13 Okt

Alter und Sein. Wie das hohe Alter in die Immanenz transzendiert und welche Rolle das Denken dabei spielt

von Sonja Ehret (Heidelberg)


„Aber Denken, das macht Spaß. Das Denken und neue Wahrheiten zu erfahren, die bleiben bis zum Schluss. Also ich glaube, dass diese ganze Lebendigkeit, die Menschen durch ihr hohes Alter haben, erweckt werden kann.“ (M.Mitscherlich, 94)

Der folgende Beitrag befasst sich mit der Entdeckung des echten Alters als eigene Lebensphase, deren Hauptantriebskraft das Denken ist wie es einst das Spiel des Kindes war. Aufgrund der metaphysischen Verbindung von Natur und Zahl wird der Beginn dieser Lebensphase um das 90. Lebensjahr erwartet.[i] 

Denken und Sein ist dasselbe.  (Parmenides)

 „Ich finde es wunderbar, dass man jetzt, wenn man alt wird, wahnsinnig nachdenken kann. Wenn Sie das noch tiefer verarbeiten können als früher. Jetzt bin ich so alt und darf nochmal denken, dich da oben richtig anzustrengen. Ich frage mich, wie man das den älteren Menschen sagen kann, dass sie wieder anfangen sollen zu denken, überhaupt zu denken.“ (I. Burck, 94, dialogische Aussage)

„Da kommt noch manches ans Tageslicht. Wenn man das einmal durchdacht hat und eingerichtet hat, dann ist es auch nicht mehr so dicht und schwer, sondern dann fügt es sich ein in das Ganze. So durchdenken, dass keine Reste mehr übrig bleiben ist gar nicht so einfach. Oje Frau U., da hast du noch viel zu denken.“ (G. Ulbricht, 99, dialogische Aussage)

Die Sprache der Alten im Dialog führt uns zu Parmenides, jenem Klassiker, der Denken mit Sein verknüpfte: „Denn dasselbe kann gedacht werden und sein. Beurteile mit dem Denken die hart bestreitende Widerlegung. Seiendes stößt an Seiendes. Als ein Selbiges und im Selbigen verharrend ruht es in sich. Denn die mächtige Notwendigkeit hält es in den Fesseln der Grenze, die es ringsum einschließt, weil nach Fug das Seiende nicht unvollendet ist, denn es leidet keinen Mangel. Das Selbige aber ist zu erkennen und zugleich Grund, weshalb eine Erkenntnis seiend ist. Hier beendige ich dir die zuverlässige Überlegung und das Denken um die Wahrheit. Sterbliches Wähnen lerne von hier an zu verstehen“. [ii]

Der Weg des Erkennens über die Ambivalenz und Dialektik ist im hohen Alter von dieser befreit.  Erkenntnis und Wissen erfolgen aus dem Ursprung intuitiv in unmittelbarer Evidenz, also situativ, aber dennoch und notwendig selbstreflexiv. So kommt ein Drittes hinzu: „Der Geist ist somit die Identität von Denken und Sein“. [iii] Das Erkennen wird so zur Tätigkeit und weitet den Geist wie auch die Seele. Das Sein wird von einer denkenden Seele erkannt.

„Mensch, jetzt hast du diesen Satz verstanden, den hast du ja noch nie verstanden. In mir ist es plötzlich so, dass ich plötzlich Zusammenhänge sehe, die ich bisher nicht gesehen habe, weil es mit mir und meinem Verhalten zu tun hat“ (M. Mitscherlich, 94).

Das Denken ist die zentrale Daseinskraft des Alters.  Das Sein ist dabei abgestuft. Ein höherer Grad an Einheit ist ein höherer Grad an Sein. Die Ideen entstammen diesem höheren Grad, können sich aber im Laufe des Lebens sehr differenzieren in das Viele, also auch niedriger stehende Grade, also eine Vielheit von verschiedenen Ausprägungen, denen aber immer noch reine geistige Ideen immanent verhaftet sind. Im Alter erfolgt dann wieder der Rückgang auf den transzendentalen Grund als Aphairesis. Die Abstraktion ist als Befreiung  von der Vielheit zu verstehen, sie ist die Freilegung der die Vielheit begründenden, von ihr aber verdeckten Einheit.  In der Idee der Pflanze sei dies beispielhaft erläutert:

AW (96):  „Meine Großmutter ist auf alle Fragen, die ich hatte eingegangen. Sie hat nicht gesagt, das weiß ich auch nicht. Ich hab mit allen Fragen zur Großmutter gekonnt.“

SE: „Das ist ein Schatz fürs Leben. Es ist doch wichtig, wenn man eine Großmutter hat.“

AW: „Ich hab gerade zur Nachbarin gesagt: Ich wünsche jedem Kind eine vernünftige Großmutter, nicht eine, die immer kritisiert.“

SE: „Eine die über der Sache steht.“

AW: (betont) „Ja, ja, ja. Jedes Kind bräuchte eine vernünftige Großmutter. Dann hat sie gesagt, deine Großmutter hat in dich viel reingepflanzt.“

Im hohen Alter schmiegen sich Denken und Sein eng zusammen. Das fördert die Intuition und die Immanenz,  aus der Wahrheit aufsteigt. Gute Aussichten um erfüllt alt zu werden.

Zwischen Immanenz und Illusion

SE: „Ja und wo geht Ihr Geist hin?“

MN (93): „Na an diese Dinge (Glasgravieren)“.

SE: „Und entwickeln Sie auch neue Ideen?“

MN.: „Ja und auch neue Techniken. Ich bin stark beeinträchtigt auf dem rechten Auge. Merkwürdigerweise beim Gravieren habe ich keine Probleme damit und mein Sohn sagte, der Kopf denkt anders, der graviert mit, weil ich schon so viel gemacht habe. Wenn das so ist, soll es mir recht sein.“

Der Halt in der Immanenz, also dem ganzheitlichen Aufgehen in einer Tätigkeit, zu der auch das Denken zählt, ist jedoch nicht durchgehend zu haben. Da menschliches Sein jedoch immer Alterität besitzt, ist zu fragen, worin jene denn im hohen Alter, also der Zeit der Immanenz, besteht?  Die Ambivalenz von Immanenz und Illusion ist als die letzte psychosoziale Krise im Leben des Menschen aufzufassen.  Sie zeigt sich immer und bei jedem, auch bei Demenz ist sie vorhanden.  Mag dort durch die brüchig werdende Kognition auch das Illusionäre überwiegen,  so hindert Demenz niemals vollkommen das Immanente, welches sich immer wieder die Bahn bricht und in daseinsthematischen Handlungen oder  in den Ausdrucksformen des Leibgedächtnisses sich zeigt. Wer es sich nicht vorzustellen vermag, wie Denken bei Demenz funktionieren kann, lese einmal Arno Geigers Der alte König in seinem Exil. 

Die Immanenz, die im hohen Alter auftritt, muss zunächst lebenslang erarbeitet werden. Zwischen Immanenz und Expressivität besteht ein Zusammenhang. Das Ausgedrückte ist Lebensmodus in exzentrischer Positionalität (Plessner), die Mitwelt dient dem Menschen als Modus von Mitteilung oder Gestaltung (Plessner). Nun ist es aber so, dass die Direktheit und Unmittelbarkeit, die sich im Alter als Immanenz zeigt, über die Indirektheit und Vermitteltheit dominiert, weil der Mensch eben vom unmittelbar verfassten Tier abstammt und nur zeitweise die Form der Exzentrizität erfüllt, die ihn ja erst über lebenslange Umwege zur Eigentlichkeit zurückbringt. Und so wird eben im Laufe des Lebens die Immanenz immer stärker, weil sich Identität und Integrität Wege in der Person verschafft haben, diese zu stabilisieren, zur Ruhe kommen zu lassen und den Fundus oder die Essenz des Lebens nun innerlich wirken zu lassen und sie in Tätigkeit zu vertiefen. 

Bei der Expressivität steht Sprache an erster Stelle. Mit ihr lässt sich auch der Grad an Immanenz messen in seinem Spannungsverhältnis zur Illusion. Mit Freud verstehen wir unter Illusion, in abwehrende (also nicht radikale, die Wahrheit betreffende) Vorstellungen zu verfallen, die die menschliche Hilflosigkeit, Verletzlichkeit und Schicksalshaftigkeit erträglich zu machen versuchen (z.B. Verleugnung, Verdrängung, Verneinung). Die positionale Exzentrizität schwelgt sozusagen in Vorstellungen, die nicht zum Selbst gehören, ein verzweifeltes Selbstseinwollen, das doch keines ist. So bleibt auch am Lebensende das stetige ambivalente Wechselspiel bestehen, weil sich Körper und Psyche nicht lange in der Immanenz halten können, denn da die praktische Vernunft dynamisch-architektonischer Art ist, wie uns Kant lehrt, wird den Menschen dieser Wechselzustand stets ereilen.

Die Entwicklungsnische der Seinsgeborgenheit (oder anders ausgedrückt der Immanenz) wird also immer wieder von illusionärem Denken gebrochen. Vielleicht werden aber diese Unterbrechungen der fraglosen Sicherheit immer geringer, wobei eigene Forschungsergebnisse Mut machen, davon zu sprechen. Die Frucht, die daraus erwächst nenne ich Glück. Das Glück stellt sich nahezu beiläufig ein, wenn wir in unserer Lebenspraxis Genüge finden. Dann soll mir alles zum Besten dienen.  

„Wenn ein Mensch glücklich ist, dann ist er für alles da.“ (H.-G. Gadamer, mit 102 Jahren) 

Der Weg dorthin:  Die Alterskrise

„Der eiserne Wille, der reicht auch nicht ewig. Der Kampf lässt nach, nun wieder laufen zu können. Irgendwann gibt man den Kampf auf. Und dann ist es schön, wenn man ohne Bitterkeit zustimmen kann um vielleicht nur noch ein Leben im Sessel zu führen. Wenn der Blick nach außen immer schwächer wird, öffnet sich doch der Blick nach innen.“  (E.Wendt, 88, dialogische Aussage)

Wie immer der „Kampf“ auch aussehen mag, Transitionen sind nur durch Krisen möglich. Das gilt für die Krise zwischen 28 und etwa 30, die ins Erwachsenenalter überführt und das gilt für die Krise zwischen 56 und 60, die das späte Erwachsenenalter einleitet und schließlich für die Alterskrise zwischen 84 und 90. Je älter der Mensch wird, desto länger ziehen sich die Krisen hin und immer ist der geistige Reifungsvorgang eng mit physiologischen Vorgängen verbunden . Die Überformungen durch Beschwerlichkeiten des Alters verdecken jedoch manchmal den Blick auf tieferliegende verinnerlichte Weisheit. Sie liegt wie ein Schatz auf dem Grunde des Wesens und muss entdeckt und geborgen werden. Es ist ein spannungsvoller Kampf zwischen den nach Vollendung strebenden Entitäten Seele und Geist und dem immer stärker widerstrebenden und sich lösenden Körper. Die frühere Einheit von Seele und Leib beginnt sich zu lockern, um einen Gestaltwandel durchzumachen.

Durchgängig lassen eigene Forschungsergebnisse darauf schließen, dass Gerotranszendenz, wie sie von Joan Erikson oder Lars Tornstam beschrieben wird, nicht als letzte Entwicklungsphase aufzufassen ist, sondern als Alterskrise, die in die Lebensphase Alter einleitet,  Zwischen 85 und 90 passiert was“ . Es erfolgt eine Lockerung der „Denkmuster, denen man nicht verhaftet sein will“. Bahnt sich da etwas Neues an und wo geht es hin? „Dafür offen zu sein, ist ein Thema, das mir erst jetzt zwischen 85 und 90 so richtig wichtig geworden ist“.  Es breitet sich die Erkenntnis aus, dass es auch viele andere richtige Dinge gibt. Die Objektivität wird besser. Man sieht die Dinge in einem anderen Licht, kann aber zugleich aktiv auf sein Denken Einfluss nehmen. So kann man beispielsweise vermeiden, negativ zu denken, weil es möglicherweise „eine Phase geben könnte, in der man plötzlich daran glaubt und es zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung kommen kann“. „Nur mit diesem Willen kommst du einigermaßen durchs Leben“.  Durch die Lockerung des Kognitionsgefüges werden viele neue Wege gesehen. „Welches ist der richtige, gibt es einen anderen, welchen will ich einschlagen, mit welchem fahre ich am besten?“ Zudem verschaffen sich die neuartigen visuell-verbalen Denkstile immer mehr Ausdruck, die das Leben ab etwa 91 Jahren begleiten und auf die später eingegangen wird. Doch sind die Jahre der Alterskrise eher ein Aufbruch, noch unvollendet ist der Lebenslauf, denn es „hat seinen Sinn, auch wenn ich den jetzt noch nicht verstehe. Irgendwann werde ich ihn begreifen“. 

„Und dann darf ich dir wohl ins Ohr sagen: ich erfahre das Glück, dass mir in meinem hohen Alter Gedanken aufgehen, welche zu verfolgen und in Ausübung zu bringen eine Wiederholung des Lebens gar wohl wert wäre.“ (Goethe an Zelter)


Dr. phil. Sonja Ehret ist Alterswissenschaftlerin am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg. Promotion zu Fragen des Daseins bei Demenz. Aktuelle Forschungsschwerpunkte finden sich rund um das hohe Alter: Weisheit, Kreativität und Denken, der Dialog und die Intergenerationalität, die seelisch-geistige Entwicklung. Zunehmende Beschäftigung mit ontologischen Fragen des Alters wie Harmonie, Ordnung, Rhythmus und Prinzip.     


[1] Ehret, S.  (in review): Das echte Alter. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie.  

[1] Parmenides (1986): Vom Wesen des Seienden. Suhrkamp, Frankfurt/M.

[1] Halfwassen, J.  (2004):  Plotin und der Neuplatonismus. Beck, München.

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