Wind mit Feuerzungen: Zur Sprache philosophischer Zeitschriften
von Petra Gehring (Darmstadt)
1.
Zu Beginn ein Vergleich. Die Lage deutschsprachiger philosophischer Zeitschriften ähnelt einer Wanderung, die sich nicht aufschieben lässt – im Dunkeln, während Blitzeis sich einstellt und mit unpassendem Schuhwerk. Massive Randbedingungen wirken sich auf jede Bewegung unvorhersagbar aus. Wobei die Randbedingungen je für sich Veränderungen sind. Veränderungen, mit denen wir weniger Erfahrung haben als mit Nacht, Blitzeis oder der Tatsache, dass die Sohle rutscht.
Einige der Veränderungen sind philosophiespezifisch, einiges ist genereller (erkannter und beklagter) Effekt veränderter Reputationsanreize und somit veränderter Publikations- und Lesepräferenzen im deutschen Wissenschaftssystem (Stichworte: Proposal, Paper, Poster, Bibliometrie), einige haben mit Umbrüchen in der (nicht nur deutschen) Verlagsbranche und im Bibliothekswesen zu tun – und schließlich sind da die Mega-Trends Globalisierung, Digitalisierung, Multimedia sowie eine immer stärkere Ausdifferenzierung der Fächer-Landschaft (permanente Turns und neue whatsoever-Studies). Und schließlich ist da die gewandelte Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache.
Alles hängt mit allem zusammen. Ich vermerke daher, wovon ich nicht spreche, wenn es im zweiten und dritten Stück meines Beitrages „nur“ um die Sprachfrage gehen soll. Ich schweige von der Zersplitterung der Philosophie und dem Auseinanderdriften dessen, was man heute Community nennt, von der Absorption durch interdisziplinäre Verbundforschung, vom Schwund jener publizistischen ‚Subkultur‘, die zur „Theorie“ der 1970er bis 1990er Jahre gehörte. Ich schweige von standardisierten Reviewing-Prozessen und Pre-Papers, vom Bedeutungsverlust der Monographie (wie auch von Sammelbänden), von (angeblicher oder tatsächlicher) Karriererelevanz möglichst früh platzierter, aufgrund von Internationalität „impact“-trächtiger Publikationen, von der Umstellung des Leseverhaltens auf rasch erreichbare, kürzere Online-Artikel, vom Schwund der Abonnements von Printzeitschriften mit entsprechend sinkender Bereitschaft von Verlagen zur Finanzierung „klassischer“ Zeitschriften(-Redaktionen), vom Bedeutungsverlust der klassischen Rezension – auch in Publikumszeitschriften und Tageszeitungen, von sinkenden Bibliotheksetats für Gedrucktes und Umstellung auf die Policy „e-only“ (nicht nur Open Access, sondern auch teuer lizensierte Online-Zugänge und demnächst noch teurere 3D-Digitalisate), von der Abschaffung der DFG-finanzierten sogenannten „Sondersammelgebiete“ (durch die an definierten Bibliotheksstandorten jedenfalls theoretisch auch seltene und graue Medien der Fächer zu sammeln gewesen wären), von den dramatischen Konzentrationsprozessen auf dem Markt der Wissenschaftsverlage, vom sinkenden Abiturniveau, vom Vormarsch des Bildes, der Popularisierung und des Boulevards in den Massenmedien sowie vieler neuer Formate nicht nur des (Achtung, Lehnwort!) Science-goes-public, sondern auch des – sagen wir: Philosophicotainment. Also: Trendforscher, Lebensstil-Prediger, Richard David Precht.
2.
Nun aber die Sprachfrage. Hier vertrete ich die Maximalposition: Philosophie trägt ein polylogisches Begehren in sich. Eine Einheitssprache (sei dies die logisch bereinigte Kunstsprache, von der man zu Beginn des 20. Jahrhunderts träumte, sei dies das Englische als derzeitige Faktualsprache der westlichen Globalisierung oder sei dies – was sich womöglich abzeichnet – eine Familie dominierender Programmiersprachen) würde ihr Ende sein. Ruiniert würden das raffinierte Zusammenspiel von Überlieferungsfaszination und reißfreudigem Umbau, das gelehrte Halbwilde und damit das Philosophische an der Philosophie.
Gelehrsamkeit und Vielsprachigkeit sind eins. Dass sich dies als unbedingte Liebe zu/r Muttersprache/n ausprägt, ist nur eine Seite der Sache. Deutschsprachig zu denken und zu schreiben kann ich um der Quellennähe willen schätzen (nicht weil „deutsch“ aus sich heraus irgendeinen besonderen Wert hätte, sondern weil ohne deutschsprachige Lektüren die deutschsprachige Überlieferung in eine Art Exil fällt – es wäre als spielte man Streichquartette nur noch auf dem Klavier). Für das Französische, das Polnische, für Latein und Altgriechisch etc. gilt dasselbe. Wichtiger aber ist die die andere Seite der Sache: das Polyloge – die Vielsprachigkeit also in einem weiterreichenden Sinn.
Und warum? Sicher nicht weil Verstehen Verständigung nicht suchen würde. Eher schon weil Denken ohne die differenten Logoi, die – nur – in den jeweiligen Sprachen freigesetzt werde können, in sich selbst zurückläuft, verarmt. Jedenfalls gemessen am Stand dessen, was die europäische, archivgebundene maximalistische Idee von Wissen und Wissenschaft bislang kultiviert hat, würde einsprachige Forschung – würde erst recht einsprachiges Denken – zu einem Schatten seiner selbst. Schon heute geht die Diversität des Wissens (gemessen etwa an der Epoche um 1800) dramatisch zurück. Und „Wissenschaft“ verlangt disziplinäre Fachidioten. Fachsprachen sind präzise, aber eng, unverbunden, idiomatisch. Also dumm. Definiere ich Philosophie demgegenüber als reflexive Rückbindung ans Komplexe, als die Anstrengung, Antworten auf solche Fragen präsent und verstehbar zu halten, zu denen wir die dazugehörigen Wirklichkeiten nicht (oder kaum) mehr kennen, dann würden wir durch Einsprachigkeit gleichsam unsere Schätze verschleudern: anderssprachiges Wirkliches (wie Gewesenes) würden vergessen.
Hinzu kommt das Fremde als das, was überhaupt erst Denken erzwingt. Gerade Verständigung, sofern sie nicht ohnehin bequem geht – nämlich Vertrautheit bereits unterstellt – setzt Fremdheit, also ernstlich Unverständliches, schlechterdings voraus. Das betrifft nicht nur die Sprachfrage. Ansporn philosophischer Unruhe ist auch das, was uns am Anderen, an uns selbst, an der Welt sowie an Sachen fremd ist. Aber was ist Weltgrammatik anderes als (auch eine) Sprache – und zwar eine unter vielen, die sich zu lernen und zu praktizieren lohnt? Welthabe ist Performanz. Und zwar dort, wo Einstimmigkeit, Gleichklang fehlt – oder: ein Wunder wäre. Nur radikal ausnahmsweise der Fall.
Der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serres vergleicht den Moment des Denkens mit dem Pfingst-Ereignis. In ein vielsprachiges Kollektiv fahren Feuerzungen: das Denken brennt und stürmt. „Et factus est repente de caelo, il se produit tout à coup venant du ciel, sonus, tamuam advenientis spiritus vehementis, un bruit, ein Brausen, wie von einem daherfahrenden gewaltigen Wind, ἠχος ὥσπερ ϕερομένης πνοῆς βιαίαϛ, a sound from heaven as of a rushing mighty wind, et replevit totam domum ubi erant sedentes, et il remplit toute la maison, das ganze Haus, in dem sie saßen.“[1]
3.
Ohne Zweifel verdanken wir spätkapitalistischen Konsumprivilegien und neuen Technologien allerlei Erfreuliches. Weil Philosophie in der Durchführung der Büroarbeit ähnelt, haben ihre Primärwerkzeuge einen Turbo-Effekt erlebt: Textarbeit hat sich – im Wesentlichen in den 1990er Jahren, durch Textverarbeitung und Telekommunikation – ungeheuer vereinfacht. Suchmaschinen helfen Recherchieren, Fernkontakte sind dank Videokonferenzen leichter geworden. Ebenso hat sich das Bücherbestellen aus dem Ausland beschleunigt (wenngleich man dabei den lokalen Buchhandel umgeht, dessen Kunde man eigentlich bleiben will). Aus irgendwelchen Gründen genießt Philosophie zudem noch öffentliches Interesse. Der Name des Faches ist durchaus hoch im Kurs. Man denke an Hochglanz-Zeitschriften wie Philosophie-Magazin oder Hohe Luft, an Philosophie-Takshows im TV aber auch daran, dass Esoterik-Blogs wie auch Marketing-Strategien sich „Philosophie“ nennen. So oder so (was immer sie erwarten mögen): Studierende kommen.
Dennoch bin sicher nicht nur ich besorgt. Spreche ich mit jungen Philosophinnen, die mir versichern, sie müssten aus Karrieregründen auf Englisch publizieren, klingen meine Gegenargumente lahm. Gegen den Einwand, ich könne mir diesen Standpunkt als Professorin ja leisten, der wissenschaftliche Nachwuchs aber nicht, verblassen sachliche, historische und fachpolitische Argumente. Wir sprechen längst von einer Herrschaftsfrage. Und für die Zeitschriften – die in transnationalen Oligopolen verschwinden, ihre Umsätze in Echtzeit ermitteln und an Sprachnischen kein Interesse haben – gilt das erst recht.
Der Verlust der Mehrsprachigkeit hat mit dem Üblichwerden der englischen Sprache auf Konferenzen und sogar Workshops längst – und wohl irreversibel – begonnen. Auch in einem sprachgebundenen Fach wie die Philosophie vor allen anderen es ist, heißt „international“ nicht mehrsprachig, sondern englisch. Ich habe in diesem Jahr bereits vier Einladungen zu englischsprachigen Vorträgen – hier im Inland, wohlgemerkt – erhalten. Themen waren in einem Fall ein französischsprachiger Autor, in den anderen drei Fällen klassische Sujets der deutschsprachigen Theorietradition. Call und Konzepte gaben sich sprachvergessen, als sprächen alle Quellen und auch global die Neuronen englisch. Und zwar einstimmig. Sowie immer schon.
Pfingsten wäre das Sinnbild für das philosophische Gegenteil: vielstimmig, transitorisch, situativ, Wunder unter der Bedingung in einer mehrsprachigen Rede, und zwar einer die Übersetzbarkeit – Feuerzungen, Brausen, Wind – sucht und findet. Ohne das Diktat eines hegemonialen Jargons. Eher schon (wenn auch nicht nur) als dessen Subversion.
Die Philosophie braucht Ratiodiversität, eine polyglotte Vision, vielleicht einen Sozialvertrag, welcher Vielsprachigkeit der Archive und der Arbeitssprachen sichert. Nur eigennützig ist die Forderung nicht. Denn ohne etwas dergleichen wird nicht nur die Philosophie keine Wissenschaft (scholarship), sondern werden auch die heute in bedenklicher Weise bereits szientifisch verengten Wissenschaften (sciences) mangels intermediärer Kontrastprogramme und Übersetzungsunternehmungen keine Wissenschaften mehr sein. Auch das Nachdenken über die Digitalsprachen der Technik muss in dringliche Appelle für die Vielsprachigkeit (nun: geeigneter nicht nur Meta-, sondern auch Reflexionssprachen) führen. Erst Wind, dann Feuerzungen. „[E]t chacun les etendait parler dans son propre langue, jeder hört sie in seiner eigenen Sprache reden, audiebat unusquisque lingua sua illos loquentes, every man heard them speak in his language…“[2] Ließen sich von hier aus alte Zeitschriften retten? Philosophische Netzwerke aktivieren? Neue Zeitschriften gründen?
Petra Gehring ist Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt. Sie ist Beiratsmitglied der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie, der Tijdschrift voor Filosofie, Leuven/Belgien, des Philosophischen Jahrbuchs und Mitherausgeberin des Journal Phänomenologie sowie des Jahrbuch Technikphilosophie.
Endnoten
[1] Michel Serres: La Pentecôte. In: Le Parasite. Paris 1980, S. 57; dt. Pfingsten. In: Der Parasit. Frankfurt am Main 1981, S. 66 [ich bringe hier Original und Übersetzung leicht erweitert zusammen, pgg].
[2] Serres, a.a.O., S. 58. dt. 67 [erneut ein wenig erweitert, pgg].