Professor für Philosophie und Direktor des Philosophischen Instituts an der Universität Liverpool. Er ist Autor zahlreicher Bücher, von denen sich einige durchaus zur populären Philosophie rechnen lassen, etwa Was ist Kunst? (1998), Ich denke aber bin ich? (2003) und Mögliche Welten (2005).